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Die Bücher des Jahres 2009

Die Bücher des Jahres – ausgewählt von der changeX-Jury.
Jury: Anja Dilk, Dominik Fehrmann, Annegret Nill, Wolfgang Hanfstein und Winfried Kretschmer

Stapel von Büchern haben wir auch in diesem Jahr wieder gesichtet und kritisch auf ihren Neuigkeitswert hin abgeklopft. Viele davon haben wir rezensiert oder mit den Autoren Interviews geführt. Jetzt ist es Zeit, die besten Bücher des Jahres zu küren. Die changeX-Jury hat ihre Toptitel 2009 gewählt. Es war eine klare Entscheidung mit einem klaren Sieger: Nudge.

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Hoppla, mag manch einer fragen: Gibt es keine wichtigeren Probleme als die Frage, wie man Menschen einen kleinen Schubs hin zur richtigen Entscheidung verpasst? Das mag auf den ersten Blick in der Tat so scheinen. Schaut man aber genauer hin, sieht man, dass Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein mit sicherem Gespür ein Thema aufgegriffen haben, dessen Brisanz wohl erst in den kommenden Jahren zutage treten wird. Die Problematik ist die: Mit rasender Geschwindigkeit wachsen die Erkenntnisse darüber, wie Menschen Entscheidungen treffen. Die Verhaltensökonomie liefert, seit sie im Verbund mit den Neurowissenschaften nach vorne geht, viele überraschende und wichtige Einsichten in menschliches Handeln – und diese Erkenntnisse werden zunehmend auch angewendet werden. Dann ist es vom kleinen Schubs – der Platzierung von Obst in Schulkantinen etwa, der Gestaltung von Warnhinweisen oder der Anordnung der Kästchen auf dem Formular für die Rentenkasse – nicht weit zur Manipulation und von vereinzelten Manipulationsversuchen zur Sozialtechnologie. Diese Debatte wird kommen, und es ist Thaler und Sunstein zu danken, dass sie vorausschauend darüber nachdenken, wie die Beeinflussung menschlichen Handelns mit einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung vereinbar ist.
Entscheidungen sind eine tückische Sache. Wen wundert’s, dass wir uns immer wieder die Zähne daran ausbeißen. Dabei merken wir gar nicht, durch welch feines Geflecht von Einflüssen wir auf diesen oder jenen Weg gewiesen werden. Bücher über das Thema Entscheidungen gibt es reichlich. Oft sind es Ratgeber, die uns mit flinken Rezepten Entscheidungen einfacher zu machen versprechen. Was das hochgelobte Buch der Amerikaner Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein so spannend macht, ist, dass sie den Funktionsmechanismen von Entscheidungen auf der Ebene des Individuums und der Gesellschaft auf die Spur kommen möchten – und dabei mutig fragen: Wie kann man die Menschen zum Wohle aller und zum Wohle ihrer selbst auf den richtigen Weg bringen? Durch einen kleinen Schubs, Anreiz, einen staatlich angeschobenen Nudge. Die Autoren wollen nicht etwa den Weg in eine bevormundende Gesellschaft weisen – sie wissen sehr wohl, wie fundamental Freiheit ist –, doch sie bringen einen neuen, fürsorglichen Pragmatismus in die Diskussion, die als Denkfigur lange nachklingt: Wo wir längst wissen, dass Entscheidungen ohnehin nicht vor allem rational fallen und wir selbst nur bedingt autonome Herrscher dieser Entscheidungen sind, sollten wir fragen, wie wir als Gesellschaft sinnvoll mit dieser Erkenntnis umgehen. Ein fesselndes Buch, das den Lichtkegel gut argumentierend auf ein Feld lenkt, das uns in Zukunft sicher noch viel beschäftigen wird: die Entscheidungsarchitekturen in modernen Gesellschaften.


Von der Gestaltung der Gesellschaft zur Führung.


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Viele sind sich darin einig: Soziale Gerechtigkeit ist neben dem Klimawandel das Thema des 21. Jahrhunderts. Der Kapitalismus muss eine überzeugende Antwort darauf noch finden – dringend. Von daher ist es zu begrüßen, dass der Philosoph Norbert Bolz – ebenso übrigens wie Michael Hüther und Thomas Straubhaar in ihrem Buch Die gefühlte Ungerechtigkeit – sich des Themas annimmt. Was sein Buch Profit für alle indessen auszeichnet, ist die Fähigkeit voraus- und zusammenzudenken. Voraus: eine neue Entwicklungsstufe des Kapitalismus. Zusammen: die verschiedenen in der Gesellschaft spürbaren neuen Annäherungen an das Soziale. Dieses Buch ist allein schon deshalb wichtig, weil Norbert Bolz die weitgehend unhinterfragte maslowsche Bedürfnispyramide um eine wesentliche Dimension erweitert, um die der Selbsttranszendenz. Damit gibt er der globalisierten und säkularisierten Gesellschaft eine Idee, wie Sinngebung funktionieren kann. Daraus erwächst ein zutiefst bürgerliches Ethos: „Nimm dich selbst ernst und mach das, was du zu tun hast, richtig. Profit für alle ist ein wichtiges Buch, weil sich Norbert Bolz (wie immer) die Freiheit nimmt, ohne Scheuklappen zu denken. Und den Staat in die Schranken zu weisen, wenn er sich anheischig macht, die Privatsphäre seiner Bürger zu sortieren. Bolz setzt auf die beiden entscheidenden Triebkräfte moderner Gesellschaften: das Individuum und die sozialen Netzwerke. Und gewinnt so ein Modell sozialer Gerechtigkeit, das in den Händen der Menschen selbst liegt. Und nicht bei einem tendenziell totalitären Wohlfahrtsstaat.

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Ging es bei Thaler/Sunstein und Bolz um die Gestaltung von Gesellschaft, um die Architektur des Sozialen, rückt der dritte Titel unserer Top 3 das Thema Führung in das Zentrum. Noch allgemeiner gesagt geht es um eine Denkfigur: von einer im Entstehen begriffenen Zukunft zu lernen. Wir befinden uns mitten in einer Zeit rapiden Wandels und tief greifender Umbrüche. Das bedeutet auch: Alte Muster werden obsolet, neue Denk- und Handlungsweisen werden notwendig. Diese aber lassen sich nicht aus unserem alten Erfahrungswissen ableiten, der „Download“ von Mustern aus der Vergangenheit bring uns auf falschen Kurs. Das Resultat: Wir reagieren hilflos oder unangemessen. Fatal kann das bei Entscheidungen auf Führungsebene werden. Claus Otto Scharmer erklärt, wie man die tieferen Ebenen des Wissens aktivieren und durch einen tief gehenden Prozess den alten Reaktionsmustern entkommen kann. Presencing bedeutet, innezuhalten, Altes loszulassen und Neues kommen zu lassen. Eine wichtige Fähigkeit, um Zukunft entstehen zu lassen. Kurzum: In die Zukunft denken – und zurück.


Perspektivwechsel in Folge.


Während die Plätze eins bis drei klar entschieden waren, herrscht dahinter ein wenig Gedrängel. Was klar auch für die Qualität der nachfolgenden Titel spricht. Manch einer hätte durchaus Top-3-Qualität – aber entschieden ist entschieden. Sehr knapp auf Platz vier und fünf verwiesen wurden zwei Bücher, die, jedes für sich, ihrem Gegenstand neue Blickwinkel abzugewinnen vermögen: George A. Akerlof und Robert J. Shiller mit ihrem nach einem Zitat von John Maynard Keynes betitelten Animal Spirits und Malcolm Gladwell mit Überflieger. Letzterer zuerst. Über Nacht berühmt wird, wer zehn Jahre lang hart gearbeitet hat. Diesem Sprichwort gibt Malcolm Gladwell Futter. Bei ihm sind es 10.000 Stunden Übung, die das Genie vom Talent trennen. Aber das allein, so hat er bei seiner Suche nach dem Geheimnis der Überflieger festgestellt, reicht nicht. Und damit hat er auch einen Appell an die Gesellschaft(en) geschrieben, ihre Kultur zu überdenken und die Chancenverteilung zu überprüfen. Denn, so sein Resultat, Überflieger sind Produkte „ihrer Geschichte, ihrer Gesellschaft sowie der Chancen, die sie hatten, und der kulturellen Traditionen, die sie geerbt haben“. Ein spannendes Buch über die mehrdimensionalen Bedingungen des Erfolgs. Was Keynes wusste, haben seine Nachfolger vergessen: Der Mensch verfolgt nicht allein ökonomische Ziele und handelt nicht immer rational. Es sind Animal Spirits, die ihn leiten. Sie auszublenden hat Folgen. Die Wirtschaft nach der Krise braucht eine neue Theorie. Ein neues Bild des Menschen. Was Animal Spirits auszeichnet, das ist ein provokanter, oft entwaffnend einfacher Blick auf die Ökonomie. Ein Perspektivwechsel, der jene nüchtern ins Licht rückt, die im Theoriegewitter meist im Schatten stehen: die – ganz normalen – Menschen. Da ist schnell der Bogen zu einem kleinen, aber wichtigen Büchlein gespannt, das sich ein paar Plätze weiter hinten in unserer Liste der Top 11 findet: Es widmet sich der Wiederentdeckung der Emotion in der Wirtschaft – und das heißt: dem Ende des rein nutzenmaximierenden Homo oeconomicus. Johannes Siegrist zeigt: Nach der Maxime des größtmöglichen ökonomischen Nutzens gestaltete Arbeitsverhältnisse machen krank. Und das kommt teuer. Der Homo oeconomicus bekommt Konkurrenz ist ein wichtiges Buch für ein notwendiges Ziel: eine auf Vertrauen, Kooperation, Fairness, Gerechtigkeit und Solidarität gründende Wirtschaft.


Von der Bewusstseinsrevolution zur Weltökonomie.


Die neue Bewusstseinsrevolution, Bildung, die Mathematisierung unserer Welt, die großen Weltprobleme und schließlich die Grundlinien wirtschaftlicher Entwicklung sind die Themen unserer Jahresbesten auf den Plätzen neun bis elf, die wir hier noch kurz vorstellen möchten:
Bewusstseinsrevolution: Die Hirnforschung revolutioniert nicht nur das Bild des Menschen, sondern auch unseren Blick auf die Welt. Der Philosoph und Bewusstseinsforscher Thomas Metzinger bündelt nun die Erkenntnisse der Neurowissenschaften in seinem kraftvollen Buch Der Ego-Tunnel zu einer Theorie des Bewusstseins, die unser Selbstbild radikal infrage stellt und sich anschickt, den Mythos des Selbst zu zertrümmern. Das Selbst gibt es nicht, es ist eine Illusion, die das Gehirn erzeugt, so die These Metzingers, der freilich nicht auf der Neuro-Ebene verbleibt, sondern brennende ethische Fragen aufwirft. Denn die Bewusstseinsrevolution birgt neue ethische Herausforderungen in sich und kann gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen anstoßen, von denen wir noch gar nichts ahnen. Wir brauchen eine neue „Bewusstseinsethik“, so die Forderung Metzingers in seinem furiosen Buch.
Bildung: Auf mehr Bildung, so scheint es, laufen alle Rezepte zum Wohl der Menschheit hinaus. Dem Sammelband Warum Lernen glücklich macht der Bertelsmann Stiftung gelingt hier ein schwieriger Spagat: das Thema zugleich wissenschaftlich fundiert und ideologisch unbeschwert zu behandeln. Schwungvoll wird hier einiges von jenem Staub weggeblasen, der den Begriff der Bildung teilweise bis zur Unkenntlichkeit bedeckt hat. Und die frohe Botschaft vermittelt, dass das Lernen eigentlich ein Selbstläufer ist. Dem man lediglich Hindernisse aus dem Weg räumen muss.
Mathematisierung: Zahlentheorie, Wahrscheinlichkeitsrechnung, Philosophie, Finanzkrise: All das sinnstiftend unter einen Hut zu bringen, dürfte überhaupt nur wenigen gelingen. Und kaum einem so stilvoll und unterhaltsam wie Hans Magnus Enzensberger. Seine beiden Abhandlungen in Fortuna und Kalkül sind Essays im klassischen Sinne. Hier spricht kein Fachidiot, sondern ein ebenso neugieriger wie kluger Querkopf, der die größeren Zusammenhänge im Blick hat und auch dem Leser eben diesen Blick schärft.
Weltprobleme: Klimawandel, Finanzkrise, sich öffnende Schere von Arm und Reich – die Welt erscheint in hoffnungslosem Zustand. Doch Radermacher, Spiegel und Obermüller zeigen in Global Impact: Dies ist nur ein Zwischenstand, dem kein Zwang zur Katastrophe innewohnt. Im Gegenteil: Der Wandel hin zu einer positiven Zukunft hat schon begonnen. Ob Initiativen für eine parlamentarische Versammlung bei den Vereinten Nationen, Techniken zur nachhaltigen Energiegewinnung, die sich ausbreitende Bewegung von Social Entrepreneurship oder neue Konzepte von Lernen und Bildung: Die Autoren tragen Ansätze und Beispiele aus aller Welt zusammen, die ein neues Denken und Handeln verkörpern. Inspirierend.
Die Formel der neuen Wirtschaft: Eigentlich vollkommen unverdienterweise auf dem ungeliebten letzten Platz, der bei uns zudem noch der elfte ist (eine kleine Hommage an Ben Schott, der in seinem Sammelsurium den meist kaum bekannten Top-Eleven-Listen ein kleines Denkmal gesetzt hat), findet sich ein Titel, der die beiden wohl wichtigsten Entwicklungen in der Weltökonomie zusammendenkt: Die Revolution der Innovation. N = 1 und R = G. Kurz gesagt: Die Kundenerfahrung wird individuell, die Ressourcen aber gehen gegen global. Darin verbirgt sich ein neues Modell der Wertschöpfung, das dem des Industriezeitalters diametral entgegengesetzt ist, so C. K. Prahalad und sein Co-Autor M. S. Krishnan in ihrem brillanten Buch.
Ein bunter Bücherbogen ist es geworden. Dennoch sind – natürlich – nicht alle wichtigen Titel des Jahres dabei. Einen möchten wir besonders hervorheben, ihm gilt ein Sondervotum der Jury: Peter Felixbergers Deutschlands nächste Jahre ist das Resümee einer Serie von Workshops, in deren Rahmen die wichtigsten Zukunftsforscher des Landes im Bundeskanzleramt ihre Thesen und Konzepte vorstellten. Peter Felixbergers Buch setzt mit Nachdruck die im gesellschaftlichen Tagesdiskurs leider zu oft ausgeblendete Frage auf die Tagesordnung: Welche Zukunft hätten Sie den gern?

Zur Liste der Bücher des Jahres 2009 geht es hier


changeX 18.12.2009. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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