Selbst entscheiden können

Wie Arbeit und Demokratie zusammenhängen - zu Axel Honneths Buch Der arbeitende Souverän
Von Winfried Kretschmer

Es ist ein Trugschluss, dass Wirtschaft nichts mit Demokratie zu tun habe. Die Wirtschaft braucht jene Offenheit und Diversität, die Demokratie schafft. Aber der Zusammenhang geht tiefer: Faire Arbeitsteilung und politische Demokratie ergänzen sich und bedingen einander. Nicht nur demokratische Partizipation hängt ab von guten Arbeitsbedingungen, sondern umgekehrt hängen gute Arbeitsbedingungen auch ab von demokratischer Partizipation. Denn die Arbeit bietet - wie sonst nur die Schule - allen Mitgliedern der Gesellschaft die Möglichkeit, demokratische Praxis zu lernen und einzuüben, sagt der Sozialphilosoph Axel Honneth. Und Demokratie einüben bedeutet: selbst entscheiden können.

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"Es gehört zu den größten Mängeln fast aller Theorien der Demokratie, mit großer Hartnäckigkeit immer wieder zu vergessen, dass die meisten Mitglieder des von ihnen lauthals beschworenen Souveräns stets auch arbeitende Subjekte sind." Der Zusammenhang zwischen Demokratie und sozialer Arbeitsteilung sei "der blinde Fleck der Demokratietheorie". So lautet die zentrale These von Axel Honneths fulminantem Werk Der arbeitende Souverän. Ja, der Souverän arbeitet, und das hat Auswirkungen auf unser Verständnis von Demokratie. 

Der Sozialphilosoph Honneth, seit 2011 Jack C. Weinstein Professor for the Humanities an der Columbia University in New York, nähert sich seinem Thema sehr grundsätzlich. Ihm geht es darum, Arbeit und Arbeitsteilung neu zu denken und ihren fundamentalen Bezug zu Demokratie - genauer: zur Beteiligung am Prozess demokratischer Willensbildung - herauszuarbeiten. Und er beschäftigt sich dabei intensiv mit der Realität und dem Wandel gesellschaftlicher Arbeit. Ja, der Souverän arbeitet, und das hat Auswirkungen auf unser Verständnis von Demokratie. 

Doch Honneth stellt nicht nur Thesen in den Raum. Ihm geht es darum, eine normative Theorie der Arbeit zu entwickeln. Und das bedeutet für ihn, aus der sozialen Wirklichkeit westlicher liberal-demokratischer Gesellschaften Prinzipien für die Ausgestaltung von Demokratie und Arbeit zu gewinnen, die unmittelbar handlungsleitend wirken können. Dies geschieht durch eine Rekonstruktion von Begriffen, Paradigmen und Diskursen. Dies betrifft nicht nur die Demokratietheorie, sondern auch die Begriffe Arbeit und Arbeitsteilung, denen zwei ausführliche Exkurse gewidmet sind. Dabei werden Entwicklungslinien deutlich, aber auch Verengungen und verkürzende Wahrnehmungen, die auf lange Zeit das Verständnis prägen können. So etwa, wenn der Begriff der Arbeit bereits im Vorfeld der Industrialisierung auf produzierende, wertschöpfende Tätigkeiten verengt wurde - obwohl schon damals Dienstleistungen bereits eine wichtige Rolle in den Volkswirtschaften spielten.


Faire Arbeitsteilung und politische Demokratie ergänzen und bedingen sich


Auf rund 400 Seiten entsteht so eine fundierte Begründung der zentralen These "einer wechselseitigen Abhängigkeit von demokratischer Partizipation und hinreichend guten Arbeitsbedingungen". Das heißt ausbuchstabiert: Nicht nur demokratische Partizipation hängt ab von guten Arbeitsbedingungen, sondern auch umgekehrt hängen gute Arbeitsbedingungen ab von demokratischer Partizipation. Denn, so Honneths These: Faire Arbeitsteilung und politische Demokratie ergänzen sich. Und sie bedingen einander. Doch ist nicht diese These das eigentlich Überraschende an diesem Buch. Sondern umgekehrt, dass dieser Zusammenhang, wie der Autor zeigt, von der Demokratietheorie im Laufe des 20. Jahrhunderts mehr und mehr ausgeblendet wurde. Diesen "erstaunlichen blinden Fleck im Wahrnehmungsfeld der jüngeren Demokratietheorie" nimmt sich Honneth in seinem Buch vor. 

Will man Honneths Werk in einer Rezension gerecht werden, muss man sich auf seine differenzierte, systematisch aufgebaute Argumentation einlassen. Verkürzungen führen nur zu neuen Verkürzungen und zu Fehlwahrnehmungen. So wird der Zusammenhang von Demokratie und Arbeit nicht etwa einfach vorausgesetzt (wie man "normativ" vielleicht missverstehen könnte), sondern aus einer Abwägung zwischen drei unterschiedlichen Zugängen zur Arbeit abgeleitet. Der Autor unterscheidet in historischer Perspektive drei Paradigmen einer Kritik an den bestehenden Arbeitsverhältnissen und fragt dann, welches davon sich heute am ehesten als Ausgangspunkt für einen theoretischen Zugriff eignet. Die drei Ansätze sind Entfremdung, Autonomie und Demokratie. Kurz zusammengefasst: Kritisiert werde an den existierenden Arbeitsverhältnissen entweder, dass sie die arbeitenden Menschen zu sinnlosen, objektiv unbefriedigenden Tätigkeiten zwingen (Paradigma Entfremdung), dass sie sie der willkürlichen Herrschaft von privaten Akteuren aussetzen (Paradigma Autonomie) oder ihnen nicht die zur gleichberechtigten Mitwirkung an der demokratischen Willensbildung erforderlichen Fähigkeiten und Voraussetzungen vermitteln (Paradigma Demokratie).


Prinzip der demokratischen Partizipation innerhalb der Arbeitssphäre


Honneth entscheidet sich für das dritte, das demokratische Prinzip. Der Grund: die größere Offenheit dieses Zugangs. Denn während Entfremdung und Autonomie jeweils das eigene Prinzip absolut setzen und nur ein Alles-oder-Nichts kennen, erweist sich Demokratie als der offenere Ansatz. So könne "das Prinzip der demokratischen Partizipation innerhalb der Arbeitssphäre allein in Graden und daher stets nur annäherungsweise verwirklicht werden". Es lässt offen, welche Normen und Lösungen konkret zur Anwendung kommen sollen. Aufgrund dieser Eigenschaften gibt der Autor dem demokratischen Ansatz den Vorzug: wegen "der umfassenderen Sicht auf Missstände in der Arbeitswelt und des Verzichts auf Vorstellungen eines feststehenden Endzwecks". 

Doch warum eigentlich sollten die Arbeit - und damit letztlich die Unternehmen, die diese organisieren und bereitstellen - eine Rolle in der demokratischen Willensbildung übernehmen? Aus der Sicht der Gesellschaftswissenschaften liegt die Antwort auf der Hand: Ganz einfach deshalb, weil die Arbeit und wie sie organisiert ist, in die Gesellschaft hineinwirken. Denn die Ökonomie bildet keinen unabhängigen, von der Gesellschaft getrennten Funktionsbereich, wie es die ökonomische Lehre behauptet. So wie die Arbeitskräfte ihre schulische und universitäre Ausbildung im gesellschaftlichen Bildungssektor erhalten, so wirkt das, was sie bei ihrer Arbeit lernen, erfahren und erleben, selbstverständlich in die Gesellschaft zurück und beeinflusst auch die Fähigkeit und Bereitschaft, sich an der politischen Willensbildung zu beteiligen. Wie Honneth ausführt, gibt es in der Gesellschaft nur zwei soziale Orte, an denen demokratische Praxis gelernt und eingeübt werden kann: die Schule und die Arbeit. Neben den öffentlichen Schulen gebe es keinen anderen sozialen Ort als die Arbeit, wo nahezu alle Gesellschaftsmitglieder Kontakte jenseits ihrer Herkunftsmilieus unterhalten und darauf angewiesen sind, gemeinsam nach Lösungen zu suchen. 

Wie kann nun eine faire Ausgestaltung der Arbeitsteilung, die eine Beteiligung am demokratischen Willensbildungsprozess nicht behindert, sondern vielleicht sogar fördert, aussehen? Honneth formuliert hierzu fünf Voraussetzungen, die gegeben sein müssen: (1) wirtschaftliche Unabhängigkeit und (2) arbeitsfreie Zeit, die zusammen eine Beteiligung an demokratischen Prozessen erst ermöglichen, (3) Selbstachtung und Selbstwertgefühl, die im Arbeitsprozess vermittelt werden sollten; (4) eine Einübung der Praktiken des demokratischen Zusammenwirkens; und nicht zuletzt beeinflusst (5) "auch der Umfang und die intellektuelle Dichte der zu leistenden Arbeit die Befähigung zur demokratischen Teilhabe". 

Während die ersten beiden Punkte die grundlegenden ökonomischen und zeitlichen Bedingungen benennen, zielen die folgenden drei psychischen, sozialen und mentalen Voraussetzungen unmittelbar auf die konkrete Ausgestaltung der Arbeit: ihre soziale Anerkennung, die Mitwirkungsmöglichkeiten der Arbeitenden im Arbeitsprozess und die Tiefe der Arbeitsteilung. Dies etwas ausführlicher.


Einüben demokratischer Praxis


So verlange die Mitwirkung an der politischen Willensbildung ein epistemisches Selbstvertrauen, das aus der Selbstachtung und dem Selbstwertgefühl in der Arbeit resultiert: "Man betritt erst gar nicht die politische Bühne, wenn man nicht zuvor schon ein hinlängliches Vertrauen in den öffentlichen Wert der eigenen Stellungnahmen gewonnen hat", so der Autor. Zudem bedarf es der Einübung demokratischer Praxis. Ob die eigene Stimme am Arbeitsplatz zählt, ob eine Mitgestaltung der Arbeitsabläufe möglich ist und ob der Einzelne in eine kooperierende Gruppe eingebunden ist, hat demnach einen unmittelbaren Einfluss darauf, ob in der Arbeit Verfahren der gemeinsamen Willensbildung eingeübt werden können. 

Der bedeutendste Faktor liegt für Honneth jedoch in der Tätigkeit selbst: in dem Ausmaß beziehungsweise der Tiefe der Arbeitsteilung. Nur wenn für den Arbeitenden ersichtlich ist, welchen Beitrag die eigene Tätigkeit zum Endergebnis kooperativer Arbeit leistet, wird sie oder er aus der eigenen Arbeit Befriedigung und soziale Anerkennung beziehen können. Und wird in der Kooperation ein Miteinander erleben, das wiederum Grundlage gemeinsamen Handelns ist: "Nur die Einbeziehung in die soziale Arbeitsteilung lässt ein Gefühl dafür entstehen, auf die anderen Gesellschaftsmitglieder angewiesen zu sein, weil man deren arbeitsteilig miteinander verzahnten Leistungen die Sicherung der eigenen Existenzgrundlagen verdankt." 

Damit ist alles beisammen. Die genannten Bedingungen begründen, warum demokratische Gesellschaften darauf angewiesen sind, für faire, partizipative und damit demokratieförderliche Arbeitsverhältnisse zu sorgen. Dies führt Honneth zu dem Grundgedanken seines Werkes, der den Zusammenhang von Arbeit und Teilhabe an demokratischer Willensbildung begründet: "Nur wer einer hinreichend komplexen, hinreichend entscheidungsbefugten, hinreichend sozial anerkannten und hinreichend übersichtlich vernetzten Arbeit nachgeht, … wird über diejenigen Fähigkeiten und Ressourcen verfügen, die erforderlich sind, um autonom, also mit eigener Stimme und frei von Ängsten vor Herabwürdigung und Geringschätzung, an der demokratischen Willensbildung mitwirken zu können." 


Die Realität: Konkurrenz, Gehorsam, Unterwürfigkeit


Dem stehe jedoch die traditionelle Ausgestaltung der Arbeitswelt entgegen, wo nicht selten "konkurrenzhafte Einstellungen, Gehorsamsbereitschaft und Unterwürfigkeit verlangt, ja prämiert werden" - also das genaue Gegenteil dessen, was für eine gelingende kooperative Zusammenarbeit erforderlich ist. Wer in der Arbeit nichts zu sagen hat, wer nicht gehört und nicht gefragt wird, wer keine Möglichkeiten zur Mitwirkung und Kooperation hat und nur ausführt, was Vorgesetzte anschaffen, der- oder diejenige wird mit Verfahren gemeinsamer Willensbildung kaum vertraut sein. 

Auch der tiefgreifende Wandel der Arbeitswelt in Richtung einer zunehmenden Flexibilisierung und Individualisierung der Arbeitsverhältnisse begünstigt nicht gerade eine Entwicklung in Richtung mehr demokratischer Partizipation. Im Gegenteil. Honneth sieht diese Entwicklungen mit großer Sorge: Die voranschreitende Arbeitsteilung führt dazu, dass Arbeitskräfte immer isolierter an immer spezifischeren Tätigkeiten arbeiten. Dies wird verstärkt durch eine zunehmende Spezialisierung, die sich in einer stärkeren Ausdifferenzierung von Organisationen niederschlägt. Zunehmend wird in Projekten gearbeitet, nicht mehr in Abteilungen. Viele Arbeitende arbeiten allein oder in temporären Projekten. Immer mehr Tätigkeiten sind befristet, auf wenige Wochenstunden begrenzt oder gleiten ab in prekäre Beschäftigung. Hinzu kommen die abnehmende Bedeutung des Normalarbeitsverhältnisses und der wachsende Druck auf die Unternehmen, mit dem hohen Tempo von Innovation und Wissenszuwachs Schritt zu halten. 

All dies ist der Verbreitung der Idee, dass der Arbeitsplatz als Ort der Demokratie erlebt wird, eher abträglich. Deshalb bündelt Honneth seine Vorschläge für eine demokratiefreundliche und demokratieförderliche Gestaltung der Arbeitsbeziehungen zu einem großen Projekt der Neugestaltung von Arbeit schlechthin — von einer Erweiterung des Arbeitsbegriffs bis hin zu einer Neugestaltung der Arbeitsteilung.


Demokratische Partizipation vor Ort, am Arbeitsplatz


Wie kann - oder: könnte - Arbeit nun ihr demokratieförderndes Potenzial entfalten? Der Autor schlägt zwei komplementäre Strategien vor: Die erste zielt darauf, neben der marktvermittelten Lohnarbeit alternative Formen der Organisation von gesellschaftlicher Arbeit zu etablieren, etwa in Form von Genossenschaften, selbstverwalteten Betrieben und Unternehmen oder auch in Gestalt einer staatlichen Dienstverpflichtung beziehungsweise eines öffentlich finanzierten sozialen Dienstes. Die zweite Strategie setzt hingegen bei den Arbeitsverhältnissen selbst an und versucht diese so weit wie möglich zu demokratisieren. In diesem zweiten Modell läuft alles auf einen Fluchtpunkt zu: die konkrete Arbeit und ihre Gestaltung vor Ort, am Arbeitsplatz. Der Arbeitsplatz ist der Ort, an dem sich die Demokratisierung der Arbeit entscheidet. 

Allerdings will der Autor mit "dem Selbstverständlichen" beginnen. Er betont, gewissermaßen als kategorische Vorbedingung, "dass ohne eine Neu- oder Wiedereingliederung der Lohnarbeit in ein ‚Normalarbeitsverhältnis‘ mit entsprechenden rechtlichen Sicherungen jeder weitere Schritt hin zu einer demokratischen Reform des Arbeitsmarktes unmöglich wäre". Honneth verknüpft also eine Demokratisierung der Arbeit mit einer Wiederherstellung industriegesellschaftlicher Arbeitsverhältnisse. Für seine ansonsten betont differenzierte Argumentation klingt das ungewöhnlich apodiktisch. Und ist in der Sache eher rückwärtsgewandt. So wie in der ersten Strategie die Vorstellung einer Alternativ- oder Gegenökonomie mitschwingt, erweist sich auch der zweite Gegenentwurf als in der Vorstellungswelt der 1970er- und 1980er-Jahre verhaftet. Denn er bezieht sich auf das inzwischen historische Modell der Industriegesellschaft, geprägt von Massenproduktion und dem "Traum immerwährender Prosperität" (Burkart Lutz). 

So treffend Honneth die aktuellen Entwicklungen und Umbrüche in der Arbeitswelt beschreibt, so erstaunlich ist es, dass er den Wandel der Arbeitsformen hin zu mehr Dezentralität, mehr Selbstorganisation und Entscheidungsautonomie, der sich in vielen Bereichen der Wirtschaft vollzieht, nicht ins Auge fasst. Gleiches gilt übrigens auch für den traditionell orientierten Mainstream der Arbeits- und Industriesoziologie. Denn auch sie, so der Eindruck, bekommt mit den überkommenen Konzepten, Instrumenten und Themensetzungen den Wandel auch nur ausschnittsweise in den Blick. Hier zeigt sich eine normative Lenkungswirkung wissenschaftlicher Vorentscheidungen, die in der Wahl bestimmter Forschungsansätze und Begrifflichkeiten zum Ausdruck kommt. Eine solche paradigmatische Wirkung lässt sich besonders gut an der historischen und bis in die heutige Zeit fortwirkenden Verengung des Arbeitsbegriffs deutlich machen. Wie anfangs erwähnt, setzte sich am Vorabend der industriellen Revolution eine Verengung auf produzierende, wertschöpfende Tätigkeiten durch, obwohl Dienstleistungen nicht nur in der Hauswirtschaft, sondern auch volkswirtschaftlich eine bedeutende Rolle spielten. Mit Folgewirkungen bis heute - und es ist wiederum Honneth, der Erhellendes dazu beizutragen hat. Das würde hier zu weit führen, es lohnt aber, seine Rekonstruktion im Exkurs über den Begriff der gesellschaftlichen Arbeit nachzulesen.


Mitsprache, Mitgestaltung, Selbstorganisation


Eine ähnliche Blickverengung scheint sich auch im Wahrnehmungsfeld der Arbeits- und Industriesoziologie abzuzeichnen: Von Ausnahmen abgesehen bleibt dort der Bereich von Veränderungen innerhalb von Unternehmen weitgehend unberücksichtigt. Es dominiert, wie auch bei Honneth, eine Perspektive, die sich auf die Kritik an den Arbeitsverhältnissen bezieht, aber Veränderungen innerhalb der Organisation kaum erfasst. Veränderungen in Unternehmen, die einer kapitalistischen Entwicklungslogik folgen, scheinen aus dem Betrachtungsraster zu fallen. Es wäre lohnenswert, die einschlägige Fachliteratur aus der Arbeits- und Industriesoziologie durchzusehen, um diese Vermutung zu überprüfen: dass nämlich Veränderungen in Organisationen, die vordergründig der Effizienzsteigerung dienen und in irgendeiner Weise mit Managementkonzepten zu tun haben, vom Lichtkegel des wissenschaftlichen Interesses kaum erfasst werden und weitgehend im Dunkeln bleiben. 

Dies betrifft insbesondere all das, was im weiteren Sinne mit Lean, Agilität und New Work assoziiert wird. Betroffen sind damit Konzepte und Innovationen, die die Zusammenarbeit zwischen Menschen in Organisationen grundlegend verändern. Der Referenzpunkt für die Demokratisierung der Arbeit liegt in der Vergangenheit. Es ist die teilautonome Arbeitsgruppe aus den 1970er- und 1980er-Jahren, die in der Industriesoziologie breite Beachtung gefunden hat. Auf die Gruppen- und Teamarbeit richteten sich damals die Demokratisierungshoffnungen - und so ist es bis heute. Hier wäre ein Update dringend erforderlich. Ansätze dazu gibt es. 

Eine interessante Erweiterung der Perspektive bieten die Wiener Sozialforscher Georg Zepke und Thomas Schweinschwaller. In einem Buchbeitrag beschäftigen sie sich mit dem Aufkommen neuer Arbeits- und Organisationskonzepte und fassen die sehr unterschiedlichen Ansätze einer Innovation der Zusammenarbeit unter dem Begriff der Selbstorganisation zusammen. Dazu zählen sie so unterschiedliche Ansätze und Praktiken wie New Work, agile Konzepte wie Scrum und Kanban sowie integrale evolutionäre Organisationen und die Konzepte Soziokratie und Holakratie. Immer geht es dabei darum, Hierarchien abzubauen, Organisationen flacher zu gestalten, Entscheidungen dezentral zu treffen, dort also, wo sie anfallen. Und von denen, die damit befasst sind, also von den Mitarbeitenden selbst - in dem von der Unternehmensleitung vorgegebenen Rahmen, aber auf Basis ihres Wissens, ihres Könnens und ihrer gesammelten Erfahrungen. Als Meister ihrer Arbeit, wenn man so will. 

Als grundlegend hat sich dabei die Unterscheidung zwischen dem Was und dem Wie herauskristallisiert: Das Was gibt das Unternehmen vor - von der Vision bis zu konkreten Regeln, die es einzuhalten gilt. Über das Wie, also die Schritte, die zur Erledigung der Arbeit erforderlich sind, entscheiden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter selbst. Und da sie arbeitsteilig zusammenarbeiten, tun sie dies im Team. Das Team entscheidet über die Art der erforderlichen Arbeitsschritte, über deren Abfolge, über die erforderlichen Ressourcen und Kapazitäten, über notwendige Kooperationen und die erforderliche Weiterbildung. Und ansatzweise vielleicht auch über die Arbeitsteilung selbst, etwa indem Routine- und Servicetätigkeiten anteilig von allen Teammitgliedern übernommen werden. Führung wandelt sich dabei zu Servant Leadership: Die Führungskraft sorgt dafür, dass dem Team alles zur Verfügung steht, was es zur Erfüllung seiner Aufgaben benötigt, und unterstützt, wo immer es geboten ist. 

Solche Konzepte bleiben jedoch außen vor, wenn man der Idee einer groß angelegten Neugestaltung von Arbeit und Arbeitsteilung folgt. Ohne diese große Transformation, um die apodiktische Formulierung zu wiederholen, wäre jede demokratische Umgestaltung des Arbeitssektors unmöglich. Aber hatte Honneth nicht rund 280 Seiten zuvor gerade die Offenheit des demokratischen Paradigmas betont? Und hervorgehoben, dass dieses eben nicht einer Alles-oder-Nichts-Logik folgt, sondern offen ist für unterschiedliche Lösungsansätze? Wäre es so gesehen nicht geradezu zwingend, die Perspektive umzukehren und statt mit der großen Utopie mit kleinen und ergebnisoffenen Lösungsansätzen zu beginnen? Mit Experimenten?


Faire Arbeitsteilung und selbst entscheiden können


Es ist nun höchst spannend, unter dieser gewendeten Perspektive zu lesen, was Axel Honneth über die Demokratisierung der Arbeitsbeziehungen schreibt. Der Bezugspunkt ist dabei wie gesagt die Gruppen- und Teamarbeit der 1970er-Jahre. Und so lassen sich seine Ausführungen (wenn auch nicht in dem vom Autor intendierten Sinne) als Brückenschlag von der damaligen zur heutigen Diskussion lesen. Und in diesem Sinne liest sich das, was der Autor über die Demokratisierung der Arbeitsbeziehungen schreibt, erstaunlich aktuell. 

Wie also ließe sich die Arbeit demokratisieren? Zwei Dinge sind dabei zentral: Ausmaß und Zuschnitt der Arbeitsteilung sowie die Möglichkeit der Mitarbeitenden, über Fragen, die ihre Arbeit betreffen, so weit wie möglich selbst entscheiden zu können. 

Arbeitsteilung ist so bedeutend, weil "nur derjenige seine eigene Arbeitstätigkeit als wertvoll und anerkennungswürdig empfinden kann, der vom eigenen Arbeitsplatz aus zu überblicken vermag, welchen Beitrag die eigenen Leistungen zur arbeitsteiligen Reproduktion der Gesellschaft im Ganzen liefert", schreibt der Autor. Und das wiederum sei nur möglich, "wenn die zu erledigende Aufgabe umfangreich genug ist, um überhaupt als ein gesonderter, in sich halbwegs vollständiger Beitrag zur gemeinsamen Kooperation begriffen werden zu können". 370 Wer diese Kooperation nicht sehen und erleben kann, wird auch nicht bereit sein, sich demokratisch zu beteiligen. 

Selbst entscheiden können. "Wer bei der Arbeit und am Arbeitsplatz nur als jemand behandelt wird, der Anordnungen des Managements oder Arbeitgebers stumm und widerspruchslos auszuführen hat, wird bei Betreten der öffentlichen Bühne demokratischer Aushandlungen nicht schlagartig das eigene Selbstverständnis dahingehend ändern können, ab sofort nun ein mündiger Bürger, eine mündige Bürgerin zu sein." Diesen Zwiespalt zu überwinden, müsse daher ein zentrales Anliegen einer demokratischen Politik der Arbeit sein. Die "prozedurale Grundregel" dafür wäre, dass "die Beschäftigten das Recht besäßen, über möglichst viele der sie am Arbeitsplatz betreffenden Angelegenheiten selbst zu entscheiden". Es gelte Bedingungen zu schaffen, "unter denen die Arbeitenden bereits an ihrem Arbeitsplatz lernen, was es heißt, Mitbestimmung auszuüben und über eine entscheidungsrelevante Stimme zu verfügen". Dort also, "wo es um die Regelung der tagtäglichen Arbeitsabläufe geht, müsste der Prozess einsetzen, der den Beschäftigten die Möglichkeit gibt, sich als selbstwirksam und kooperationsfähig zu begreifen". So gesehen ein mitreißendes Plädoyer für eine Demokratisierung der Arbeitsbeziehungen ganz konkret vor Ort: am Arbeitsplatz. Den Bezugsrahmen dafür setzt der Begriff der Selbstorganisation. 


Die unvollendete Demokratie


Axel Honneth ist ein sehr grundlegendes, sehr durchdachtes und richtungsweisendes Werk gelungen, das die Demokratie in ihrem Wechselverhältnis zur Gestaltung der Arbeitswelt in den Blickpunkt rückt. Und damit zugleich auf eine Schieflage in der Debatte um Rechtsradikalismus, Populismus und die Gefährdung der Demokratie aufmerksam macht: Demokratie ist nicht nur gefährdet, sie ist auch unvollständig. Solange sie nicht auch in den Betrieben, Ämtern und Behörden Einzug hält. Als Mitsprache, Mitwirkung, vielleicht sogar Selbstorganisation am Arbeitsplatz. 


Zitate


"Es gehört zu den größten Mängeln fast aller Theorien der Demokratie, mit großer Hartnäckigkeit immer wieder zu vergessen, dass die meisten Mitglieder des von ihnen lauthals beschworenen Souveräns stets auch arbeitende Subjekte sind." Axel Honneth: Der arbeitende Souverän

"Man betritt erst gar nicht die politische Bühne, wenn man nicht zuvor schon ein hinlängliches Vertrauen in den öffentlichen Wert der eigenen Stellungnahmen gewonnen hat." Axel Honneth: Der arbeitende Souverän

"Nur die Einbeziehung in die soziale Arbeitsteilung lässt ein Gefühl dafür entstehen, auf die anderen Gesellschaftsmitglieder angewiesen zu sein, weil man deren arbeitsteilig miteinander verzahnten Leistungen die Sicherung der eigenen Existenzgrundlagen verdankt." Axel Honneth: Der arbeitende Souverän

"Je weniger die eigene Stimme am Arbeitsplatz zählt, je eingeschränkter die Mitwirkung an der Gestaltung der Arbeitsabläufe ist und je schwächer die Bindungen an eine kooperierende Gruppe sind, desto geringer dürfte auch die Vertrautheit mit Verfahren der gemeinsamen Willensbildung sein." Axel Honneth: Der arbeitende Souverän

"Nur wer einer hinreichend komplexen, hinreichend entscheidungsbefugten, hinreichend sozial anerkannten und hinreichend übersichtlich vernetzten Arbeit nachgeht, wird über diejenigen Fähigkeiten und Ressourcen verfügen, die erforderlich sind, um autonom, also mit eigener Stimme und frei von Ängsten vor Herabwürdigung und Geringschätzung, an der demokratischen Willensbildung mitwirken zu können." Axel Honneth: Der arbeitende Souverän

"Wer bei der Arbeit und am Arbeitsplatz nur als jemand behandelt wird, der Anordnungen des Managements oder Arbeitgebers stumm und widerspruchslos auszuführen hat, wird bei Betreten der öffentlichen Bühne demokratischer Aushandlungen nicht schlagartig das eigene Selbstverständnis dahingehend ändern können, ab sofort nun ein mündiger Bürger, eine mündige Bürgerin zu sein." Axel Honneth: Der arbeitende Souverän

"Nur wer eine hinreichend komplexe und anregungsreiche Arbeitstätigkeit ausübt, wird auch über die Selbstachtung, die intellektuelle Initiativkraft und die sozialen Kompetenzen verfügen können, die erforderlich sind, um sich als vollwertiges Mitglied einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft von freien und gleichen Bürger:innen verstehen zu können." Axel Honneth: Der arbeitende Souverän

 

changeX 23.02.2024. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Zum Buch

: Der arbeitende Souverän. Eine normative Theorie der Arbeit. Suhrkamp Wissenschaft, Berlin 2023, 400 Seiten, 30 Euro (D), ISBN 978-3-518-58797-3

Der arbeitende Souverän

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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