Vielfalt zählt
Culture Counts Interview Marathon Upload - die Dokumentation des Interviewmarathons auf changeX.
Von Anja Dilk, Gundula Englisch und Alexander Ross
Die Welt wird flach. Entfernungen schrumpfen. Kulturen rücken zusammen. Vielfalt wird alltäglich, und sie wächst. Damit wird es immer wichtiger, die anderen zu verstehen: andere Kulturen ebenso wie andere Menschen. "Was unterscheidet, was verbindet uns?", war deshalb die Leitfrage des Culture Counts Interview Marathon in Berlin. 24 Stunden lang interviewten die Publizisten Peter Felixberger und Michael Gleich bekannte Persönlichkeiten aus Kultur, Wirtschaft und Medien. Von Freitagmittag bis Samstagmittag. changeX war mit dabei: Anja Dilk, Gundula Englisch und Alexander Ross berichteten direkt aus dem Berliner Hauptbahnhof. Rund um die Uhr filterten sie die wichtigsten Thesen und Erkenntnisse aus den Gesprächen - reflektierend, räsonnierend, subjektiv. Eine Dokumentation eines einzigartigen Projekts. Und ein Dokument kultureller Vielfalt. / 14.05.07

[12:00 bis 13:00] Gerd Ruge: Die Mauern durchbrechen. >>
[13:00 bis 14:00] Volker Ludwig: Gefühle verbinden. >>
[14:00 bis 15:00] Florian Gaag: Kultur am Limit. >>
[15:00 bis 16:00] Ilja Trojanow: Die Sprache finden. >>
[16:00 bis 17:00] Reinhard K. Sprenger: Dem Management entwachsen. >>
[17:00 bis 18:00] Joana Breidenbach / Ina Zukrigl-Schief: Jeder ist global. >>
[18:00 bis 19:00] Wolf Lotter: Fremde Nachbarn. >>
[19:00 bis 20:00] Gayle Tufts: Eine Liebeserklärung. >>
[20:00 bis 21:00] Julian Nida-Rümelin: Wechselseitiger Veränderungsdruck. >>
[21:00 bis 22:00] Pepe Danquart: Nähe braucht Zeit. >>
[22:00 bis 23:00] Culcha Candela: multimusikalische Kultur. >>
[23:00 bis 00:00] Bruno Baumann: Extreme Pfade. >>
[00:00 bis 01:00] André Sarrasani: Alltag im Nationalitätengemisch. >>
[01:00 bis 02:00] Jochen Sandig: Schwellen zur Kunst abbauen. >>
[02:00 bis 03:00] Holm Friebe: fremde neue Arbeitswelt. >>
[03:00 bis 04:00] Michael Hoffmann: Experimentieren. Vergleichen. Suchen. >>
[04:00 bis 05:00] Ibrahim Syed: Wanderer zwischen Welten. >>
[05:00 bis 06:00] Uli Reinhardt: der respektvolle Blick. >>
[06:00 bis 07:00] Arne Klempert & Delphine Ménard: Neue alte Partizipationskultur >>
[07:00 bis 08:00] Herfried Münkler: Ent-fremdet euch! >>
[08:00 bis 09:00] Maria Simon & Bernd Michael Lade: Ostblick - Fröhliche Fremdheit. >>
[09:00 bis 10:00] Seyran Ates: oszillierende Identität. >>
[10:00 bis 11:00] Silvia Bovenschen: Das Alter, ein unbekannter Kontinent. >>
[11:00 bis 12:00] Peter Prange: Geschafft! >>

 

 

[12:00 bis 13:00] Gerd Ruge
Fernsehjournalist, Moderator und Bestsellerautor. Als Korrespondent arbeitete er in Moskau und in den USA. Seine Reisen führten ihn in viele russische Provinzen, nach China, Afghanistan und Afrika. Überall tauchte er in die Alltagskultur ein, um dem heimischen Publikum das Fremde nahe zu bringen.

Die Mauern durchbrechen.
Es war als hätten die Propheten des Clash of Cultures den Donnergott geschickt. Schwer ziehen schwarze Wolken über den Berliner Hauptbahnhof. Dunkles Grollen durchzittert die hohen Hallen. Regen peitscht gegen die Glasfronten. Rasch eilen die Reisenden, das Regenwasser von ihren Schirmen schüttelnd, ins Innere des Palastes am Rande des Regierungsviertels, in dem sich seit einem Jahr Züge aus Ost und West und Nord und Süd kreuzen. Vor dem Hintereingang Richtung Kanzleramt reihen sich die Fahrradrikschas, Taxis hupen, heulend rast ein Krankenwagen vorbei, auf dem Weg zur nahe gelegenen Charité. Das lebensechte Skelett eines Diplodocus überragt die Bahnhofsbesucher, ein stummer Zeuge längst vergangener Zeiten, als die Erde noch nichts vom späteren Gewimmel menschlicher Kulturen ahnte.
In der Austernbar stehen die Kameras in Position. Der Blick aus dem gläsernen Ecksalon mit seinen schweren Samtvorhängen reicht weit über Spreebogen, Abgeordnetenhaus, Reichstag, bis zum Fernsehturm am Alexanderplatz in der Ferne. Zwei Dutzend Besucher haben auf den Zuschauerstühlen Platz genommen. Seite an Seite sitzen die beiden Interviewer der Culture Counts Crew am Tisch, gegenüber Gerd Ruge. Ihn werden Peter Felixberger und Michael Gleich als erstes befragen. "Ihre Prognose, Herr Ruge, halten wir 24 Stunden die Spannung", flüstert Gleich. Ruge lächelt. "Die Frage ist: Halten Sie durch?" Die Maskenbildnerin tupft noch schnell die Gesichter ab. Aus der Austernbar dringt das leise Klappern von Geschirr. Stühle quietschen. Psst. Es geht los.

"Es ist 12 Uhr Mitteleuropäische Zeit. Wir befinden uns im Berliner Hauptbahnhof. Das Experiment kann beginnen, der 24-Stunden-Marathon mit Persönlichkeiten aus Kultur, Wirtschaft, Medien", Peter Felixberger hebt die Stimme. "Wir fragen sie: Was ist fremd? Was ist kulturelle Vielfalt?" Nicht einen Positionsaustausch mit Funktionären haben die Publizisten im Sinn. Sondern eine persönliche, eine emotionale Annäherung an das Thema. Einen offenen, spontanen, gerne auch mal chaotischen Austausch von Erleben und Erfahrung. Gleich lächelt. "Denn Kultur ist immer ein spannender Prozess mit viel Gefühl".

Da ist Gerd Ruge zum Auftakt der Richtige. Er weiß, wie wichtig das Gefühl ist, wenn es darum geht, sich Menschen einer anderen Kultur zu nähern, sie zu entdecken, ihre Motive, Haltungen, Sichtweisen auf das Leben zu ergründen. Jahrzehntelang war der Fernsehjournalist in vielen Ländern der Welt unterwegs, in China und Russland vor allem. Als "Eindringling in fremde Kulturen" hat er sich dabei schon oft empfunden. Wie ist er den Menschen nahe genommen? "Man muss herausfinden, was die Menschen selbst beschäftigt, was sie interessiert. Und darüber reden." Über ihren Alltag, ihr Leben, aber auch, natürlich über die Spannungslinien und Konflikte in den Ländern. Und dabei die eigenen Werte, die eigene kulturelle Brille so weit wie möglich zurückhalten. Auch wenn es nie möglich ist, die Brille der eigenen Kultur gänzlich abzulegen.
Wenn Ruge gefragt wird, ob er mal selbst etwas erlebt hat, das er nicht verstand, denkt er an China. Diese ferne Kultur, "deren Emotionalität für uns - gerade im China nach der Kulturevolution - nicht vorhanden war, versteckt hinter einer Maske". 1976 zum Beispiel, als die Chinesen nach dem Tod des Staatspräsidenten Angst vor einer Rückkehr der Mao-Anhänger hatten. Hunderttausende Menschen, alle blau angezogen, wie damals üblich, versammelt auf einem Platz. Eine Totenfeier. Eine Demonstration. Still. Sehr still. Plakate, die Ruge und sein Team fotografierten, um in wochenlanger Kleinarbeit überhaupt herausfinden zu können, worum es hier überhaupt geht. Verklausulierte Reden, voller literarischer Anspielungen, kaum entwirrbar. Ein Redner zitiert die Rede, die Marx am Grab von Engels gehalten hat. Ein versteckter Protest. Welch ein unendlich fernes Land. Wie viel näher aus dieser Perspektive Russland erscheint, wird bei Ruges Schilderungen offensichtlich. Wer von Berlin über Moskau nach Warschau fährt, landet tief, tief im Osten Europas. Wer von China über Sibirien nach Moskau reist, kommt in einer westlichen Stadt an: La Traviata in der Oper, McDonalds in der Innenstadt, vertraute Geschäfte und Produkte. Fremdsein ist immer wieder eine Frage der Perspektive. Kein Wunder, dass der bekannte Journalist so gerne in Russland gelebt hat. "Wenn es einem dort gelingt, die Mauer zu durchbrechen, landet man ganz nah an der russischen Seele - Menschen, die pladdern, die weinen, die unglaublich offen sind. Das hat mir gefallen", sagt Ruge und grinst. "Auch wenn natürlich nicht alle Russen so eine russische Seele haben." Das gehört auch zu seiner Aufgabe als Journalist: kein idyllisches Klischee nacherzählen. "Unsere Aufgabe ist es nicht, den Menschen zu sagen, dass die Iraker auch nette Leute sind, sondern zu erklären, aus welchen Motiven sie handeln. Und damit einen Beitrag zur Verständigung zwischen den Kulturen zu leisten." (ad)

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Die dunkeln Wolken sind weiter gezogen. Die Sonne bricht hervor. Volker Ludwig, der Leiter des berühmten Berliner Grips-Theaters für Kinder und Jugendliche, kann kommen.

[13:00 bis 14:00] Volker Ludwig
Schriftsteller, Kabarettist und Leiter des Berliner GRIPS Theaters, eine der berühmtesten Kinder- und Jugendbühnen der Welt. Seine Stücke sind dort angesiedelt, wo das Publikum zu Hause ist. Ludwigs Stücke wurden in 47 Ländern nachinszeniert und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

Gefühle verbinden.
Überlebensstücke nennt Volker Ludwig seine Theaterproduktionen für Kinder und Jugendliche. Die Probleme des Publikums sind der Stoff, aus dem die Grips-Stücke sind. Es geht um Konflikte, die junge Menschen mit sich und ihrer Umwelt auszutragen haben: Ausgrenzung, Einsamkeit, Ängste, Selbstzweifel, Freundschaft, Unterdrückung. In den Siebzigerjahren ging es auf der Bühne um Kinderfeindlichkeit und den Zwang zur Unterordnung. In den Achzigerjahren um die Hoffnungslosigkeit der No-Future-Generation, um existenzielle Bedrohungen wie Aids, Atomkraft, Umweltkatastrophen. In den Neunzigern dann um soziale Spannungen und Fremdenfeindlichkeit. Alles Konflikte, die irgendwie nach "typisch deutsch" klingen. Wie aber kommt es, dass Ludwigs Stücke Kinder und Jugendliche auf der ganzen Welt begeistern? "Es geht um die Grundprobleme der jungen Generation, und die sind alle gleich", sagt der Theaterregisseur. Zum Beispiel "Max und Milli" - ein Stück über die Freundschaft zwischen einem Unterschichtkind und einem Oberschichtkind. In der indischen Adaption wurde daraus die Geschichte zweier Kinder aus verschiedenen Kasten.
Oder "Linie 1": ein junges Mädchen fährt einen Tag lang mit der U-Bahn durch Berlin und begegnet dabei allerlei seltsamen Großstadtmenschen. Die reaktionären Witwen aus Wilmersdorf etwa gibt es als Archetyp auch in Kalkutta. Es sind die Witwen der Ex-Diktatoren, die immer, wenn die U-Bahn über eine Weiche rumpelt, empört ausrufen: "Sofort den Fahrer entlassen." Also gibt es gar nicht das typisch Deutsche, das typisch Indische, das typisch Amerikanische? Doch, sagt Volker Ludwig. "Die Chinesen etwa haben eine Kultur der Nichteinmischung. Dort kann ein Mann seine Frau auf offener Straße verprügeln und niemand wird dazwischen gehen." Und was ist ihm in Deutschland fremd? Die Angstbesetztheit. Die Furcht davor, etwas zu verlieren. Die tiefe Skepsis gegenüber dem Fremden. In Deutschland leben 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund - das ist ein Fünftel der Bevölkerung. Jeder weiß, dass die Wirtschaft ohne diese Arbeitskräfte ins Stocken kommen würde. "Und trotzdem gibt es diese furchtbare Bleiberechtsdebatte". Der Theatermann hat selbst erlebt, dass zwei seiner besten Schauspieler abgeschoben wurden, er kennt viele Asylanten, die seit Jahren hier leben, und von heute auf morgen das Land verlassen müssen.
Gegen diese Front der Fremdenphobie setzt Volker Ludwig die Kraft des Theaters. Wenn der Vorhang gefallen ist, sieht das Publikum die Menschen auf der Bühne anders. Theater kann Denkschablonen aufbrechen. Es ist die Sprache der Gefühle, die das Publikum und die Schauspieler vereint. Liebe, Unterdrückung, Ablehnung - das Emotionale fühlt sich bei allen Menschen, in allen Kulturen, auf allen Kontinenten dieser Welt ähnlich an. Das Menschliche ist keinem fremd - eine universelle Sprache. Deshalb hat es bisher noch kein Stück der Grips-Truppe gegeben, dass sich nicht in den Kulturkreis eines anderen Landes übersetzen ließ. Und oft wird viel mehr Fremdheit akzeptiert als man glaubt. Bei einer Aufführung in Kalkutta gehörte ein Hochbett zur Requisite. Es sollte ersetzt werden, weil es so etwas in Indien nicht gibt, blieb aber schließlich doch auf der Bühne. Seitdem kaufen indische Familien begeistert Hochbetten. (ge)

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[14:00 bis 15:00] Florian Gaag
Filmemacher aus München, sein preisgekrönter Debütfilm Wholetrain taucht in den geheimen Kosmos der Graffiti-Szene ein und zeichnet ein vielschichtiges Porträt dieser Subkultur, zu der Gaag, heute 33 Jahre alt, in seiner Jugend selbst gehört hat.

Kultur am Limit.
Wholetrain heißt im Jargon der Sprayer, einen kompletten Zug mit Graffitis zu bemalen. Was treibt junge Menschen dazu, sich bei Nacht und Nebel mit Sprühflaschen auf öffentlichen Freiflächen zu verewigen, immer am Limit der Illegalität und ständig auf der Flucht vor Ordnungshütern? "Man will sich sichtbar machen", sagt Florian Gaag. Graffitis sind mehr als bunte Kleckse auf Fabrikmauern, sie sind die künstlerische Ausgestaltung des eigenen Namens in originärem Stil. Mit diesen sogenannten Tags erobern sich die Sprayer den öffentlichen Raum zurück - ihr Ventil für Kreativität in einer Welt, die zugepflastert ist mit Werbeflächen. Keimzelle dieser Subkultur waren die amerikanischen Großstädte der Sechzigerjahre. In den trostlosen Betonwüsten fanden diejenigen, die nichts hatten, genügend leere Wände um sich auszuleben. Gaags Film zeigt Graffiti als komplexe Untergrundkultur mit eigenen Regeln, Werten und Codes. Doch ist Graffiti nicht längst Mainstream? Die Werbeszene spielt gerne mit den Motiven der Sprühkünstler. Neuerdings können sogar gestresste Manager ihren Frust bei Graffiti-Kursen loswerden. "Graffiti lässt sich instrumentalisieren, aber nicht kommerzialisieren", sagt der Filmemacher. So ist es wohl mit jeder Kultur, sonst wäre sie keine Kultur mehr. (ge)

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[15:00 bis 16:00] Ilja Trojanow
Entstammt einer bulgarischen Familie, die nach Deutschland floh und nach Kenia weiterzog. Er hat in München, Bombay, Kapstadt und Paris gelebt. Mitglied des deutschen P.E.N.-Zentrums, Träger des Berliner Literaturpreises. Romane u.a. Der Weltensammler, Zu den heiligen Quellen des Islam.

Die Sprache finden.
Wer ist Ilja Trojanow? Er selbst weiß, wer er ist. Gerade deshalb macht sich der Schriftsteller es nicht leicht, über Identität zu reden. "Es gibt keine statische Identität. Veränderung schafft Identität". Das sagt einer, der mit sechs Jahren seine Heimat verlassen musste. Trojanow schreibt auf Deutsch, seine Werke sind in viele Sprachen übersetzt worden. Er redet über Identität und über die Sprache, die sein wichtigstes Handwerkszeug ist und zugleich der Rohstoff, der von ihm bearbeitet wird: "Wenn man sich für eine Sprache entscheidet, nimmt man nicht die Identität an. Sprache ist ein Stoffmuster, das jeder für sich selbst zuschneidet." Das verbittere ja gerade die alten Engländer, wenn sie nicht mehr wiedererkennen würden, was jemand zum Beispiel aus Simbabwe mit "ihrem" Englisch macht, wenn er es spricht.
Und hierzulande? "Das Deutsche ist ausländerfreundlicher als die Deutschen", entgegnet Trojanow und wird lyrisch: Deutsch könne fließend sein, warm, rhythmisch, mystisch. Dennoch würden die Deutschen mit ihrer Sprache hadern, denn nach dem Zweiten Weltkrieg hätte sich der Selbsthass gegen die eigene Sprache gewandt. "Es war eine intellektuelle Attitüde, gegen die deutsche Sprache zu sein." Deshalb empfand man romanische Sprachen melodischer und schöner - zu Unrecht, so Trojanow, und bricht eine Lanze für Georg Trakl und Paul Celan.
Mit klaren Worten wendet sich Trojanow gegen eine lange Zeit gültige Sichtweise zum Spracherwerb von Migranten: "Beherrschung der Sprache ist Ermächtigung. Wer Ausländern ihre Sprache lässt, schließt sie aus." Ist das nicht intolerant? Trojanow dreht es um: "Ist es nicht problematisch, wenn man sich selbst als tolerant bezeichnet?" Hier trifft er einen Punkt deutschen Selbstverständnisses, das er mit "Toleranz als den Rücken zukehren" benennt. Man könne sich höchstens tolerant verhalten und dann von anderen so bezeichnet werden. Unwillkürlich denkt man an eine andere deutsche Eigenart, nämlich die, sich selbst zu entschuldigen. Dabei kann man dies ebenso wenig - man kann nur um Entschuldigung durch andere bitten, die dann möglicherweise gewährt wird.
Immer braucht man die Anderen, sogar wenn sie Fremde sind. Für Trojanow braucht es das Fremde, gerade um das Eigene zu erkennen. Trojanow unterscheidet hier die Hybridisierung von der Fusion (er spricht es englisch aus). Die "Fusion" sei intellektuelle Rosinenpickerei, zum Beispiel wenn Björk für eine Platte ein paar neue Sounds braucht und sich an fremden Klängen bedient. "Die kann sich balinesische Rhythmen aneignen, obwohl sie vielleicht nur 48 Stunden auf Bali war."
Den Trend zu einem globalisierten Einheitsbrei kultureller Ausdrücke und Äußerungen sieht er kritisch: "Wenn uns das Fremde ausgeht, findet keine Vermischung mehr statt." Dabei hätten die Einwanderer immer viel mitgebracht, was Deutschland bereichert habe - und nicht nur die wohlhabenden, gut ausgebildeten Hugenotten. Und was ist deutsch? Er sagt lieber, was es nicht ist: "Leitkultur, das ist wie Leitplanke: es begrenzt links und rechts, aber was eigentlich Verkehr sei, darüber sagt sie nichts." Doch was ist mit der Angst vor dem Fremden? In diesem Moment spricht aus Trojanow der europäische Humanist: "Wenn wir diese Angst nicht überwinden können, ist die Idee der Aufklärung nichts wert." (ar)

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[16:00 bis 17:00] Reinhard K. Sprenger
Gilt als einer der profiliertesten Managementexperten in Deutschland. Mit seinen Büchern hat Sprenger die spießige Managementwelt von Grund auf verändert. Er ist nicht nur ein gefragter Redner auf Kongressen und Tagungen, sondern tritt nebenbei auch mit einer Musikband auf.

Dem Management entwachsen.
"Manager - im Grunde sind die mir immer fremd geblieben". Wenn Reinhard Sprenger über Wirtschaft redet und schreibt, dann fragt er sich wohl manches Mal, welche Wirtschaft das eigentlich ist, die solche Menschen an der Spitze hat. "Es gibt Manager, die sich aus der Solidargemeinschaft der Zivilisierten herausgeschossen haben". Man merke es schon an der Sprache, so Sprenger, etwa bei der Verwendung des Begriffs "Sub". Nein, nicht als Präfix für Einordnungen wie "suboptimal" - das ergebe ja noch einen Sinn: mit "Sub" meint man eine der vielen weltweit verzweigten Tochtergesellschaften, auf englisch subsidary company oder eben "sub". Sprenger weiß aus Erfahrung: "Man adelt den größten Schwachsinn, wenn man ihn anglisiert".
Und ein gewisses Maß an Minderintelligenz gehört laut Sprenger schon dazu, um Topmanager zu werden: "Sie müssen doch nur sehen, wie die ins Flugzeug einsteigen, dann wissen Sie, was Systemintelligenz ist." Für Sprenger zeigt sich dabei immer wieder eines: "Das sind herzlich arme Socken." Dabei seien längst nicht alle Manager so. Sprenger könnte es wissen: Er hat alle DAX-Konzerne und viele andere Unternehmen beraten. Er sagt: "98 Prozent sind anders. Die leben in Dilemmata, und halten das aus." Vielleicht kommt er auch deshalb zu dem deutlichen Urteil: "Wir brauchen eine Entidiotisierung der Managementlehre - doch davon sind wir weit entfernt."
Dass Manager aber oft als Leistungselite gesehen werden, was entsprechende Gehälter erst rechtfertigt, ist für Sprenger keine hinreichende Begründung: "Die Eliten in Deutschland sind Herkunftseliten. Leute mit dem richtigen Stallgeruch, die vorgezogen werden, warum auch immer". Der Elitenforscher Michael Hartmann von der TU Darmstadt, einer der übrig gebliebenen marxistischen Wissenschaftler, forscht genau hierzu und kommt zu demselben Ergebnis. Das Irritierende ist dabei jedoch: Während Hartmann im Elfenbeinturm sitzt, verkehrt Sprenger auf der Teppichetage der deutschen Industrie. Vielleicht klingen seine Worte deshalb so unglaublich wie glaubwürdig.
Denn Sprenger kennt die Vorstandsvorsitzenden, neudeutsch "CEO", die Verschmelzung von Popkultur und Wirtschaft. "Ein Unternehmen, das ist nur noch der CEO. Der Rest zählt nicht mehr. " Ein großer Apparat an Inszenierung, sichtbar ist nur noch der Vorstand - doch die ganze Vielfalt der Menschen darunter sieht man nicht mehr.
Kein Wunder, dass es da mit dem Vertrauen der Menschen in Unternehmen nicht so weit her ist. Denn für Sprenger gibt es auch kein DAX-Unternehmen, das mehrheitlich vertrauensbasiert geführt wird. Dabei ist Vertrauen die Grundvoraussetzung gelingenden Managements, so Sprenger. Es gelte auch, die Fremdheit, die Andersartigkeit auszuhalten. Doch die Machtfrage ist stets präsent: "In dem Moment, wo ich was von Ihnen will, wird Anderssein zum Risiko."
Vielleicht wird es Zeit, dass unsere Manager erwachsen werden und ein Leben leben. Für Reinhard Sprenger ist diese Aufgabe zu schaffen, wenn er sagt: "Jeder Mensch ist immer und überall fremd - das auszuhalten, nenne ich erwachsenes Leben." (ar)

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[17:00 bis 18:00] Joana Breidenbach & Ina Zukrigl-Schief
Ethnologinnen und Autorinnen. Gemeinsam veröffentlichten sie u.a. Tanz der Kulturen, wissenschaftliche Studien und Kolumnen zur kulturellen Globalisierung in brand eins. Ihrer Meinung nach führt Globalisierung nicht unbedingt zur weltweiten Einebnung, sondern stärkt lokale Kulturen.

Jeder ist global.
Warum ist MacDonalds bei Chinesen so beliebt? Nicht so sehr wegen der schlappen Buletten, sondern weil es dort die saubersten Toiletten gibt. Warum bevölkern Heerscharen von Jugendlichen die Fast-Food-Ketten in Singapur? Nicht nur wegen der Fritten, sondern eher wegen der häuslichen Enge. An den Tischen von MacDonalds finden Schüler einfach mehr Platz um ihre Hausaufgaben zu machen. Kultur wird weltweit importiert und exportiert, aber die Menschen vor Ort eignen sich diese globale Ware auf ihre ganz spezielle Art an.
Joana Breidenbach und Ina Zukrigl-Schief lassen die Kulturen tanzen - locker hinweg über die Gleichschaltungsängste der Globalisierungsgegner und die Statistiken der Globalisierungsexperten. "Es lohnt sich, genauer hinzusehen", sagen die beiden Ethnologinnen. "Zahlen sagen nichts, man muss sich die Menschen anschauen."
Von außen betrachtet sehen die Discotheken in Kalkutta oder New York gleich aus. Aber der Club in Kalkutta öffnet schon um vier Uhr und schließt um zehn, weil kaum jemand später auf der Straße unterwegs ist. Der DJ in Kalkutta spielt auch keinen Hip-Hop, sondern Bollywood-Musik. Und kaum einer der Besucher trinkt Alkohol.
Kultur ist nicht die vordergründige Kulisse von Zeichen und Codes, sondern das Leben, das die Menschen ihr einhauchen. Auch Globalisierung ist nicht die tolle Idee der westlichen Zivilisation respektive ihrer Wirtschaftsbosse. Viel älter ist zum Beispiel die chinesische Globalisierung - Millionen von Chinesen, die seit Jahrzehnten, ja Jahrhunderten, in aller Welt zerstreut ihre familiären Netzwerke pflegen und ihre eigenen Medien unterhalten. Globalisierung ist gleich kulturelle Gleichmache? Von dieser schlichten Gleichung halten die beiden weit gereisten Wissenschaftlerinnen nichts. Erstens wurden vielfältige Ethnien schon immer von zentralistischen Machthabern platt gemacht - die Idee des Nationalstaats etwa fußt auf diesem Vereinheitlichungsprozess. Und zweitens werden sich Menschen in aller Welt ihrer Kultur stärker bewusst als jemals zuvor. In der Ausdifferenzierung von Nischen liegt heute großes wirtschaftliches Potenzial. Dank World Wide Web muss keine dieser kulturellen Nischen ein Schattendasein fristen. Australische Ureinwohner verschicken ihre Malereien als Druckvorlage zu Stoffdesignern in Mailand. Jeder ist global - in aller Vielfalt. Man muss nur mehr darüber reden. (ge)

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[18:00 bis 19:00] Wolf Lotter
Der gebürtige Österreicher ist Mitbegründer und Redakteur des Wirtschaftsmagazins brand eins. Er ist Autor mehrerer Bücher und gilt als einer der führenden Publizisten auf dem Gebiet des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels.

Fremde Nachbarn.
Österreicher und Deutsche trennt nichts - außer der gemeinsamen Sprache, sagte Karl Kraus. Und Wolf Lotter buchstabiert den deutsch-österreichischen Kampf der Kulturen aus: Wenn sich ein Österreicher mit einem Deutschen verabredet, sitzt letzterer pünktlich im Café und wartet oft vergebens auf den Kollegen aus dem Nachbarland. Der Deutsche nimmt alles schrecklich ernst, der Österreicher geht schlampiger mit Verbindlichkeiten um. Bei Diskussionen greift der Österreicher seinen Gegner nach vermeintlichem Rückzug von der Flanke an, der Deutsche aber setzt volle Kraft voraus auf den Frontalangriff. Deutsche fühlen sich bei Entscheidung wohler, wenn sie dabei den Rückhalt einer Gruppe haben und führen den Plan dann auch generalstabsmäßig aus. Österreicher entscheiden lieber im stillen Kämmerlein und lassen ihre Pläne fallen, sobald sich neue Umstände ergeben. Aber wirklich fremd sind sich die beiden Nationalitäten nicht - außer, wie gesagt beim Deutsch sprechen.
Was den Wirtschaftsjournalisten Lotter mehr befremdet, ist des Deutschen fremdeln mit der Wirtschaft, frei nach dem Motto "Was ich arbeite, hat nichts mit meinem Leben zu tun." Zwei Drittel der deutschen Arbeitnehmer sind laut Gallup-Umfrage unzufrieden mit ihrem Job und empfinden ihn als lästigen Fremdkörper, den man sich so gut wie möglich vom Hals zu halten versucht. Genauso wie die ökonomischen Potenziale der Migranten. Die meisten von ihnen kommen leistungsbereit ins Land, werden aber schon bei der Einreise direkt in die Versorgungsecke geschickt. "Weil sie dort sozialpolitisch verwaltet und unter Kontrolle gehalten werden können", stellt Wolf Lotter fest. Und wo hat er sich selbst einmal besonders fremd gefühlt? "In meiner Heimat." Als der Wahl-Hamburger einmal in einem Dorf in Vorarlberg nach dem Weg gefragt hat, konnte er den Dialekt der Einheimischen beim besten Willen nicht verstehen. Die Verständigung hat dann aber doch noch geklappt - auf Englisch. (ge)

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[19:00 bis 20:00] Gayle Tufts
Autorin, Sängerin und Stand-up-Comedian. Seit 1991 lebt sie in Berlin und hat in dieser Zeit eine einzigartige Karriere gemacht. Von der Backupsängerin für Max Goldt bis hin zu eigenen Kolumnen und Shows in Tageszeitungen, Radio und Fernsehen. Erfand und pflegt "Dinglish" als neue Weltsprache, die jeder verstehen kann.

Eine Liebeserklärung.
Die blutroten Lippen dehnen sich zu einem Lächeln, der Mund öffnet sich zu einem herzhaften Lachen. Gayle Tufts kann sich nicht mehr halten. Die Deutschen sind verkniffen? Humorfrei? Ewig ernsthaft? "Jetzt sind sie aber typisch deutsch". Die Amerikanerin schüttelt sich, immer wieder versperren ihr die dunkeln Ponyhaare kurz die Sicht, amüsiert umtänzelt ihr Blick den Interviewer. Bitte, Herr Gleich. Die Deutschen sind in Gayle Tufts lebensberstender, wortmächtiger Schilderung ein Volk lustiger Genießer saisonaler Köstlichkeiten (Spargel, Federweißer ...), offen für Spaß und Lust und Heiterkeit. Republik, Du schönes Wellnessland, Paradies für freies Rauchen, freies Trinken, freie Fahrt und gerne entblätterte Körper.
Gayle Tufts zuzuhören, ist wie eine Anleitung zum Selber-lieben. Wie immer, wenn der Blick des Fremden das Eigene irritierend zurückspiegelt, ist die Begegnung eine Entdeckungsfahrt. Erstaunlich, dass die Amerikaner Deutschland als Land der Freiheit erleben. Rührend die fast kindliche Freude an ein bisschen beiläufiger Nacktheit auf den Wiesen der deutschen Parklandschaft. Als die amerikanische Schauspielerin und Komödiantin Mitte der Achtzigerjahre nach Berlin kam, blieb ihr die Sprache weg. Wie ist es, ein Land zu entdecken, ohne Deutsch zu können? "Ich hatte das Gefühl die Menschen seien sehr, sehr tief." Geheimnisse, die durch Sprachlosigkeit entstehen. Durch Mangel an Verständigungsmöglichkeiten. Gayle Tufts, Tochter einer Supermarktkassiererin und eines Barkeepers stürzte, sich rein mit ganzer Kraft. Und entdeckte, dass das Tiefe manchmal flach sein kann. Dass Freiheit eine mentale Kehrseite haben kann, die "Krautcontrol", den Perfektions- und Sicherheitswahn der Menschen namens Deutsche.
Es war zu einer Zeit, als sich das Deutschlandbild der Amerikaner noch aus Wochenschau und Billy Wilder-Filmen, aus John le Carré, aus grau, grau, grau zusammensetzte. Die Zeiten sind vorbei. "Germany ist very hip. Die Twentysomethings in New York raunen, Prenzlauer Berg, Prenzlauer Berg." Ruft sie. Lacht, lacht, lacht. Gayle Tufts ist wie ein ICE 3 ohne Speedcontrol. Atemlos galoppiert sie durch den Wald ihrer eigenen Assoziationen, kaum einer kann sich ihr entziehen. Ihren warmen Schilderungen vom neuen, bunten Deutschland in den Augen der Amerikanern, einem Puzzle aus Prenzlberg, Love Parade, Weltmeisterschaft und dem lieben Knut. Jetzt heißt es: "Wir sind süß."
Dabei ist Tufts keine oberflächliche Blödeltante, sondern Eine, die genau hinschaut. Auf die unterschiedlichen Lesarten, die kulturelle Differenz eröffnen kann. Wie in der Rezeption vom Film "Das Leben der anderen", der Stasi-Abrechnung, die die Amerikaner zur Allegorie für den drohenden Überwachungsstaat unter Busch und seinem Patriot Act umdeuteten. Und so ist es kein Zufall, dass sie verspielt und klug in die Schatzkiste der kulturellen Wahrnehmungen greift, um den Blick zu erweitern: Dinglisch, ein Mix aus Englisch und Deutsch. Doppelgänger, Schadenfreude, Motherfucker, fabulous - alternativlos.
Nach der Dreiviertelstunde lehnt man sich wohlig ermattet zurück. Und irgendwie ist es auch ganz schön, mal nicht als ernsthaft, seriös, effizient und pünktlich wahrgenommen zu werden. Da ist hübsch, nett und zur Not auch süß doch mal was anderes. (ad)

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[20:00 bis 21:00] Julian Nida-Rümelin
Entstammt einer Münchner Künstlerfamilie. Studierte Philosophie, Physik, Mathematik und Politikwissenschaft und habilitierte 1989 in München. Nach Professuren an amerikanischen und deutschen Universitäten war er 1998 bis 2000 Kulturreferent Münchens und daraufhin Kulturstaatsminister in der Regierung Schröder.

Wechselseitiger Veränderungsdruck.
Selten ist ein Gegensatz größer als dieser: Die atem-raubende Komödiantin räumt den Platz. Die sprühend aus dem Leben erzählt. Der überlegte Intellektuelle betritt die Bühne. Der leise, gestochen klar sein Denkgebäude aufbaut. Die Debatte weiterdreht. Er erinnert an die Stoa, an den neuen Humanismus, einer Zäsur in der Menschheitsgeschichte: Der Erkenntnis, dass der Mensch als Mensch eine Dignitas hat - nicht nur als Träger einer Funktion, als Senator oder Pater Familias etwa. Die Ideen des neuen Humanismus: Jeder Mensch hat Respekt verdient. Jeder Mensch muss sein Leben selbst verantworten, muss Autor seines Lebens sein. Der Sozialstaat hat sicherzustellen, dass der Mensch auch in Krisensituationen Kontrolle über ihr Leben behält.
Wie verhält sich der Humanismus zu kulturellen Differenzen? Was ist fremd? Wie kann ich eine andere Kultur kritisieren, wenn ich nicht bei dem radikalen Standpunkt stehen bleiben möchte, dass jede Kultur ihre prinzipiell gleichwertigen Werte hat, die nicht zu beurteilen seien?
Julian Nida-Rümelin ist keiner, der ein Problem damit hat, sich einzumischen. Nicht zufällig war er Staatsminister für Kultur unter Schröder. Doch er weiß, dass nur Kritik, die von innen wächst, eine Chance hat. Der Anstoß für Kritik kann von außen kommen, das ist legitim. Zum Beispiel an der kulturell etablierten Beschneidung in manchen Staaten der Dritten Welt. Doch: "Kritik, die lediglich von außen kommt, hat keine Chance Gehör zu finden. Aber wer im Inneren die Frage anregt, wieso eigentlich machen wir das, kann etwas in Gang setzen."
Kulturelle Differenzen sind Nida-Rümelins Terrain. Wenn er von den unterschiedlichen Strategien zur Bewältigung von heterogen zusammengesetzten Bevölkerungen spricht, bringt er die ganze Macht seiner Erfahrung ein. Erfahrungen aus München, wo die 25 Prozent Ausländeranteil dank einer gegen Segregation und für Durchmischung und Kooperation ausgerichteten Stadtentwicklungspolitik nur wenig zu spüren sind. Erfahrungen aus Berlin, wo die 13 Prozent Ausländeranteil hingegen stets Diskussionsthema sind - weil sich seit Jahrzehnten ethnisch homogene Viertel gebildet haben. Nida-Rümelins Forderung leuchtet ein: Wir brauchen einen "overlapping consensus", einen wechselseitigen Veränderungsdruck von Einwanderungs- und Inlandskultur. Eine neue Erkenntnis ist das nicht. Schon lange schallt diese Forderung durch die Republik. Geschehen freilich ist wenig. Das zeigen etwa die beschämenden Demonstrationen gegen Moscheebauten in München oder Hamburg. Und so wird klar, dass für das multikulturelle Miteinander - was nie ein Nebeneinander sein kann - gilt, was auch für die Globaliserung zutrifft: Es kommt darauf an, was wir daraus machen. (ad)

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[21:00 bis 22:00] Pepe Danquart
Der Oscar-Preisträger (für den Kurzfilm Schwarzfahrer) liebt die Extreme. Das spiegeln die Themen seiner Filme wider: Sportler am Limit, eine indische Banditin, Freeclimber beim Rekordversuch, körperliche Höchstleistungen ganz normaler Arbeiter. Ihn reizen Projekte, die auch scheitern können.

Nähe braucht Zeit.
Bergeweise Tierkadaver, abgeschlagene Köpfe, blutüberströmte Menschen, derbe Sprüche - ein Ausschnitt aus Danquarts Film Working Mens Death, der die Arbeit in einem Schlachthof in Nigeria dokumentiert. Wer würde freiwillig in diese Szenerie des Grauens eintauchen, in diese fremde, unvertraute Welt, von der sich die meisten Menschen angeekelt abwenden. Wie schaffen der Regisseur und sein Team diesen Sprung vom Gruseln vor dem Fremden in das hautnahe und bewusste Hinschauen? "Es ist der genaue Blick auf den Akt des Tötens, auf eine Arbeit, die das ganze Land ernährt", sagt der Dokumentarfilmer. Wer das Fremde vorbehaltlos auf sich zukommen lässt und sich mit ihm auf Du und Du vertraut macht, muss bereit sein, Sicherheiten aufzugeben. Das Unbekannte reizt und macht Angst zugleich. Bei Danquard ist die Neugier stärker als die Angst. Was er am meisten fürchtet, ist seine Neugier zu verlieren. Deshalb gibt es Filme wie Am Limit: Zwei Extremkletterer versuchen sich am beinahe Unmöglichen und verlieren dabei fast ihr Leben. Bei den Dreharbeiten hängen Danquard und sein Team mit in der Wand. Alle teilen sich die Gefahr, gehen gemeinsam bis zum Limit - und darüber hinaus. Wenn dieser Schritt auf unbekanntes Terrain gelingt, ist das ein unbeschreiblicher Höhenflug. Aber es kann auch schief gehen. "Im Scheitern liegt viel eher die Größe zum Wachsen als in der Hybris des Erfolgs", sagt der Regisseur und zitiert Samuel Backett: Versuche, scheitere, versuche noch mal scheitere besser. Wer sich mit der unbekannte Erfahrung, der Unmachbarkeit, dem Fremden vertraut machen will, muss sich Zeit dafür nehmen. (ge)

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[22:00 bis 23:00] Culcha Candela
"Culcha" steht im englischen Slang für Kultur, "candela" ist der spanische Ausdruck für eine heiße Mischung der Stile und Nationalitäten. Die acht Bandmitglieder kommen aus Korea, Kolumbien, Uganda, Polen und Deutschland, singen auf deutsch, spanisch, englisch, mischen Elemente aus Reggae, Hiphop und Rap.

Multimusikalische Kultur.
Was kommt heraus, wenn sieben Musiker aus fünf Nationen eine Band gründen? Nicht Hiphop, nicht Reggae, nicht Salsa, sondern Culcha-Sound. Bei Culcha Candela gibt jedes Bandmitglied sein landestypisches Gewürz in die Song-Suppe: Karibische Rhythmen vom kolumbianischen Trommler Larsito. Reggae-Gesang von Ree-doo, dem einzigen Deutschen. Itchyban, der Pole, steuert eine Prise Rap bei. Jonny Strange eine ugandische Rap-Interpretation. Lafrotino und Don Cali runden mit Salsa ab. Und DJ Chino aus Korea ist für die Cuts und Scratches zuständig. Damit kreieren alle zusammen einen unvergleichbaren Stilmix und drücken der Musikszene einen höchst eigenwilligen Stempel auf. Manchmal zu eigenwillig für viele Mainstream-Scheuklappenträger in der Musikindustrie und den Medien, meint Ree-doo. "Deutschland ist noch nicht bereit für unsere Musik." Vielleicht fehlt aber auch in diesem Fall einfach wieder nur die Neugier auf das Fremde.
Was eint eine Band, die aus unterschiedlichsten Kulturen, Musikrichtungen und Charakteren zusammengewürfelt ist? Das Ziel, die gleiche Musik zu machen und die gleichen Grundwerte. "Wir sind pazifistisch, antisexistisch und wollen positive Botschaften ins Publikum transportieren", sagt Itchyban. Und zwar in drei Sprachen. Diese musikalische Vollversammlung der Vereinten Nationen singt, trommelt und scracht, damit mehr Leute auf der Welt ihren Kopf benutzen und ihren Hintern bewegen. Die gegenseitigen Beschimpfungs-Tiraden des Battle-Rap sind ihnen zuwider. Culcha Candela zählt sich zum anderen Lager des Sprechgesangs, die Musiker machen keinen Kampf- sondern Bewusstseins-Rap, oder besser gesagt "Culcha Sound". Ohne geteilte Werte würde diese Band nicht existieren. Sieben Jungs aus fünf Nationen, die ein Drittel des Jahres gemeinsam im engen Tourbus verbringen - das geht nur gut, wenn man sich gegenseitig respektiert und toleriert. "Was bei uns im Kleinen funktioniert, kann auch im Großen gelingen", meint Jonny Strange. Sind Culcha Candela die "Vorzeigeausländer" der Nation? Gelächter auf dem Podium. Alle Sieben haben tiefe Wurzeln in der deutschen Kultur, sind in Deutschland geboren oder aufgewachsen, haben deutsche Väter oder Mütter. Vorzeigeausländer? "Nein, wir sind Vorzeigedeutsche." (ge)

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[23:00 bis 24:00] Bruno Baumann
Forschungsreisender, Autor und Filmemacher aus München. Durchquerte zu Fuß die größten Sandwüsten der Welt, fuhr als erster durch den Sutley-Canyon in Tibet und entdeckte die versunkene Kultur des Königreichs Shang Shung. Baumann lebt die Hälfte des Jahres in Asien. Seine Bücher und Filme sind Bestseller.

Extreme Pfade.
Wer einmal am Rande der Wüste gestanden hat, die warme Wüstenluft gerochen, die sanfte Weite sich auffaltender Dünen mit dem Auge vermessen, den heißen Sand unter seinen Füßen nachgeben gefühlt hat, die flirrende Sonne im Anlitz, der hat keine Mühe Bruno Baumann zu folgen. "Es hat mich interessiert, wie es sich anfühlt, alleine die Wüste zu durchwandern." Nichts als Sand und Sonne und irgendwo - vielleicht - eine Oase. Wieso eigentlich? Was interessiert einen Mann aus Süddeutschland an einer Welt, in der fast nichts mehr gedeiht? "Die Natur habe ich immer als Lernort erlebt", sagt Baumann. "Als Bereich, in dem ich erleben kann, was in der Komfortzone meines Alltagslebens nicht erfahrbar ist." In das "eigene Portfolio hineinschauen, erkennen, wo die eigenen Möglichkeiten liegen." Und sich vorbreiten auf den fiktiven Ernstfall, mit dem der moderne Mensch gewöhnlich nicht gut zurecht kommt: Tod, Krankheit, Verlust. Trotzdem. Reicht das, um sich allein durch die Wüste Gobi zu quälen? Zum Wasserloch zu kriechen auf allen Vieren, um der Welt doch noch das schon verloren geglaubte Leben abzutrotzen? "Ja, denn nur durch eine Herausforderung, die so groß ist, dass Lernen unabdingbar wird."
Es ist immer wieder faszinierend, wenn Menschen, die auf extremen Pfaden unterwegs sind, zu erklären versuchen, wieso sie das tun. Immer bleibt ein Zauber, aber auch ein Rest an Unverständnis, was sie auf den extremen Weg treibt. Baumann ist ein nüchterner Erzähler und ein bescheidener Erklärer. Einer, der sich selbst manchmal fragen mag, was ihn bewegt, immer wieder solche Risiken einzugehen. Diese Offenheit macht ihn sympathisch. Macht ihn zu einem Suchenden - nach sich, nach dem Fremden in sich und in anderen. Da scheint es skurril, dass der Forschungsreisende irgendwann aus seiner Leidenschaft ein Geschäft machte - auf Nachfrage einer Gruppe interessierter Manager schleifte er sie mit in die Wüste. Teambildungstraining der anderen Art. Eine Karawane, soundsoviel Liter Wasser und 1.000 Kilometer Wüste. Wie kommen wir durch? Verbissen machten sich die Manager an die Arbeit. Gaben nicht auf. Lauschten auf kleinste Zeichen. Vorschlag von Michael Gleich: "Vielleicht sollten wir unsere Manager öfters in die Wüste schicken." (ad)

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[00:00 bis 01:00] André Sarrasani
Deutschlands jüngster Zirkuschef. Als Magier hat er sich international große Anerkennung erworben. Er setzt die Tradition des Dresdner Sarrasani-Zirkus fort, der seit über 100 Jahren durch die ganze Welt tourt. Eigenwillig und anders. Aufsehen erregte er jüngst mit einer Kombination aus Dinner-Show und Artistik.

Alltag im Nationalitätengemisch.
Die Rolltreppen im Hauptbahnhof sind leer geworden. Ein Mann vom Reinigungstrupp wischt nachdrücklich den Gummigriff der Rolltreppen entlang. Null Uhr. Halbzeit. Zwölf Kerzen brennen auf dem Nusskuchen. Glückwunsch. Andrée Sarrasani sieht gar nicht müde aus. Der Alltag in der Zirkuswelt scheint auf Nachschichten gut vorzubereiten. Was heißt Zirkus? Das Klischeebild vom Zirkusdirektor, sagt der jüngste Zirkusdirektor Deutschlands, dieses Bild von dem dicken Mann in Frack, Zylinder, mit Schnauzbart unter der Nase, das stimmt heute ebenso wenig mehr wie Zirkus einfach Zirkus ist. Eventagentur, Veranstaltungserfinder, Entertainer - das ist die Zukunft des Gewerbes jenseits von Pferdchen rechts rum, Pferdchen links rum. Sagt Sarrasani. Entscheidend: "Wir müssen Zirkus wieder hip machen."
Denn Zirkus ist eine tolle Sache. Ein Gemisch dutzender Nationalitäten, von Tieren, Aufregung, Abenteuer. Sarrasani hat es geliebt in seiner Kindheit. Doch ebenso hat er die Zeit im Internat geschätzt, in der der die andere Seite kennen lernte: Den Blickwinkel der sesshaften Welt, das solide Leben. Realschulabschluss, Schlosserlehre. Aber es zog ihn zurück in die Welt der Magie, als Illusionskünstler. Derzeit tüftelt er an einer Zaubernummer mit Raubtieren. Ein Raubtier in einen Menschen verwandeln und zurück. Geht das? Unbemerkt? "Ich arbeite daran", sagt der Mann, dem zwei Tiger gehören, die er selbst aufzog, mit der Flasche. Und wie funktioniert das Gemisch der Kulturen in der Zirkuswelt? Konflikte, Reibereien? Das geht nur mit Disziplin und Pünktlichkeit, mit dem gleichen Respekt vor dem Stalljungen wie vor dem Starkünstler. Das Schöne ist: "Jede Nation bringt eigene Feste mit. Deshalb feiern wir praktisch alle zwei Tage." Zuckrige Idylle? Unsinn, sagt Sarrasani. So ist das einfach im Zirkus. Da lernt man Toleranz. (ad)

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[01:00 bis 02:00] Jochen Sandig
Kulturmanager und Netzwerker. Er gründete das Kunsthaus Tacheles, dessen Leiter er bis 1994 war. Mit seiner Lebenspartnerin, der Choreographin Sasha Waltz, gründete er die Tanzcompagnie Sasha Waltz & Guests. Gemeinsam mit dem Musikmanager Folkert Uhde ist Jochen Sandig Geschäftsführer und Künstlerischer Leiter des Radialsystem V, das im September 2006 eröffnet wurde.

Schwellen zur Kunst abbauen.
Es ist ein Uhr morgens. Im Studio kehrt langsam angestrengte Ruhe ein. Jochen Sandig ist hellwach. Seine Augen funkeln, wenn er über das Radialsystem V erzählt. Ein neuer Veranstaltungsort mitten in Berlin. In einer Stadt, die notorisch pleite ist, errichten sich Künstler ihre eigene Bühne und erobern sich öffentliche Räume zurück. In diesem Fall ein altes Abwasserwerk von 1880. Sandigs Vision ist luzide: "Das Radialsystem V möchte Grenzen zwischen Künstler und Zuschauer durchlässig machen, Allianzen zwischen Sub- und Hochkultur bilden und den modernen Tanz mit alter Musik zusammenbringen."
Es ist ein offenes System, das jedes Mal ganz neu bespielt wird. "Nur wenn Leere herrscht - zum Beispiel ein leerer Raum vorhanden ist-, kann sich etwas spontan entwickeln. Wenn hingegen alles gesetzt ('möbliert') ist, liegt zu viel fest." Sandig hat keine Angst vor der Unübersichtlichkeit, dem Unscharfen und Undurchdringlichen. Für ihn sind sie die Luft zum Atmen.
Sandig kam aus der baden-württembergischen Provinz Anfang der 90er Jahre nach Berlin. Seine Selbstentfaltungslinie ist ohne Brüche: Begründer des Tacheles, dann zusammen mit Sasha Waltz in den Sophiensälen und in der Schaubühne. Jetzt das Radialsystem V am Ufer der Spree. Auch ein Ort der Vernetzung? "Klar", sagt Sandig, "der alte, imagegemäße Pseudoindividualismus in der Kunstszene weicht der Erkenntnis, dass das Neue von Mischungen lebt, von künstlerischen Grenzgängern, von Hybridisierung und Kreolisierung".
Sandig ist ein Grenzgänger, der das Fremde sucht. Das Vorhersehbare, das Erwartbare langweilt ihn. Deshalb hat er im August die Akteure der Zentralen Intelligenz Agentur eingeladen, drei Tage lang jeweils von 21 Uhr bis 5 Uhr morgens zu wohnen, zu arbeiten und zu diskutieren, wie das wilde, ungezähmte Arbeitsleben von morgen aussehen wird. Nine to five - anders gedacht.
Ein elitäres Kunstverständnis ist ihm ebenfalls fremd. Ein weiteres Ziel: Alltagskultur mit den hohen Künsten vermischen. Den Normalbürgern die Schwellenangst vor der hehren Kunst zu nehmen. Sandig hat das Problem erkannt. Die Angebote des Radialsystems sind deshalb niedrigschwellig. "Es gibt Tage, in denen ganze Familien kommen und Kunst schnuppern können."
Mit Sasha Waltz, der innovativsten Tanzchoreografin Deutschlands, ist Sandig privat liiert. Zwei Kinder, ein Familienleben, ein Künstlerleben. Kreative Spannung zwischen Ordnung, Zeitplan, Kontrolle und Chaos, Zeitverschwendung und Experimenten. "Ja, anstrengend, ungewöhnlich, aber auch voller Kraft und Liebe."
Jochen Sandig bleibt nach dem Interview noch sitzen. Lehnt sich zurück und genießt das Unfertige, das Ungewollte und Unbedarfte des Interview Marathons. Ein starker Auftritt! (ge)

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[02:00 bis 03:00] Holm Friebe
Geschäftsführer der Zentralen Intelligenz-Agentur in Berlin. Für seinen Weblog "riesenmaschine" erhielt er den Grimme Online Award 2006. Sein Bestseller Wir nennen es Arbeit beschäftigt sich mit Lebensunternehmern, Jobnomaden und Mikrounternehmern, die für eine neue Arbeitswelt stehen.

Fremde neue Arbeitswelt.
Die digitale Bohème ist auf dem Vormarsch - ihre Geschäftsräume sind virtuell und der Job dient vorrangig der Selbstverwirklichung. Immer mehr Menschen lassen die herkömmliche Arbeitskultur hinter sich und basteln sich ein Erwerbsleben, das dem braven Angestellten des Industriezeitalters so fremd vorkommen muss, wie ein entfernter Stern. "In den vergangenen zwanzig Jahren haben sich die Werte innerhalb der Gesellschaft in Richtung Individualität und Selbstverwirklichung verschoben", meint Holm Friebe. Die Krux ist allerdings, dass die Wirtschaft diesen Anspruch nicht einlöst. Zum Glück gibt es heute Technologien, mit denen man leicht an den Türstehern der alten Arbeitskultur vorbeikommen kann. Man braucht sein Expertentum einfach nur ins Netz zu stellen und darf darauf hoffen, dass es an dieser Verwertungsschnittstelle irgendwann auf Interessenten trifft. Befremdlich nur, dass der Verdienst bei dieser Art von Tätigkeit nicht halb so wichtig ist, wie Respekt und Anerkennung durch eine Community. "Wenn man allerdings eine Zeitlang in der neuen Kultur arbeitet, will man nicht mehr in die alte zurück", weiß Friebe. Das Problem ist allerdings, dass die Rahmenbedingungen wie Sozialsystem oder Besteuerung immer noch auf das Angestelltendasein zugeschnitten sind. Maßgeschneidert. Die Politik ignoriert die neue Arbeitskultur, und die Mehrheit der Bevölkerung kann noch nicht viel damit anfangen. Das zu tun, was man am liebsten tut, ist ein Gedanke, der in krassem Gegensatz zur protestantischen Ethik steht. Und die sitzt noch allzu vielen Menschen tief in den Knochen. Die fremde Welt der Lustarbeiter macht ihnen Angst - lieber auf der sicheren Seite bleiben, auch wenn der Job dort nur Frust bereitet. "Aber hat in Wirklichkeit nicht der Siemens-Ingenieur den prekären Arbeitsplatz?" Fragt Friebe. Es gibt Alternativen zur alten Arbeitskultur - man muss sich nur trauen. (ge)

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[03:00 bis 04:00] Michael Hoffmann
Spitzenkoch und Inhaber des Margaux in Berlin. Er gilt als einer der ambitioniertesten Köche Deutschlands. Im Hamburger Hotel Vier Jahreszeiten entwickelt er seine Cuisine Avantgarde Classique, eine Küche klassischen Ursprungs, die ihm einen Michelin Stern beschert hat.

Experimentieren. Vergleichen. Suchen.
Ja. Schon. Es kann mal vorkommen, dass man Michael Hoffmann beim Neuland-Würstchenstand am Brandenburger Tor erwischt. Aber das ist die Ausnahme. Michael Hoffmann kommt gerade von der Schicht. Aus den rot-goldenen Hallen neben der französischen Botschaft. Hoffmann ist Spitzenkoch. Tag für Tag rührt er leichte Sößchen und lockere Cremes, richtet feines Gemüse, brät saftiges Fleisch. Nur damals, in der Hochphase der BSE-Skandale, als er merkte, dass er sich in seiner Küche nicht mehr wohl fühlte, verbannte er Fleisch rigoros aus seiner Zubereitungsstube. Ein Jahr lang. Komischerweise hat kaum ein Gast das fehlende Grundelement moniert.
Kochen ist eine mulikulturelle Angelegenheit. Kein Mix, aber ein Experimentieren, Vergleichen, Suchen in unterschiedlichen Kulturen des Kochens. Für einen, der auf dem Land aufgewachsen ist, von Kindesbeinen an Kühe, Schweine, Hühner versorgt, Gemüse und Obst geerntet, Nahrungsmittel selbst hergestellt hat, war der Weg zum Koch nicht weit. In einem einfachen Restaurant eines Ortes ging er in die Lehre, sog gierig alles Wissen seines Chefs auf, der viel herumgekommen war, wie es sich als Koch gehört. "Koch ist ein Wanderberuf. Man muss viele Küchen, viele Essvorlieben kennen". Und so hoppte er von einem Job zum nächsten, in Schweizer Hotels, zu Stuben der bürgerlichen Küche, lernte drei Jahre lang im berühmen "Aubergine" von Witzigmann. Er aß sich durch die Speisen der Konkurrenz, ging Essen, um vom Anderen zu lernen. Längst hat er seinen Stil gefunden: Avantgarde classic, klassische Küche modern zubereitet, mit knackfrischen, saisonalen Produkten der Region. Schlangenfleisch und Heuschrecken? Das reizt ihn nicht.
Was braucht man, um den Juroren Sterne abzuzwingen? Wenn er das wüsste. Nur soviel: Ohne stimmiges Konzept geht es nicht. Und was sagt der Trend auf dem globalen Kochmarkt? "Die regionalen Kochkulturen werden gestärkt. Auch an der Vielfalt kommen wir nicht vorbei: Überall ist alles zu haben - jede Küche egal aus welchem Erdteil, jedes Produkt." Das muss keine Bedrohung sein. Solange wir uns darüber nicht selbst verlieren. (ad)

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[04:00 bis 05:00] Ibrahim Syed
Germanist und Software-Unternehmer aus Kerala, Indien. Seine Magisterarbeit schrieb er über Elias Canettis "Masse und Macht", sein Geld verdient er heute mit "Off-Shoring": Seine 36 Mitarbeiter schreiben Software für deutsche Kunden.

Wanderer zwischen Welten.
In Kerala, dem südindischen Bundesstaat, hocken die Kollegen um diese Uhrzeit längst schon vor ihren Monitoren und tüfteln an Programmen. Kerala ist ein Palmenland. Dort lebt Ibrahim Syed, das ist seine Heimat. Doch Deutschland ist sein zweiter Herzensort. Immer wieder reist er hierher. Wegen der Kunden seiner Firma. Aber stärker noch "aus Liebe zur deutschen Sprache". Das Pendeln ist auch ein Wandern zwischen Welten. Kann man das Hirn umschalten, von einem kulturellen Kontext auf den anderen? In München liegen bei Sonnenschein zehntausende nackte Menschen an der Isar. In Kerala gehen Frauen nur im langen Sari ins Wasser, und auch nur bis zu den Knöcheln. "Die Kontraste schocken mich immer wieder," sagt Ibrahim. Jede Reise nach Deutschland wird zum Lerntraining in Sachen Toleranz. "Ich versuche, das Beste aus beiden Welten in mir zusammen zu führen." Etwa die indische Gelassenheit gegenüber Fehlern oder wenn einer der Mitarbeiter eine Woche lang nicht zur Arbeit erscheint, weil er seine Schwester verheiraten muss. Kombiniert mit deutscher Akuratesse, die im harten Software-Business von Vorteil ist.
Doch manchmal "zerreißen mich die Kontraste schier", sagt Ibrahim, dessen wortgewandtes Deutsch manchen Muttersprachler in den Schatten stellt. Deshalb kann er gut verstehen, dass die meisten seiner Kollegen eben nicht nach Green Cards für Deutschland Schlange stehen. Sie bleiben am liebsten in ihrer Heimat, sind Familienmenschen und fühlen sich im Schatten von Kokospalmen wohl. Deutschland ist ihnen zu kalt, die Sprache fremd, die Berichte über Ausländerfeindlichkeit werden im Internet aufmerksam verfolgt. Fremdes Land. Deshalb gilt die Devise: Bleibe im Lande und verbinde dich per Satellitenleitung mit dem Rest der Welt.
Ibrahim Syed repräsentiert den Typus eines global denkenden Inders, der Weltgewandheit und Heimattreue miteinander verbindet. Kerala ist ein guter Nährboden für diese Kombination. Das Bundesland hat die höchste Alphabetisierungsrate aller Entwicklungsländer. Das Gesundheitssystem gilt als hervorragend. Religiöse Toleranz verhindert, dass Christen, Buddhisten, Hindus und Muslime aufeinander einschlagen, wie es zyklisch in anderen Gegenden Indiens vorkommt. Ibrahims Familie verkörpert diese kulturelle Offenheit. Er, der Muslim, ist mit einer Hindu verheiratet, die aber auch gerne im Koran liest. Seine Tochter geht mal in den Tempel, mal in die Moschee. Sie hört auf einen Namen, der von weit her ins Palmenland kam: Monika. "Damit möchte ich meine Dankbarkeit gegenüber der deutschen Sprache ausdrücken," sagt Ibrahim, "sie ist der Schlüssel zur Kultur meiner zweiten Heimat." (ad)

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Der Berliner Hauptbahnhof in der Morgendämmerung. Drinnen geht der Marathon weiter.


 

[05:00 bis 06:00] Uli Reinhardt
Als Fotograf hat er auf allen Erdteilen gearbeitet, meist für den stern. Für das Magazin berichtete er über Dürren, Hungersnöte, Überschwemmungen, Bürgerkriege. Vor allem aber über die Betroffenen. Reportage heißt für ihn, sich in fremde Menschen und Kulturen einzufühlen und das Echte zu visualisieren.

Der respektvolle Blick.
Als Uli Reinhard vor zwei Jahren in das Erdbebengebiet nach Pakistan kam, wusste der Fotograf, dass er ohne Hilfe aufgeschmissen war. Eigentlich brauchen Menschen nach einer Katastrophe alles andere als einen Fotografen. Und wie soll man mit Leuten arbeiten, deren Sprache man noch nicht einmal ansatzweise spricht. "Ich musste ihr Vertrauen gewinnen - mit Gesten, mit Körperhaltung, mit Zurückhaltung", erzählt Reinhard. Wenn Menschen merken, dass sie respektiert werden, kann sich dieses Vertrauen aufbauen.
Das Problem unserer Medien ist aber, dass die Geschichten nicht schnell genug gemacht sein können. Doch Tempo verhindert Vertrauensbildung. Nur schnell ein wenig an der Oberfläche des Fremden zu kratzen, das reicht nicht, um jene Schichten zu erreichen, wo Verständnis anfängt: die Ebene der grundeigenen menschlichen Empfindungen. Und noch etwas öffnet das Tor zu dem Fremden - nicht nur als Fotograf: "Man soll demütig an seine Arbeit herangehen - mit Demut vor dem, was man nicht weiß." (ge)

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[06:00 bis 07:00] Arne Klempert & Delphine Ménard
Programmierer und Macher von Wikipedia. Der deutschsprachige Teil der Online-Enzyklopädie hat bereits über 575.000 Artikel. Wikipedia funktioniert als Plattform des freien Wissens. Eine Wissensdemokratie von unten, die international agiert und kulturelle Schranken zu überwinden hilft.

Neue alte Partizipationskultur.
Warum machen die Menschen das? Stundenlang Beiträge schreiben, recherchieren, überarbeiten, gegenchecken? Täglich 500 Mal allein in Deutschland. Honorarfrei. Arne Klempert lächelt fein. "Letztlich wissen wir das auch nicht. Außer dass wir die Rückmeldung bekommen, dass es den Leuten Spaß macht, dadurch ihr Wissen zu erweitern. Sich Anerkennung in der Gemeinschaft zu erarbeiten." Der Gemeinschaft von Wikipedia, dem interaktiven Online-Lexikon.
Arne Klempert und Delphine Ménard sind Programmierer und Macher von Wikipedia Deutschland. Entsteht hier eine neue Kultur sich mitteilen zu wollen? Entwickelt sich eine nie zuvor gekannte Lust an der Partizipation? Vielleicht hat der dutzendfache Hype ums Internet den Wikipedia-Chef vorsichtig gemacht. Er will hier keine weltweite Massenbewegung am Horizont erkennen, sondern weist bescheiden darauf hin, dass es sich nach wie vor um eine kleine Community handelt, die die berühmte Datenbank mit Wissen füttert. Umso sympathischer ist es, wenn er sich in einer kleinen Nebenbemerkung über Verlage und Journalisten freut: "Wikipedia? Nein, nutzen wir nicht, sagen die. Doch als das Gerücht ging, dass wir der Süddeutschen die Leserechte verweigern wollten, bekamen wir panische Anrufe. Das könnt ihr nicht machen. Natürlich war das ein falsches Gerücht."
Wikipedia ist eine weltweite Community. Doch sie ist in jedem Land anders. Getrennt durch Sprachbarrieren bosseln die Schreiber vor sich hin. Doch es ist mehr. Auch kulturelle Hindernisse, unterschiedliche Lesarten von Geschichte, unterschiedliche Sichtweisen auf die Welt spiegeln sich erstaunlich sichtbar in den nationalen Ausgaben wider. Michael Gleich hat ein fiktives Beispiel zur Hand: Wäre etwa Napoleon Alkoholiker gewesen, würde er in England als harter Säufer dargestellt, den schlimmsten Drogen verfallen, in Deutschland spräche man verständnisvoll vielleicht von phasenweise starkem Zuspruch zu leichten Rauschmitteln, in Frankreich hingegen genehmigte er sich zu Feierlichkeiten gerne mal ein Schlückchen. Es gibt Wikis in 251 Sprachen. Eine Fundgrube der Deutungsvielfalt.
Stehen wir nun an der Schwelle zu einer neuen Kultur der Partizipation? Vorsicht, sagt wieder Arne Klempert. Eigentlich ist die Idee des Teilens von Wissen und Können eine ebenso alte Geschichte wie die Lust am Exhibitionismus. Nur dass die Wege mit Web 2.0 und Communities à la Wikipedia vielfältiger geworden, Verbreitungsgrad und Sichtbarkeit explodiert sind. "Die Selbstdarstellung hat globale Dimension bekommen. Partizipation ist erweitert um Kollaboration." Oder winkt doch eine neue Dimension am Horizont, wenn nun auf der neuen Mediendatenbank von Wikipedia virtuelles Teilen real wird? Klingt nicht schlecht: Open-Source-Anleitungen vom Profi für Jedermann - zum Beispiel ein Rezept, nach dem sich jeder ein exzellentes Bier selbst brauen kann. Na bitte, Prost. (ad)

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[07:00 bis 08:00] Herfried Münkler
Mit seinen Büchern Die neuen Kriege und Imperien prägt der Politiktheoretiker Diskussionen in Deutschland. Er versteckt sich nicht hinter wissenschaftlichem Jargon, sondern erreicht mit Erzählkunst viele Köpfe - in akademischen Kreisen ein seltenes Talent.

Ent-fremdet euch!
Er ist zuhause in einer Welt, die von der Mehrheit der Bürger als fremd und kryptisch empfunden wird - der Welt der Wissenschaft. Warum erreicht das, was in den luftigen Höhen akademischer Elfenbeintürme gedacht und debattiert wird, so selten den Boden der gesellschaftlichen Realität? Elitedenken? Bequemlichkeit? Ignoranz? Manchmal ja, meistens aber nicht, meint Herfried Münkler. Die Welt der wissenschaftlichen Theorie braucht ihre formalen Sprach- und Denkmuster als praktisches Instrument - sie schaffen jene Distanz zwischen dem Betrachtungsgegenstand und der Person des Forschers, die Objektivität erst möglich macht. Es gibt aber einen weiteren Verfremdungseffekt, der wissenschaftliche Erkenntnis hervorbringen kann: Der hermetisch-grauen Theorie Leben einhauchen, indem man sie in spannende Geschichten kleidet. Und das tut Herfried Münkler in seinen Büchern und Vorlesungen mit nahezu sportlichem Ehrgeiz: "Erst wenn ich die Anzahl der Studenten, die während meiner Vorlesungen Pinkelpause machen, niedrig halten kann, bin ich mit meiner Arbeit zufrieden." Das Fremde vertraut machen und Menschen dort abholen, wo sie stehen - was der Politologe Münkler so virtuos beherrscht, will vielen Politikern so gar nicht gelingen. Was meint der Experte zu der politischen Entfremdung der Bürger? "Vermutlich sind die Erwartungen des Volkes an das, was Politik zu leisten hat, so lange und so erheblich überzogen worden, dass Enttäuschung nicht zu vermeiden ist." Damit ist die Verständigung zwischen "denen da oben" und "denen da unten" nachhaltig gestört. Soziale Probleme werden kulturell verbrämt, damit man den unbequemen Kern der Konflikte elegant umschiffen kann - bei den Jugendunruhen in Frankreich ebenso, wie bei der Migrationsdebatte in Deutschland. Hier wie dort wäre Klartext angesagt. Herfried Münkler: "Menschen müssen Perspektiven bekommen, um wirtschaftlich und kulturell teilzuhaben." (ge)

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[08:00 bis 09:00] Maria Simon & Bernd Michael Lade
Schauspieler. Simon schaffte ihren Durchbruch bei den Internationalen Filmfestspielen 2003 in Berlin, wo sie in Good bye, Lenin! die Schwester von Daniel Brühl spielte. Lade war Schlagzeuger in der ersten Punkband in der DDR. Heute ist er als Filmregisseur und Schauspieler erfolgreich.

Ostblick: Fröhliche Fremdheit.
Sie scheinen aus der Nacht zu kommen. Oder sie liegen sonst samstags um acht Uhr einfach noch in den Federn. Mit ihren vier Kindern. Welch unerträglich verlockende Vorstellung. Heute. Nach 19 Gesprächen beim Interviemarathon. Zäh wie durchgearbeitetes Kaugummi ackern sich Maria Simon und Michael Lade durch die Sätze.
Ein Schauspielerpaar und Erfolgsduett. Maria Simon, den jüngsten Nachwuchs um den Bauch geschnürt, spielte in Good Bye Lenin die Schwester von Daniel Brühl. Bernd Michael Lade, etwas zusammengesackt auf den Tisch gelehnt, schlug aufs Schlagzeug in der ersten Punkband der DDR. Arbeitete als Baufacharbeiter, kämpfte sich durch die NVA, schaffte es trotz Aufmüpfigkeit auf die renommierte Busch-Schauspielschule, nach der Wende dann zum Fernsehkommissar. 17 Jahre lang, Polizeiruf 110, Tatort.
Ein Tor, wer die beiden nicht in Schwung kommen lässt. Als Schauspieler sind sie es gewöhnt, in fremde Rolle zu schlüpfen. Fremd? "Nein", murmelt Lade. "Ich denke, Schauspieler machen sich etwas vor, wenn sie sagen, dass der aggressive Familienvater etwa, den sie gerade spielen, nichts mit ihnen zu tun hat. Jeder hat etwas Aggressives in sich. Es geht darum, eine Rolle nicht nur als etwas Fremdes zu sehen, sondern auch einen Teil in sich selbst zu erkennen. Finde ich."
Fremd war für Simon und Lade die Begegnung mit dem Westen. Wie anders war dieser Teil des Landes als der Osten, aus dem sie kommen. Der Osten, die Diktatur, die Gängeleien, die Überwachung. So hat Lade diesen Staat erlebt und zu hassen begonnen von Herzen. Zuallererst die Polizisten, diese DDR-Vopos. "Das was ein riesen Hass mit terroristischem Fundament in mir."
Wie rührend dagegen der fremde Westen und seine Bullen. Als er, der Nachwuchs-Ossi-Kommissar für den Tatort übungshalber zwei Wochen an der Polizeischule mitmachen durfte, blieb ihm nichts als Wundern. Er dachte: "Was regen sich die Wester so über ihre Bullen uff? Die werden hier zur Freundlichkeit erzogen, zerbrechen sich den Kopf über Bürgernähe und vorsichtigen Umgang mit Kriminellen. " Hey, was ist hier los? Du kommst aus dem Polizeistaat mit skeptischem Blick zu den Bullen des anderen Staates, und plötzlich triffst du so liberalen, demokratischen Westbullen. Eine Erfahrung, die erst aus dem Blick des Fremden möglich wird. Bernd Michael Lade hat sie freundlich überrascht. Und Lust gemacht auf 17 Jahre Bullenspiele. (ad)

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[09:00 bis 10:00] Seyran Ates
Rechtsanwältin, Menschenrechtlerin, Muslimin, Mutter, Tochter, Bisexuelle, Ausreißerin, Feministin, Feministenkritikerin, Berlinerin, Attentatsopfer, Autorin, Kopftuchgegnerin, Sozialdemokratin. Oder einfach: Seyran. Für ihr Engagement erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen.

Oszillierende Identität.
"Ich bin Deutschländerin." Wer so locker mit seiner kulturellen Identität spielt, hat sich wohl schon viele Gedanken darüber gemacht. Seyran Ates ist eine Wanderin zwischen den Welten. Ihre Kindheit hat sie auf der türkischen Seite ihrer Persönlichkeit verlebt - in einer Großfamilie, wo nur das "wir" zählte. Als Heranwachsende ist sie ausgebrochen, um ihre deutschen Wesenzüge zu entwickeln: Individualität und Selbstverwirklichung. Dann hat sie gespürt, dass sie ihre türkische Herkunft nicht ganz aufgeben will. Und heute oszilliert ihre Persönlichkeit irgendwo zwischen beiden Welten. "Das ist Transkulturalität", sagt die Anwältin. "Ich bin die individuelle Kombination meiner kulturellen Wurzeln."
Sie genießt es inzwischen, ihre kulturellen Identitäten wie einen Mantel zu wechseln. Anderen machen diese Grenzgänge Angst, vor allem dann, wenn ihnen eine der beiden Kulturen nicht vertraut ist. Das aber lässt sich ändern, ob im Kindergarten, in der Schule oder im Sprachkurs. Zerrissenheit bricht auf, wenn Vorurteile den klaren Blick vernebeln. Und wenn man die Augen vor den Negativ-Effekten der Wunsch-Identität verschließt. Seyran Ates etwa kann die Verbundenheit mit der Familie nicht ablegen, obwohl sie damit oft in Konflikt mit ihrer Freiheitsliebe kommt. Doch: "Erst wenn das Fremde in allen widersprüchlichen Facetten ausgehalten wird, kann Toleranz beginnen."
Der große Irrtum der "Multikulti-Fanatiker" ist, dass sie sich diesen Widersprüchen nicht konsequent genug stellen. Man fühlt sich tolerant, wenn Migranten gewährt wird, ihre Kultur so auszuleben wie sie immer war. Damit spricht man ihnen aber gleichzeitig ihre Wandlungsfähigkeit ab und stellt sie in die Ecke der unmündigen Opfer. "In diesem Land gibt es Prinzipien, die für alle Bürger gelten: Deutschkenntnisse, die Achtung des Rechtssystems und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung." Was geschieht, wenn die dahinter stehenden Werte wie Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit und Gleichberechtigung missachtet werden, hat die couragierte Anwältin und Frauenrechtlerin schmerzhaft zu spüren bekommen. Zweimal entging sie nur knapp einem Attentat, die Drohungen und Anfeindungen hören bis heute nicht auf: "Auch Türken sind fremdenfeindlich. Nicht wenige lachen euch Deutsche einfach aus: kein Rückgrat, keine Werte, kein Patriotismus - alles Weicheier!"
Auf beiden Seiten ist noch viel zu viel Angst, die hemmungslos instrumentalisiert wird - das ist das Trennende zwischen Türken und Deutschen. Aber das Verbindende aber ist auch präsent - und Seyran Ates ist seine Verkörperung: Wir können uns stark machen und gemeinsam gegen diese Ängste ankämpfen. (ge)

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[10:00 bis 11:00] Silvia Bovenschen
Literaturwissenschaftlerin, Autorin und Essayistin. Schrieb den Bestseller "Älter werden". Thematisiert darin ihre Erkrankung an Multipler Sklerose und ihren scheinbaren Verlust an Lebensqualität, die an anderen Stellen wieder gestärkt hervortritt. Jüngst war sie Trägerin des bedeutenden Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik.

Das Alter, ein unbekannter Kontinent.
Silvia Bovenschen fährt im Rollstuhl in die Austernbar. Modisch gekleidet, perfektes Make-up, strahlendes Lächeln - ihr Einzug hat etwas Triumphales. Im Gespräch mit Michael Gleich und Peter Felixberger zeigt sie sich widerspenstig. Sie weicht Fragen aus, stellt Gegenfragen, immer lächelnd. Nachher, als der Ton abgedreht ist, gesteht sie ihre Lust an der Provokation ein. Für sie hat das was Sportliches. Die beiden Interviewer nehmen die Herausforderung an. Lassen nicht locker mit Fragen nach der Position der Essayistin zum Altern, das sie selbst "ein fremdes Land" nennt.
Ein Tabu hat sie zum Thema gemacht, Alter und Krankheit. Und hat mit diesem Tabubruch Erfolg. Das Buch "Älter werden" war lange in den Bestseller-Listen. Wegen einer starken These? Nein, eher weil es in seinen Aphorismen und Gedankensplittern seltsam unscharf bleibt. "Frau Bovenschen, Sie haben diesen unbekannten Kontinent namens Alter erkundet - bringen Sie schlechte Nachrichten mit, müssen wir diesen Lebensabschnitt fürchten?" - "Nein, das habe ich nicht geschrieben. Das Alter hat auch seine Vorzüge. Eine große Gelassenheit zum Beispiel," sagt Bovenschen und strahlt diese Gelassenheit auch im Gespräch aus. "Dann ist altern also gar nicht so fürchterlich, wie man in Zeiten des Jugendwahns vermuten könnte?" - "Also, auf keinen Fall ist es angenehm. Der körperliche Verfall, die Einschränkungen - alles kein Spaß." Und so geht der sportliche Schlagabtausch über 45 Minuten. Ihre Haltung zum Älterwerden basiert nicht auf Eindeutigkeiten, erst recht möchte sie niemanden einen Rat geben, vielmehr wagt sie Gedankenexperimente.
Neue Generationen von Deutschen zählen jetzt oder demnächst zu den Alten - aber "die Alten" gibt es nicht, wie Silvia Bovenschen verkündet. Eine Vielfalt von Konzepten für den letzten Lebensabschnitt wird ausprobiert werden. Neue Netzwerke werden die Kernfamilie ersetzen, "da sind Wohngemeinschaften von Alten und Jungen erst der Anfang". Altern wird bunter, sagt Silvia Bovenschen, setzt sich wieder ihren Rollstuhl und rauscht aus der Austernbar. (ad, ge)

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[11:00 bis 12:00] Peter Prange
Hatte seinen Durchbruch als Romanautor mit Das Bernstein-Amulett. Es folgte die grandiose Trilogie: Die Principessa, Die Philosophin und Die Rebellin. Sein letztes Buch Werte. Von Plato bis Pop wurde von Angela Merkel bei ihrer Antrittsrede als EU-Ratspräsidentin in Straßburg ausführlich zitiert.

Geschafft!
Die beiden schwarzen Rücken mit dem Schriftzug Culture Counts Crew am Interviewtisch beugen sich gerundet nach vorn. 23 Stunden in den Knochen. Endspurt mit Peter Prange. Ein Romanschriftsteller, der sich auf die Spur nach Werten begeben hat. Kaum zu stoppen in seinen Gedanken über die Natur des Menschen, der unfertig auf die Welt kommt, aber voller Potential. Seine Aufgabe: "Werde, der du bist", wie Friedrich Nietzsche sagte. Und so steht der Mensch vor der Herausforderung, seine Idee davon, was er sein könnte, damit in Übereinstimmung zu bringen, was ist. Ein Weg, auf dem ohne Werte die Orientierung verloren geht.
Auf welche Werte kommt es an, Herr Prange? Freiheit, Gleichheit, Demokratie, das Übliche? Nein, das ist zu universell, um europäisch zu sein. Vielleicht hat Prange eine kleine Antwort gefunden: Den Fortschritt, aber immer gebunden an eine skeptische Grundhaltung. Das ist der Kern moderner Identität. Europa hat die Wirtschaft nie entlassen aus der Bindung an die Philosophie.
Wir sind als Menschen nicht fertig, daher müssen wir das Fremde in uns und das Fremde im Gegenüber immer wieder neu reflektieren, um uns selbst zu finden - und den anderen.
12 Uhr mittags. Die Augenringe rutschen bis zu den Knien. Die Stimmung springt adrenalingetränkt ins Hirn. Der 24-Stunden-Interviewmarathon ist geschafft. Applaus, Danke, Blumen.
Und? Herr Felixberger, was nun? Momente des Zweifels sind überstanden. Die hastig eingeworfene, ungewohnte Koffeinkeule vor Zirkuschef André Sarrasani, der folgende Schüttelfrost und Schwindelattacken sind überwunden. Nach dem Tief ging es bergauf. Jetzt rauscht das Gefühl durch Körper und Geist, das Gefühl es geschafft zu haben. Die Erinnerung an Gespräche, in denen Fremdheit schwer weichen wollte wie mit Good Bye Lenin-Schauspieler Maria Simon. Die Erinnerung an besondere Gespräche, jene, bei denen es gefunkt hat. Wie mit Oscar-Preisträger Pepe Danquart, der mitfühlte, mitlebte, mitwusste, auf gleicher Ebene, was Grenzen durchbrechen bedeuten kann. Und nun? Schlafen. Was sonst. Sagt Felixberger, packt Rose, Trolli und Jacke und eilt aus der Austernbar in den Berliner Tag.
Herr Gleich, was fremd für Sie? Das Gefühl der Angst und Panik, die Begegnung mit sich selbst. Mit der Angst zu gehen, die 24 Stunden lang in jeder Sekunde, mit dabei war. Und dann die Grenzen zu überwinden. Meine Sternstunde waren Culcha Candela, lustig, locker, cool. Kosmische Energie. Sagt Gleich und lehnt sich, müde, alle, aber sehr, sehr dankbar in seinem Stuhl zurück. (ad, ge)

 

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Anja Dilk (ad) und Gundula Englisch (ge) sind freie Redakteurinnen bei changeX, Alexander Ross (ar) ist freier Mitarbeiter bei changeX.

Fotos: Zeitenspiegel Reportagen - Paul Hahn, Kathrin Harms, Christoph Püschner und Eric Vazzoler.
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Anja Dilk ist Berliner Korrespondentin, Autorin und Redakteurin bei changeX.

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Gundula Englisch, Journalistin, Autorin und Filmemacherin, arbeitet als freie Autorin und Redakteurin für changeX.

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