Musik ist Gegenstand fast aller Wissenschaften, also ein Objekt interdisziplinärer Forschung und Betrachtung. Deshalb bin ich naturgemäß zum Grenzgänger geworden. Mich motivierte die Entstehung neuer Wissenschaftszweige und Methoden, sie auf die Erforschung und Vermittlung von Musik anzuwenden.
Wie die Kommunikationsforschung zeigt, hängen Wahrnehmungs- und Entscheidungsprozesse zu etwa 80 Prozent von emotionalen Faktoren ab, werden also von der Beziehungsebene geprägt. Nicht der Kopf, sondern das Herz und "der Bauch" steuern die Kommunikationsprozesse. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, Menschen auf dieser emotionalen Ebene anzusprechen und zu erreichen. Musik ist ein wichtiges Element für die menschliche Beziehungspflege, denn sie erreicht, sofern sie richtig gewählt wird, das Herz eines jeden Menschen. Jeder ist empfänglich für "seine" Musik, die zu ihm passt, auf die er gestimmt ist, die vielleicht sogar zu seiner Lebensmelodie geworden ist. Musik kann Menschen bewegen, erfreuen, zum Klingen und Schwingen bringen, Brücken bauen zwischen ihnen, verschlossene Herzen öffnen, aus seelischen Zwangslagen befreien. Sie tröstet Traurige und beflügelt Fröhliche. Wer sie hört und sich ihr hingibt, dem schmilzt das Eis ums Herz, bei dem taut Erstarrung, dessen müde gewordene Gefühle werden munter. Deshalb ist die Musik ein Modell menschlichen Managements. Ziel dieses menschlichen Managements ist die Verständigung und Beziehungspflege, die alle unsere Sinne mit einbezieht, sie sensibilisiert und weiterentwickelt. Durch persönliche Zuwendung zum Menschen wird Begegnung ermöglicht und Gemeinschaft gestiftet.
Jeder Mitarbeitende in einem Unternehmen sollte Träger menschlicher Wertvorstellungen werden. Eine so verstandene menschliche Unternehmenskommunikation und -kultur muss Gegenstand der Personalentwicklung sein: Sie zielt auf die ganzheitliche Entwicklung und Förderung der Kreativität und Kommunikationsfähigkeit, die Kopf, Herz und Hand miteinander verbindet. Im Idealfall wird das Unternehmen dann von den Mitarbeitenden nicht nur als Arbeitsort, sondern als Lebensort erfahren.
Musik kann auch deshalb als Modell menschlichen Leitens dienen, weil das Singen und Musizieren unser Hören, unser achtsames Lauschen, unser einfühlsames Hineinversetzen in andere Menschen systematisch zu trainieren vermag. "Nirgendwo kommen sich Menschen so nahe wie beim gemeinsamen Musizieren", formulierte der berühmte Dirigent Herbert Blomstedt. Musik ist Ausdruck des Beieinanderseins und miteinander Agierens. Die "weiche" subjektive emotionale Beziehungsebene ist viel wichtiger als die "harte" Sachebene mit ihren objektiven Fakten und digital messbaren Daten. Das Problem vieler Unternehmen liegt darin, dass die Manager und vor allem die Aktionäre nur die Zahlen sehen, die durch Controlling ermittelt werden, und dabei die Menschen vergessen.
Gerne greife ich auf das Beispiel Musik zurück: Der Vorgang des Komponierens ist ein gutes Beispiel für das Wesen des Schöpferischen: Man kann Musiktheorie, Harmonielehre, Kontrapunkt, Instrumentation lehren und lernen, aber nicht den schöpferischen Vorgang des Komponierens. Dieser bleibt geheimnisvoll, hängt von der Inspiration, der Eingebung ab - so wie übrigens auch die großen Errungenschaften der Naturwissenschaft, wie etwa die Relativitäts- oder Quantentheorie. Das Göttliche in der Musik Mozarts ist weder zu analysieren noch zu beschreiben. Gleiches gilt für Jazz: Variationsmöglichkeiten und Spieltechniken sind lehrbar, nicht aber ihre geniale kreative Anwendung. Der geniale Umgang selbst mit einfachen Formeln ist letztlich nicht beschreibbar. Und genau hier liegt das Wesen der Kreativität.
Die ökonomische Kanalisierung von Kreativität halte ich für problematisch. Denn sie führt letztlich zur Einengung der von Natur aus grenzenlosen Kreativität. Auf der anderen Seite bedürfen alle Bereiche unseres menschlichen Lebens einer Kreativität, auch unsere Gesellschaft. Hartmut von Hentig forderte schon vor 40 Jahren "social creativity" als Lernziel.
Hier möchte ich auf das Projekt des Weltkulturgipfels zu sprechen kommen, das das Internationale Forum für Kultur und Wirtschaft Dresden entwickelt und vorbereitet hat. Das Projekt geht von einem Kulturbegriff aus, der zugleich Antwort auf Ihre letzte Frage ist. Gemeint ist der Begriff Kultur als "verhaltensbestimmendes System von Werten, Normen und Symbolen". Dieser Begriff ist noch weiter gefasst als der von Richard von Weizsäcker, der Kultur definiert als "Ausdruck der Art und Weise, wie wir miteinander umgehen".
In beiden Fällen geht es um das menschliche Verhalten. Und dieses wird, wie ich oben bereits erläuterte, nach Erkenntnissen der Kommunikationsforschung eben überwiegend emotional und ästhetisch, das heißt wahrnehmungsgesteuert geprägt. Es geht also um Faktoren, die am ehesten durch die ästhetischen Prinzipien der Kunst zugänglich sind. Allein darauf kann man die große Bedeutung der Kunst und Kultur für alle Bereiche menschlichen Verhaltens und vor allem für das Zusammenwirken von Kunst, Wirtschaft, Politik und alle anderen Bereiche unseres Lebens zurückführen.
Ziel muss die ganzheitliche Gestaltung unseres Zusammenlebens durch Kunst und Kultur sein. Menschen müssen lernen, das Leben zu bewältigen. Es geht um die Lebenskunst als Fähigkeit, mit sich und anderen umzugehen. Auch hier steht der Kulturbegriff wiederum im Mittelpunkt, in diesem Fall der von Richard von Weizsäcker: Kultur als "Art und Weise, wie wir miteinander umgehen". Aber auch die Fähigkeit zur Bewältigung von Lebenssituationen gehört zur Lebenskunst. Wichtige Grundlage ist die Kultur der Bildung, bei der der Lehrer sich als Lernmotivator, als Sinn- und Beziehungsstifter versteht, als jemand, der soziales Lernen, das Lernen der Beziehungsfähigkeit in den Mittelpunkt stellt.
Ziel sollte eine kulturelle Marktwirtschaft sein, deren Prinzip eben die kulturelle Nachhaltigkeit ist. Kulturelle Marktwirtschaft bedeutet, dass alle Bereiche unserer Gesellschaft als Teilbereiche der Kultur verstanden werden, das heißt die Wirtschaft, die Politik, die Religion, die Bildung und auch die Technik.
Meine Vision ist, dass Kultur Zukunft gestaltet. Überwunden werden müssen die von Roman Herzog in seiner berühmten Berliner "Ruck-Rede" kritisierte mentale Depression, also die Motivationsarmut, der Egoismus, der Verfall der Kultur des Umgangs miteinander, der Diskussions- und Streitkultur im Sinne einer Konsensbildung über gesellschaftliche Ziele und politisches Handeln. All diese Defizite können nur durch eine kulturelle Veränderung des Bewusstseins überwunden werden, nicht durch den Erlass weiterer Gesetze und Verordnungen. Kunst und Kultur, ästhetische Praxis und Erziehung sind dabei mehr gefordert denn je. Denn sie schaffen Ganzheitlichkeit, Integration und Identität. Kultur als verhaltensbestimmendes System von Werten, Normen und Symbolen ist nicht nur Ausdruck der Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, sondern prägt sie. Deshalb ist Kunst unverzichtbar für die Differenzierung der Wahrnehmung und die Bildung eines kulturellen Bewusstseins.
Die Balance von Eigenverantwortlichkeit und Selbstverwirklichung einerseits und Gemeinschaftsgefühl, Solidarität und Eingebundenheit in die Gruppe andererseits (eine Balance, wie sie beim gelingenden gemeinsamen Musizieren hergestellt wird) kann als Modell für die Gestaltung der Zukunft gelten. Wesentlich ist das Wechselspiel zwischen Freiheit und Disziplin, zwischen Entfaltung - Selbstverwirklichung - und sozialer Verantwortung. Insofern sollte das Menschenbild der Zukunft kulturell geprägt und kreativ gestaltet werden. Kultur und Kreativität sind der entscheidende Treibsatz für eine erfolgreiche und zukunftsträchtige Entwicklung unserer Gesellschaft.
Arcandor AG
Dr. Alexandra Hildebrandt
Leiterin Kommunikation Gesellschaftspolitik
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