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Mensch und Büro - eine Liebesbeziehung

Living at Work-Serie | Folge 7 | - Arlie Russell Hochschild über die Abkehr vom Privaten.

Bei einer soziologischen Studie unter amerikanischen Angestellten tauchte ein erstaunliches Phänomen auf: Immer mehr Berufstätigen erscheint die Arbeit als das Selbstgewählte, das Private als Last. Während der Job immer mehr flexibilisiert wird, gibt es daheim kaum unverplante Zeit, weil das Essen für die Kinder gekocht, Hausaufgaben kontrolliert und Freizeitaktivitäten organisiert werden müssen.

Die Arbeit wird immer mehr zum Zuhause, die Familie und das Privatleben dagegen zum Ort von Stress und Arbeit - mich hat dieses Ergebnis meiner Forschungsarbeit selbst überrascht. Ich wollte eigentlich etwas ganz anderes untersuchen, nämlich ein vorbildliches Unternehmen zum Thema Work-Life-Balance. Die Prospekte des Weltkonzerns, in dem ich recherchiert habe, preisen viele Möglichkeiten von flexiblen Arbeitszeiten: Sabbaticals, Job-Sharing und Teilzeit. Ohne Karriereknick sollten sich Familie und Beruf vereinbaren lassen, so das Versprechen. Als ich dann versuchte, Interviewpartner in dem Unternehmen zu finden, die die Arbeitszeitmodelle nutzten, stellte ich fest, dass es sie fast gar nicht gab. Es war wie ein potemkinsches Dorf: vier Prozent Teilzeit und zwei Prozent Job-Sharing. Das Merkwürdige bei all dem war, dass mir sehr viele Leute sagten, dass sie gerne mehr Zeit zu Hause hätten. Das Geld kann dabei nicht die entscheidende Rolle spielen, denn gerade in den besser verdienenden Etagen ist das Interesse an Teilzeit sehr gering.
Ich klärte zunächst ab, ob die Leute das Angebot vielleicht gar nicht kennen. Das stimmte nicht - im Gegenteil. Sie waren sogar alle sehr stolz darauf, dass sie bei einem Unternehmen arbeiten, das solche Möglichkeiten bietet. Dann habe ich nachgeforscht, ob vielleicht die Vorgesetzten Druck ausüben. Aber auch das konnte ich nach einer Weile ausschließen: Die Zahl der Teilzeitnutzer in Abteilungen, in denen der Chef das Modell sehr stark propagierte, waren genauso niedrig wie in Abteilungen, die von einem Skeptiker bezüglich Teilzeit geleitet wurden.
Irgendwann habe ich dann gemerkt, dass mein bisheriges Bild von Arbeit und Familienleben offenbar unzutreffend ist. Ich habe die Leute gefragt, wo sie sich denn wohler fühlten. Und nicht selten kam heraus, dass es der Arbeitsplatz war. Ein Ingenieur zum Beispiel sagte mir, dass er sich im Job sicher, zufrieden und anerkannt fühlte. Er selbst und die anderen wüssten, was er könne. Zu Hause dagegen warteten ganz andere Aufgaben. Vieles ist unberechenbarer, die Kinder haben Lernschwierigkeiten oder sonstige Probleme und er sei nun mal kein Psychologe.

Im Büro Freiheit, daheim die Stechuhr.


Für meine Studie interviewte ich 130 Leute aus verschiedenen Hierarchiestufen - und stellte dabei fest, dass sich bei etwa jedem Fünften eine völlige emotionale Verkehrung von Beruflichem und Privatem feststellen ließ: Die Arbeit erscheint als das Selbstgewählte, das Private als Last. Solche Leute habe ich sowohl unten als auch oben in der Hierarchie gefunden. Und abgesehen von solchen Extremfällen gab es bei der Mehrheit der Befragten einen mehr oder weniger starken Trend in diese Richtung.
Eine mögliche Ursache für diese starke emotionale Bindung an den Job ist sicher, dass die Mitarbeiter in den einzelnen Abteilungen einander wahrnehmen. Sie wissen Bescheid, wie es dem anderen geht. Was er tut, an welchem Punkt er steht. Außerdem werden die Arbeitszeiten sehr flexibel gehalten. Das Motto lautet: Mach deine Arbeit, wann du es am besten kannst - und das ist ernst gemeint. Oft ist die Reaktion, dass die Angestellten zehn Stunden am Tag und mehr arbeiten. Dabei fühlen sie sich nicht kontrolliert und getrieben von ihrem Vorgesetzten, sondern sagen übereinstimmend, dass sie die Arbeit vor allem für sich selbst tun. Es geht ihnen darum, dass sie am Ende mit dem Produkt ihrer eigenen Arbeit zufrieden sind und sie das Gefühl haben, sie haben es nach ihren Vorstellungen gestalten können. Dabei sind sie sehr streng beim Einhalten von Qualitätskriterien und Deadlines. Was das für ihre persönliche Arbeitszeit bedeutet, nehmen sie dabei kaum wahr.
Zu Hause hören dagegen viele eine Stechuhr ticken: Das Essen für die Kinder muss gekocht, Hausaufgaben müssen kontrolliert und Freizeitaktivitäten organisiert werden. Es gibt kaum unverplante Zeit. Alles muss wie am Schnürchen laufen. Außerdem lockern sich die Beziehungen, oft gibt es Konflikte. Das Ganze wirkt wie eine Abwärtsspirale zu Ungunsten des Privaten.
Ilene Philipson, eine Psychotherapeutin, berichtet in ihrem Buch Married to the Job von ähnlichen Ergebnissen. Ihr ist aufgefallen, wie hochemotional viele Klienten über ihren Arbeitsplatz und ihre Jobbeziehungen sprechen. Das geht manchmal so weit, dass sie zum Beispiel über ihr Verhältnis zum Vorgesetzten wie über eine unglückliche Liebesbeziehung sprechen: "Mein Boss beachtet mich nicht. Und dabei tue ich doch alles, damit er zufrieden ist und mich auch mal lobt. Das alles laugt mich aus und macht mich völlig depressiv." Über ihre Kinder sprechen diese Leute oft sehr oberflächlich, also auch hier wieder eine gefühlsmäßige Verdrehung. Wenn solche Menschen ihren Job verlieren, ist das emotional für sie wie für andere Menschen eine Scheidung.
Wer in einem Lager oder am Fließband arbeitet, findet weniger heimelige Arbeitssituationen vor. Natürlich ist eine Fabriketage kein so netter Ort wie ein Büro mit Sofa. Aber das Team spielt auch dennoch eine große Rolle. Viele kommen zu früh, um mit ihren Kollegen noch einen Kaffee trinken zu können, bevor die eigentliche Arbeit losgeht. Gerade bei den Leuten, die in der Produktion arbeiten, sind die familiären Beziehungen oft prekär.

Ist ein Kulturwandel möglich?


Entstehen konnte das Gefühl, dass Arbeit das ganze Leben ist, durch das Zusammenlaufen mehrerer Trends. Die Firmen werden immer mächtiger, Gewerkschaften zumindest in Amerika immer schwächer. Die Globalisierung heizt den Wettbewerb an. Die Familienbande schwinden und die Geburtenrate geht zurück. Das Private wird insgesamt marginalisiert. Das betrifft auch das Engagement außerhalb - sei es für eine Bürgerinitiative oder einen Klub. Heute engagiert sich in den USA ein Drittel weniger in zivilgesellschaftlichen Zusammenhängen als noch vor ein paar Jahren.
Doch auf die zentrale Frage, warum die Menschen diesen Prozess so aktiv mittragen - also offenbar wollen, habe ich keine umfassende Antwort. Ein wichtiger Faktor ist, dass der Kapitalismus heute nicht in erster Linie ein Wirtschafts-, sondern ein Kultursystem ist. Bei der Organisation der Arbeit wurden viele Elemente übernommen von dem, was die Leute früher in ihrer Freizeit erleben wollten. Oft gibt es in der Umgebung amerikanischer Firmen inzwischen auch eine umfassende Infrastruktur für die privaten Belange der Beschäftigten. Sie können von dort aus ihre Wäsche wegbringen oder zwischendurch mal eine Bibelstudiergruppe besuchen. Im Silicon Valley dürfen die Leute ihren Hund mit zur Arbeit bringen und auch mancher Goldfisch ist inzwischen mit ins Büro gezogen. Das alles macht das private Leben immer leerer und entwertet die Zeit daheim.
Man könnte versuchen, einen Kulturwandel einzuleiten. Organisationen wie Kinderschutzbund, Altenverbände, feministische Gruppen, Gewerkschaften und andere Interessierte müssten eine Allianz zur Verteidigung des Privaten und Nichtkommerziellen bilden. Zugleich sollten sich Leute in den Firmen, die unter der Situation leiden und gerne mehr Zeit mit ihren Familien verbringen würden, austauschen und zusammenschließen. Außerdem dürften Leute vom linken Flügel Familienpolitik nicht mehr länger den Rechten überlassen, die Familie als Vater-Mutter-Kind-Einheit mit daheim bleibender Ehefrau definiert. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass Familien - egal wie sie konkret aussehen - wieder Zeit haben. Denn das ist die Voraussetzung für glückliche und erfüllende Beziehungen.
In letzter Zeit ist sowohl in den USA als auch hier in Deutschland vielen Leuten gekündigt worden, die bis dahin das Gefühl hatten, Arbeitslosigkeit könne sie persönlich nicht treffen. Im Moment sind sie für die Unternehmen leichte Beute. Sie haben oft das Gefühl, unbedingt wieder reinkommen zu müssen - schon weil mit dem Rausschmiss der zentrale Anker ihres sozialen Lebens verloren gegangen ist. Andererseits machen sie jetzt die Erfahrung, wie abhängig ihre gesamte Lebensführung vom Job gewesen ist und dass sie mit der Kündigung im Grunde alles verloren haben. Möglicherweise ziehen sie daraus die Konsequenz, ihr Leben auch außerhalb der Arbeit in stabileren und von ihnen stärker zu beeinflussenden Strukturen zu verankern. Hilfreich ist es bestimmt, wenn sie sich gegenseitig stützen und sehen, dass sie in dieser Situation nicht allein sind. Vielleicht entstehen daraus sogar neue zivilgesellschaftliche Gruppen.

Übersicht aller bereits erschienenen Beiträge der "Living at Work-Serie".

English version: PDF-File.

Die amerikanische Soziologin Arlie Russell Hochschild hat unter anderem das Buch Keine Zeit. Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet (Leske + Budrich 2002) veröffentlicht.

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Vom 19. bis 23. Oktober 2004

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