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Singham und der Aufbau Nord
Hilfe für die Menschen in Sri Lanka - ein ungewöhnliches Projekt.
Von Michael Gleich
Ein blutiger Bürgerkrieg hat den Norden Sri Lankas zerstört. Ein Tamile, der 15 Jahre in Berlin gelebt hat, baut sich hier trotzdem ein neues Leben auf. Sein persönliches Programm lautet: "Aufbau Nord". Mit dabei sind Taubstummenlehrer, Häuslebauer, Ökobananen und zwei Pfauen. Nach der Tsunami-Katastrophe engagiert sich seine Organisation außerdem in der Nothilfe für Flutopfer.
P. N. Narasingham
Wiederaufbau: P. N. Narasingham
gründete in Sri Lanka Dörfer für Flüchtlinge
des Bürgerkriegs, eine Gehörlosenschule
und eine Ökofarm.
Der Norden ist Geisterland. Kilometerweit kein Mensch zu sehen zwischen den Ruinen. Häuserwände wirken wie verwundete Haut, übersät von den tiefen Löchern und Narben, die einschlagende Granaten hinterließen. Fensterhöhlen glotzen blind. Die Dachziegel hat der Feuersturm der Mörserkanonen zertrümmert, ein Hurrikan die Reste von den verkohlten Balken gefegt. Kuhherden irren hirtenlos über Wiesen, deren Sattgrün ein tödliches Geheimnis überdeckt: Minen. Anderthalb Millionen sind im Boden vergraben. Sie lassen die heiligen Kühe leben, Sarkasmus des Krieges, sie explodieren nur, wenn das Bein eines Menschen spezifischen Druck auslöst, und zerfetzen es. Deshalb sind die Dörfer verlassen. Ein Fahrradskelett, eine bröckelige Steinbank: Klettergewächse überwuchern Relikte in Rekordzeit. Über all die Bomben, die Toten, die große Vertreibung deckt die Natur ein grünes Leichentuch. Tröstliche Tropen.
P. N. Narasingham geht ins Geisterland, als der Krieg noch tobt. Er kommt aus Berlin. 15 Jahre lang hat er hier gelebt, die Hälfte seines Lebens. Seine Freunde nennen ihn Singham. Wuchernder Vollbart, schmale Gestalt. Er gilt als politischer Aktivist und leidenschaftlicher Überzeugungskünstler. Einer aus Sri Lanka, der es geschafft hatte: deutscher Pass, deutsche Frau, Leben im heimeligen Kiez in Kreuzberg "mit U-Bahn, Vollkornbrot und Sozialversicherung". Sozusagen ein Karriere-Flüchtling. Dann fasst er den Entschluss, 1995 ins Krisengebiet in den Norden seiner heimatlichen Insel zu reisen. Nicht als Besucher, sondern um zu bleiben. Warum, fragen ihn seine Freunde, dieser Bruch, dieser Abschied ins Ungewisse?

Rückkehr, um zu helfen.


Es hat mit einem "A" zu tun, und mit Kindern wie der kleinen Ravindran, die versucht, dieses "A" hervorzubringen. A wie Amma, Mutter. Noch kommen akustische Querschläger, reißen mal in hohes Kieksen aus, mal in dumpfes Gurgeln. Die 14-Jährige versucht, den Vokal zu treffen, den ihre Lehrerin vorspricht. Sie kann diesen Vokal nicht hören. Nur sehen. Und ertasten. Ravindran starrt auf den Mund ihrer Lehrerin, ahmt dessen Wölbung nach, befühlt den Kehlkopf, spürt die Vibrationen, schickt so lange neue Töne in die Luft, bis die Lehrerin sie lobt. Bis Ravindran "Amma" sagen kann, werden noch Wochen vergehen. Aber jedes neue Wort führt heraus aus der hermetischen Welt des Lautlosen.

Gehörlosenschule
Laute, die man fühlen kann:
Eine speziell ausgebildete Lehrerin übt
Sprechen mit einem Kind, das von
Geburt an gehörlos ist. Die Schule wird
von der Organisation SEED betrieben.
Ravindran geht in eine Schule für Taubstumme, deren Lehrer von SEED bezahlt werden, der Organisation, die Singham nach seiner Rückkehr gegründet hat. Die englische Abkürzung steht für "soziale, wirtschaftliche und ökologische Entwickler". In Vavuniya, einer Kleinstadt 250 Kilometer nördlich der Kapitale Colombo, sind mittlerweile 40 Angestellte und 20 Freiwillige dabei. Ihr Arbeitsfeld ist der Norden Sri Lankas, das Geisterland. Die Region leidet besonders stark unter den Folgen eines blutigen Bürgerkriegs, der 1983 begann und 20 Jahre dauerte. Ausgefochten zwischen der tamilischen Befreiungsbewegung LTTE im Norden und der sri-lankischen Regierung kostete er rund 70.000 Leben, trieb anderthalb Millionen Menschen in die Flucht und warf das Land wirtschaftlich um Jahrzehnte zurück. Zerstörte Dörfer, verwundete Seelen.
Auch die meisten der 65 taubstummen Schüler sind Kriegsopfer. Sie haben Vater oder Mutter oder beide verloren. Kinder, die nicht hören und sprechen können, bleiben in Zeiten von Hunger und Flucht als Erste auf der Strecke. "Viele Behinderte vegetieren ihr ganzes Leben lang in einer dunklen Hütte", weiß Singham. Die 14 Lehrer der Schule bringen eine Spezialausbildung in Gebärdensprache und, noch wichtiger, eine unermüdliche Geduld mit. Sie versuchen, die Kinder aus ihrer Isolation zu holen, indem sie auch deren Verwandte unterrichten. So wächst der Kreis derer, mit denen sie "sprechen" können, wachsen Bewegungsräume. Ravindran ist der Stolz der Schule: Bei einem nationalen Leichtathletik-Wettkampf gewann sie über 200 Meter die Goldmedaille.

Aufbau Nord.


Das Konzept von SEED ist es, die Lebensbedingungen in möglichst vielen Bereichen zu verbessern. Wirtschaft und Seele sollen gleichermaßen gesunden. Neben der Schule wurden Siedlungen für einige hundert Kriegswitwen und deren Familien gebaut: komplett mit Häusern, Gärten und Brunnen, mit Dorfläden und einem Gemeindehaus. Die Organisation berät die Bewohnerinnen, wie sie mit Heimarbeit Geld verdienen können, ohne ihre Kinder allein lassen zu müssen. Kümmert sich um Straßenkinder, um die sich sonst keiner schert. Und hat eine zwei Hektar große Musterfarm angelegt, auf der ökologische Landwirtschaft erprobt wird. "Seed" heißt Saat, und in Vavuniya fällt sie auf fruchtbaren Boden.
Ausländische Hilfsorganisationen, darunter auch die Deutsche Gesellschaft für technische Zusammenarbeit, beobachten aufmerksam die Erfolge von Singhams Konzept. Sie bieten ihm Kooperation und Geld an, um das Modell in großem Maßstab zu vervielfältigen. Doch der Sämann bleibt reserviert: "Wir wollen nicht wachsen, jedenfalls nicht um jeden Preis."
Abhängig zu werden, zum Beispiel, wäre für Singham ein zu hoher Preis für mehr Möglichkeiten. Er verteidigt löwenhaft die errungene Freiheit. Seine Skepsis erklärt sich aus seiner wechselvollen Biographie, aus den Mäandern einer Migration von Ost nach West und zurück, aus Flüchtlingsgefühlen von Ohnmacht und Unsicherheit. Die erste Neuerfindung von P. N. Narasingham: Als 18-Jähriger floh er vor den zunehmenden Gewalttaten gegen Tamilen aus Jaffna, der Hauptstadt des Nordens. In Berlin stellte er einen Antrag auf politisches Asyl. Elf Jahre lang kämpfte er um die Anerkennung - vergeblich. Schließlich bekam er den deutschen Pass nur, weil er eine Deutsche heiratete. Neben die Erfahrung, einem juristischen Verfahren ausgeliefert zu sein, trat die Überraschung, "dass sich viele Menschen für mich eingesetzt haben, obwohl sie mich nicht einmal persönlich kannten". Er revanchierte sich, indem er ehrenamtlich Ausländer in Rechtsfragen beriet.
Der Mauerfall bedeutete auch für Singham eine Wende. In Berlin und Umgebung nahm die Gewalt gegen Ausländer zu. Brandanschläge auf Asylbewerberheime, Morde an Afrikanern. "Fidschis klatschen" nannten es die Neonazis. Singhams schwarze Haut und sein politischer Aktivismus machten auch ihn zur potentiellen Zielperson. "Wenn ich schon mein Leben riskiere", sagt er sich, "dann nicht passiv, nur weil meine Haut eine bestimmte Färbung hat, sondern lieber aktiv, indem ich etwas für mein Land tue." Es war dennoch kein leichter Entschluss. Sri Lanka ist für ihn tausende Kilometer und auch kulturell unendlich weit entfernt. Er hat sich im Berliner Biotop eingelebt. Eine Kommune mit 16 Leuten, zusammen kochen, WG-Diskussionen nächtelang, das Brot kommt aus dem Bioladen, der Käse von glücklichen Kühen, die U-Bahn pünktlich. Grünes Leben in der Großstadt.

Kreuzberg lässt grüßen.


SEED Siedlung
SEED baut Siedlungen für Flüchtlinge.
Die erste wurde von zehn Familien be-
wohnt, die zweite von 65, die beiden
jüngsten schon von 270.
Einiges vom alternativen Gedankengut hat er herübergerettet und bei SEED eingepflanzt. Als er Mitte der 90er Jahre in Vavuniya begann, den Bau von Häusern für Kriegswitwen zu organisieren, "ging es mir nicht nur um Ergebnis und Effizienz, sondern vor allem um den Prozess, um den Weg, wie wir zum Ziel gelangen". Eine für sri-lankische Verhältnisse exotische Unternehmenskultur prägt die Organisation: Teamgeist, offene Diskussion, keine männliche Vorherrschaft in der Gruppe, jeder putzt mal das Büro - Kreuzberg lässt grüßen.
Das Startkapital für den Landkauf hatte eine Berliner Unterstützergruppe gesammelt. Zunächst sollte eine örtliche Partnerorganisation gefunden werden, das übliche Vorgehen bei Entwicklungsprojekten. "Doch die Suche war frustrierend", erinnert sich Singham. "Die meisten Gruppen waren einseitig religiös ausgerichtet. Oder sie betrieben einen peinlichen Personenkult um ihren Vorsitzenden." 28 Mal. So oft hat er sein Konzept präsentiert, und so oft ist er bei Organisationen abgeblitzt. "Letztlich war das gut so. Mir wurde klar, dass wir etwas Eigenes gründen müssen."
Er zerriss das Strategiepapier, das er noch in Berlin geschrieben hatte. Stattdessen entschied er sich für eine Methode, die jeden hoch dotierten Entwicklungsexperten befremden würde. Um herauszufinden, was die vom eigenen Land Vertriebenen wirklich brauchen, lebte er monatelang mit ihnen in einem Lager. In einer Lehmhütte, ohne Strom, Wasser holte er vom weit entfernten Brunnen, eben wie alle anderen. Sri Lanka von unten. Er bekam einen Leberschaden, Malaria, hatte Blut im Stuhl. Wieder war er Flüchtling, nun im eigenen Land. Aber er fand heraus: Wie wollen die zukünftigen Hausbesitzer ihre Küche, was versteht eine Großfamilie unter "Schlafzimmer", wie sieht ein idealer Essplatz aus. "Mit unseren westlichen Vorstellungen hätten wir total falsch geplant", sagt Singham.
Das deutsche Geld, so wusste er, würde für zehn Häuser reichen. Als SEED das Vorhaben ausschrieb, meldeten sich 850 Familien. "Wir haben uns die Zeit genommen, mit jeder einzelnen zu reden. Manchmal konnte ich abends nur noch heulen, nach all dem, was mir die Leute von Getöteten und Verschwundenen, von Gefolterten und Vergewaltigten erzählt haben." Ihre Geschichten ließen ihn nicht los. "Willst du mal Heli fliegen?", hatten die Armeesoldaten eine Gefangene gefragt. Sie hatten ihre Füße mit einem Strick zusammengebunden und sie daran aufgehängt. Dann hatten sie den Körper rechts und links gegen die Wände der Zelle geschleudert. Den Boden hatten die Folterknechte mit Glasscherben und scharfkantigen Patronenhülsen ausgelegt. Irgendwann war der Strick gerissen, "safe landing" hatten die Soldaten das genannt.

Keine Abhängigkeiten.


Für alle wollte Singham etwas tun, alles heilen. Schlimm war für ihn deshalb, zehn auszuwählen - und damit 840 abzulehnen. "Zum ersten Mal in meinem Leben musste ich über andere Schicksale entscheiden." Im Team wurde beschlossen, landlosen Familien, mit Behinderten oder besonders kinderreich, den Vorrang zu geben. Nachvollziehbare Kriterien entlasteten das Gewissen.
Gemeinsam rodeten das SEED-Team und die zukünftigen Bewohner ein Stück Dschungel. Sie trugen Holz und Steine auf dem Rücken zur Baustelle, installierten eine Wasserpumpe, die eine Flüchtlingsorganisation gestiftet hatte. Geschützfeuer ganz in der Nähe unterbrach immer wieder die Arbeit. Die Kämpfe zwischen den Tamil Tigers und der sri-lankischen Armee waren wieder aufgeflammt, die Frontlinie wanderte ständig. Mal kamen die Granaten von links, mal von rechts. Stille war unheimlich, weil unberechenbar.
"Damals entstand in mir so etwas wie ein Vaterinstinkt: Ich, Singham, sorge für Witwen und Waisen. Falsch, das ist völlig falsch. Wir wollen nicht ihre Beschützer werden, sondern ihnen helfen, selbständig zurechtzukommen." Schon bald nach dem Richtfest begannen die Frauen, Gemüse und Bananen auf ihren Grundstücken anzubauen, verdienten sich mit Seilflechten ein kleines Einkommen. Keine langfristigen Abhängigkeiten: Was für Singhams eigenes Leben gilt, formuliert er auch als Prinzip für SEED. Nach dem ersten erfolgreichen Projekt entstand ein zweites für 65 Familien, derzeit sind ein drittes und viertes für jeweils 270 Familien in Bau. Also doch Wachstum? "Mittlerweile gibt es im Team zehn andere, die die Arbeit genauso gut machen wie ich", sagt Singham. "Wir können erweitern, ohne an Qualität zu verlieren."
Und der Bedarf ist riesig. Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen schätzt, dass auf der Insel noch 700.000 Vertriebene in Lagern leben oder im Land umherirren. Fast täglich werden Minenopfer gemeldet. Dazu die seelischen Verwundungen. In der Region nördlich von Vavuniya waren 97 Prozent der Kinder Zeugen traumatisierender Ereignisse, Bombardements, Brände oder Tötung von Verwandten. Ein Viertel von ihnen leidet dauerhaft unter den psychischen Folgen der Traumata. Doch gibt es im gesamten Norden und Osten der Insel, den vom Bürgerkrieg am schwersten betroffenen Gebieten, vielleicht drei Psychiater, die solche seelischen Störungen erkennen und behandeln können. Traumatisierte Tropen.

Bremsende Bürokratie.


Sri Lanka - Minen
Vorsicht Minen: Im Norden
und Osten der Insel sollen noch rund
1,5 Millionen Tretminen im Boden
versteckt sein, fast täglich werden
neue Opfer gemeldet.
Auch die wirtschaftliche Gesundung wird Generationen dauern. Besonders bremst die Zweiteilung der Insel. Im Waffenstillstand vom Februar 2002, der bis heute hält, wurden den Tamil Tigers Gebiete zugesprochen, die sie militärisch und zivil kontrollieren. Damit wurde ein einzigartiger Bürokratie-Zirkus begründet, dessen kuriose Exzesse wenige Kilometer von Singhams Haus zu besichtigen sind. Lastwagen, die nach Norden wollen, werden zuerst von den Soldaten der sri-lankischen Armee gestoppt. Sicherheitskontrolle! Unter bewaffneter Aufsicht müssen die Fahrer die Fracht komplett ausladen. Sand, Farbeimer, Dachpfannen oder Kokosnüsse, egal. Ein Heer von Hilfsarbeitern steht bereit, um gegen gute Rupien anzupacken.
Nach Stunden, wenn alles ausgeladen ist, nickt der Soldat, und alles wird wieder hineingeschaufelt. Der Lkw fährt durch 100 Meter entmilitarisierter Zone und gelangt zum Checkpoint der Tamil Tigers. Die gleiche Prozedur: Sand rausschaufeln, Tiger nickt, Sand reinschaufeln. Dann durchquert der Lkw das Gebiet der LTTE, um an dessen Nordgrenze noch zweimal das Rein-raus-Spiel zu wiederholen. Sisyphos auf Sri-lankisch. Wenn der Sand in Jaffna ankommt, ist er viermal gesiebt worden, wird zum teuren Gut, sozusagen Hochsicherheitssand erster Güte.
Singham erinnert die Prozedur fatal an Checkpoint Charlie, an die steinernen Gesichter von Volkspolizisten, die ernste Miene zu merkwürdigen Kontrollspielen machten. Er würde gerne darüber lachen, nur: "Unsere Wirtschaft werden wir auf diese Weise nicht flottkriegen." Zwei Jahrzehnte lang gaben Regierung und Rebellen Milliarden Dollar für Rüstungsgüter aus und zerstörten damit planvoll Straßen und Schulen, Brücken und Brunnen. Das Geld fehlt jetzt an allen Ecken.

Groß-WG auf dem Lande.


Für SEED bedeutet das, zunächst für das Nötigste zu sorgen: ein Dach über dem Kopf, sauberes Wasser, gesunde Nahrung. Damit hat die Organisation zwar alle Hände voll zu tun. Aber Singham denkt schon über die nächste Phase nach. Er, der das "Prinzip Durchwurschteln" angesichts täglich neuer Widrigkeiten perfektioniert hat, lebt auf, wenn seine Visionen ehrgeiziger werden, wenn Pläne abheben, Ideen fliegen. "Sri Lanka, glückliches Lanka - das wird wieder. Schließlich haben Tamilen und Singhalesen hunderte von Jahren friedlich zusammengelebt. Wir dürfen uns nur nicht manipulieren lassen, von Politikern, die Menschen in Kriege hineinhetzen", sagt Singham und malt mit ausgreifenden Gesten Bilder in die Luft, "aber dazu müssen wir etwas lernen, was hier zu Lande fast unbekannt ist: sich einen eigenen Kopf machen, kritisch nachfragen, offen diskutieren."
In seiner Person verschmelzen Kreuzberger Kommune und sri-lankischer Pragmatismus, ein Amalgam, aus dem sich ungewöhnliche Modelle formen lassen. Etwa der Ökobauernhof, eine grüne Oase mitten im Geisterland. Im milden, sanftroten Abendlicht wird die Farm zu einem visionären Ort, der spüren lässt, wie fruchtbar und friedlich Sri Lanka sein kann. Seit die eigenen Brunnen Wasser liefern, gedeiht, was als Same in die Erde gesteckt wurde: Banane, Papaya, Ananas, Mango, Spinat, Kohl, Bohnen, Maniok. Bei der Vermarktung arbeiten die Tamilen mit einer singhalesischen Gruppe zusammen. SEED liefert Früchte in den Süden, von dort kommen Biotee und -gewürze. Die offizielle Feindschaft wird ignoriert.
Gegenseitiges Gewinnen. Die Abfälle der einen Pflanze befruchten das Wachstum der anderen, Regenwürmer werden in Dienst gestellt, um aus Erde Dünger zu machen. Deutsche Schäferhunde, australische Langohrziegen und indische Perlhühner wuseln durcheinander, ein animalisches Multikulti. Zwei Pfauen stolzieren auf einem Palmblätterdach herum. Wofür sind die gut? "Die", sagt Singham, "sind einfach nur schön."
Eine kopfstarke Kommune ist entstanden. Singhams Frau und seine Schwiegermutter gehören dazu, Freunde, Farmarbeiter und quasi Adoptierte. Alle unter einem Dach, möglichst viel Leben auf engem Raum. So hat es sich Singham immer gewünscht, seit Berliner Zeiten: die Groß-WG auf dem Lande. Kein Motorenbrummen weit und breit. Traumhafte Tropen.
Ein Ort der Harmonie. Außen. Doch in den Köpfen der Farmbewohner sieht es anders aus. Es wird noch lange dauern, vielleicht generationenlang, bis das Grollen der Granaten verstummt, die Brände verlöschen, das Dröhnen der Tiefflieger verhallt. Bis es innen drin leiser wird, still.

Michael Gleich ist Wissenschaftspublizist und engagiert sich in der Initiative Peace Counts project für den Frieden.

Fotos: � Paul Hahn/Laif.

www.peace-counts.org

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Autor

Michael Gleich
Gleich

Michael Gleich, Publizist, Stroryteller und Redner, hat 2011 "der kongress tanzt. Netzwerk für gute Veranstaltungen" initiiert. Es berät Veranstalter darin, Konferenzen und Foren als lebendige Lernorte zu gestalten.

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