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Improvisation will gelernt sein

Planungspleiten und die Kunst der Improvisation. Ein Essay von Andreas Zeuch.
Text: Andreas Zeuch

Pläne scheitern. Immer wieder. Und dann? Wird improvisiert, einfach so, irgendwie. Denn gelernt hat das niemand. Weil Improvisation planungsversessenen Managern noch immer als Rumgewurschtel gilt, dem saubere, akribische Planung prinzipiell vorzuziehen sei. Nur stößt Planung an die Grenzen der Vorhersehbarkeit. Die Antwort: Improvisation endlich als seriösen Handlungsmodus anerkennen: als unternehmerische Kunst.

Illustration Improvisation

Am 28. Februar 2009 hielt der Astronaut Professor Dr. Ulrich Walter bei einer Unternehmerveranstaltung einen Vortrag mit dem Titel „Von der Vision zur Mission“. Darin berichtete er anschaulich und unterhaltsam über den Space-Shuttle-Flug, bei dem er mit dabei war, und zeigte amüsante Bilder über die Parabelflüge zum Training der Schwerelosigkeit mit einer großen, umgebauten Boeing, von den Astronautenanwärtern liebevoll „Kotzbomber“ genannt. Die Teilnehmer erfuhren auch, dass jede Mission wortwörtlich „minutiös“ durchgeplant ist, und bekamen zur Illustration Auszüge aus den entsprechenden Handbüchern präsentiert. Walters Rat an die anwesenden Unternehmer: „Was ich Ihnen sagen will: Sie müssen jede Eventualität in Ihrem Unternehmen einplanen.“ Was mich als ebenfalls eingeladenen Referenten wunderte: Niemand hinterfragte diese offensichtlich absurde Forderung. Ich musste bei Walters illusionären Worten unweigerlich an die Space-Shuttle-Katastrophe denken. Erinnern Sie sich noch?
Rund sechs Jahre vor Walters Vortrag, am 1. Februar 2003, befand sich das Space-Shuttle Columbia auf dem Rückflug zum Kennedy Space Center. Noch vor dem Wiedereintritt in die Erdatmosphäre war man sich in der Bodenkontrolle wie in der Raumfähre selbst einig gewesen: Der beim Start beschädigte Hitzeschild stellt kein Sicherheitsrisiko dar. Die traurige Wirklichkeit sah anders aus: In rund 60 Kilometer Höhe zerbrach die Columbia bei einer Geschwindigkeit von gut 20.0000 Stundenkilometern. Alle sieben Besatzungsmitglieder kamen in einem glühenden Feuerball ums Leben. Die anschließende Untersuchung erbrachte ein Ergebnis, das ein uneingeschränktes Vertrauen in Planung und Kontrolle als fragwürdig erscheinen lässt: Die Ursache war doch das beschädigte Hitzeschild, das die Temperatur des Tragflächeninneren dramatisch ansteigen ließ. Durch die Erhitzung erweichte das Material, hielt den Belastungen nicht mehr stand und barst.
Nicht jede Planung scheitert auf derartig tragische Weise und kostet Menschenleben. Aber diese Geschichte macht deutlich: Trotz der gründlichsten Planungen im Vorfeld kann ein Plan scheitern. Selbst dann, wenn ein gigantischer und im wahrsten Sinne des Wortes minutiös arbeitender Planungsapparat wie der der NASA die Federführung hat und dazu modernste Planungsinstrumente zum Einsatz kommen. Da erscheint das von Professor Walter proklamierte Planungsverständnis geradezu zynisch. Wie, bitte schön, soll „jede Eventualität“ eingeplant werden? Eher gilt: Jeder Plan kann scheitern.


Pläne scheitern. Nicht immer, aber immer wieder.


Grundsätzlich sind für Planungen vier Kategorien von Ereignissen zu bedenken: kontrollierbare und unkontrollierbare sowie wahrscheinliche und unwahrscheinliche Ereignisse. Zwei davon stellen eine besondere Herausforderung dar: die unkontrollierbaren und unwahrscheinlichen Ereignisse. Zwei aktuelle Beispiele unkontrollierbarer Variablen kommen aus der jüngsten Luftfahrtgeschichte: Am Mittwoch, dem 15. Januar 2009 startete der Flug 1549 vom Flughafen La Guardia in New York City. Zwei Minuten nach dem Start, in 975 Meter Höhe, meldete der Pilot Chesley B. Sullenberger III einen „doppelten Vogeleinschlag“ – in beiden Triebwerken seines Airbus A320. Die Folge: Triebwerkausfall. Glücklicherweise ging dieser Unfall glimpflich aus. Sullenberger konnte die Maschine auf dem Hudson River notwassern; alle 150 Passagiere und die fünf Besatzungsmitglieder kamen ohne ernsthafte Verletzungen davon. Ganz anders verlief der Flug AF447 am 31. Mai 2009 von Rio de Janeiro nach Paris. Die Maschine geriet in ein Unwetter, das vermutlich für den anschließenden Absturz des Jets mit verantwortlich war. Alle 228 Menschen an Bord kamen dabei ums Leben. Grundsätzlich gilt: Weder der Flug von Vögeln noch das Wetter sind kontrollierbar. Wobei schlechtes Wetter in der sogenannten Innertropischen Konvergenzzone (ITCZ) sehr wohl wahrscheinlich und somit zu erwarten ist.
Ganz anders sieht es im Reich unerwarteter, weil unwahrscheinlicher Ereignisse aus. Sie sind die zweite Fallgrube für Planungen. Sie erschüttern die falsche Sicherheit gaußscher Normalverteilungen. Wie der Trader und Wahrscheinlichkeitstheoretiker Nassim Nicholas Taleb in seinem Bestseller Der Schwarze Schwan ausführlich belegt, liegt genau in solchen unwahrscheinlichen Ereignissen das Problem unseres entschieden zu großen Vertrauens in unsere Planungen und in die Kontrollierbarkeit der Zukunft. Unwahrscheinliche Ereignisse werden im Kalkül der Planung ausgeblendet, eben weil sie voraussichtlich nicht eintreten werden. Aber genau darin liegt das Risiko: Weil wir unwahrscheinliche Ereignisse nicht erwarten, sind wir auf sie nicht vorbereitet. Ein praktisches Beispiel dafür ist die eben erwähnte Columbia-Katastrophe. Der Umgang mit der Beschädigung des Hitzeschilds demonstriert dieses Problem: Es gab keinen Notfallplan für eine derartige Beschädigung, weil sie nicht besonders wahrscheinlich war. Das traurige Ergebnis ist bekannt.
Die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns von Plänen steigt logischerweise mit der Anzahl unkontrollierbarer Ereignisse – und mit der Illusion von Wissen und Kontrolle. Taleb nennt diese Illusion in Anlehnung an den Begriff der „Epistemologie“, der Erkenntnistheorie, die „epistemische Arroganz“: Wir überschätzen unser Wissen und unterschätzen unser Nichtwissen. Und lassen uns dazu verführen, die Existenz von schwarzen Schwänen zu ignorieren. Für die Steuerung von Unternehmen in unserer zunehmend vernetzten und damit komplexer werdenden Welt bedeutet das, sich einer unangenehmen Frage zu stellen: Was passiert, wenn Pläne scheitern? Und welche Konsequenzen hat dies für unser Verständnis von Planung wie für unser Handeln?


Wenn Pläne scheitern.


Zunächst: Wie sieht die augenblickliche Wirklichkeit in Unternehmen aus? Da die Planabweichung ein Versagen ist, ein Fehler, den es möglichst zu vermeiden gilt, wird im Fall gescheiterter Pläne in aller Regel zuerst nach dem Schuldigen gesucht. Jemand muss schuld sein, man sucht einen Sündenbock. Zudem muss sich der (Projekt-)Verantwortliche erst mal selbst reinwaschen – wenn er das Glück hat, jemand anderes vorführen zu können. Ist die Schuldfrage geklärt, geschieht häufig Folgendes: Wenn nicht die Zeit da ist, in Ruhe neu zu planen (natürlich mit demselben neuen Risiko zu scheitern), bricht im Allgemeinen operative Hektik aus. Es ist der allseits bekannte blinde Aktionismus in Unternehmen, mit der stumpfen Axt in den Wald zu rennen und wild um sich zu schlagen. Im Wissen um den gescheiterten Plan und die schwindende Zeit bei sich verstärkendem Erfolgsdruck wird improvisiert – dilettantisch. Einfach so, irgendwie. Denn wirklich gelernt hat Improvisation niemand, schließlich ist sie immer noch verpönt, wird als „Durchwursteln“ verunglimpft, dem die Planung als kontrolliertes Vorgehen prinzipiell vorzuziehen ist.
Was ist dabei das Problem? Natürlich ist nach dem Scheitern eines Plans schnelles Handeln gefragt: sofortige Improvisation unter dem Schulterschluss aller Beteiligten. Es ist nicht die Zeit, die gemachten Fehler aufarbeiten und daraus lernen zu wollen. Und in harschem Ton danach zu fragen, wer denn für diesen Mist verantwortlich sei, ist nicht nur überflüssig, sondern kontraproduktiv. Denn Pläne scheitern auch dann, wenn niemand einen Fehler gemacht hat – dann nämlich, wenn die Zukunft anders eintritt als angenommen. Aber genau das ist dem Wesen der Planung nach nicht vorgesehen. Für sie ist Vorhersehbarkeit Grundbedingung. Der Zufall und das Unerwartete, die schwarzen Schwäne, liegen außerhalb ihres Horizonts – und damit verhält es sich nicht anders wie mit dem Erdhorizont auch: Da hilft kein immer schnelleres Gehen, kein Rennen, da helfen auch keine technologischen Fortschritte. Selbst im Flugzeug sitzend ändert sich nichts daran, dass wir den Horizont nicht zu greifen bekommen, geschweige denn ihn überwinden können.


„In the long history of humankind those who learned to collaborate and improvise most effectively have prevailed.“ Charles Darwin (*)

Abgesehen davon sind die Kollateralschäden der Politik der stumpfen Axt die eine oder andere Doktorarbeit wert: Was kostet die Unternehmen dieses sinnfreie Rumgehacke eigentlich? So wie die Schäden weder erkannt noch quantifiziert wurden, ist in Unternehmen noch niemand auf die Idee gekommen, Improvisation einer Qualitätssicherung zu unterziehen, geschweige denn, sie als Handlungsmodus zu thematisieren.
Zwar gibt es wohl in jedem Unternehmen Menschen, denen es im Blut zu liegen scheint, zu improvisieren, den Ton aber geben andere an: Meist „gut“ ausgebildete Manager, vertraut mit MS Project und Gantt-Diagrammen, scheuen die Improvisation wie der Teufel das Weihwasser. Spontanes Handeln gilt diesen Improvisationsphobikern als Ausdruck von Unprofessionalität, von Schlampigkeit, von der Unfähigkeit, ordentlich zu planen. Wenn Pläne scheitern, bleibt aus der Sicht der Planungsgläubigen nur eine Schlussfolgerung: Versagt haben Menschen, die ihren Job nicht richtig machen und ihr Gehalt nicht wert sind – nicht die Planung an sich. Denn wäre Planung an sich fehlerhaft, weil in ihr Ungewissheit und damit Planabweichungen unhintergehbar eingebaut sind, müsste Improvisation von Anfang an als professionelles Handeln mitgedacht werden. Da diese Einsicht aber außerhalb des Erkenntnishorizonts liegt, und zudem jeder Manager über kurz oder lang den einen oder anderen seiner eigenen Pläne den Bach runtergehen sieht, folgt das nächste Argument: Wir brauchen detailliertere Informationen. Dann endlich sind wir im Gelobten Land der Totalplanung!
Dummerweise ignoriert diese Schlussfolgerung zuverlässige empirisch-wissenschaftliche Forschungsergebnisse. Die Qualität von Entscheidungen verbessert sich nämlich nicht linear mit dem Maß zunehmender Information. Dieses Verhältnis ähnelt vielmehr einer Glockenkurve: Bis zu einem bestimmten Maß steigt die Entscheidungsqualität mit der steigenden Informationsmenge an, um dann wieder abzunehmen. Der Grund ist einfach: Wir sind Menschen und können nur ein begrenztes Maß an Informationen verarbeiten. Bewusst übrigens wesentlich weniger als unbewusst.


Die hohe Kunst der Improvisation.


Es bleibt die Frage: Was ist in der Improvisation grundlegend anders als in der Planung? Ganz einfach: Intuition wird wichtiger als Rationalität. In der Improvisation muss zügig, teils sofort gehandelt werden. Es bleibt keine Zeit, lange nachzudenken oder neu zu planen. Die Daten- und Informationsverarbeitung erfordert deshalb ein nochmals höheres Tempo als in der Planung, sie erfolgt gewissermaßen in Echtzeit. Spontanes und improvisierendes Handeln verlangt damit – neben ausgeprägter Improvisationsfähigkeit – eine besonders gute Wahrnehmung und geschulte, ja professionelle Intuition.
Professionelle Intuition – für viele ist diese Begriffskombination ein Widerspruch in sich. Denn professionelles Handeln ist aus gängiger Sicht unbedingt ein rationales, durchdachtes und abgewogenes Handeln. Doch zeigt die Expertiseforschung, dass einer der wichtigsten Unterschiede zwischen Berufsanfängern und meist erfolgreicher agierenden langjährigen Profis gerade in der intuitiven Entscheidungsfindung liegt. Experten denken wesentlich weniger bewusst über die zu bewältigenden Aufgaben nach als Novizen. Sie verfügen über einen größeren Erfahrungsschatz, aus dem sich ihre Intuition erfolgreich bedienen kann. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass Experten viele ihrer Handlungsabläufe und Entscheidungen nicht erklären können. Trotzdem sind sie überzufällig häufig erfolgreich. Intuition basiert zudem nicht nur auf Erfahrungswissen, sondern auch auf unbewusster Wahrnehmung und Informationsverarbeitung. Für improvisierende Berufstätige heißt das: Sie erhalten, während sie improvisieren, wertvolle Hinweise, die sie wie ein Lotse durch den dichten Nebel widersprüchlicher, unzureichender oder überfordernder Daten leiten. Kurzum: Improvisation ist mehr als Rumwurschteln. Sie ist ein seriöser Handlungsmodus, der in der heutigen Wirtschaft zunehmend an Bedeutung gewinnt.
Wenn also kein Unternehmen an Improvisation vorbeikommt, weil viele Pläne sowieso scheitern, dann ist es dringend nötig, Improvisation in Unternehmen zu professionalisieren. Von nichts kommt nichts, auch nicht in der Improvisation. Darauf verwies wenigstens schon mal brand eins im Jahr 2008 mit dem Hefttitel „Wir rechnen mit allem. Die Kunst der Improvisation“. Bleibt anzumerken, dass der erste Satz genau die epistemische Arroganz benennt, die Taleb unserer planungsvernarrten Gesellschaft ankreidet. Denn wenn wir tatsächlich „mit allem“ rechnen könnten, würden wir nicht mehr überrascht und hätten für alle Eventualitäten einen Plan B, C und so weiter. Das Problem besteht aber gerade in dem, womit wir zuvor nicht gerechnet haben. Erst dann beginnt die hohe Kunst der Improvisation, weil wir dieses Szenario, mit dem wir plötzlich und unerwartet konfrontiert sind, nicht zuvor durchdacht haben.


Anleitung zu einer professionellen Improvisation.


Doch wie kommt man zu einer professionellen Improvisation in Unternehmen? Der erste Schritt ist die Einsicht in die Begrenztheit aller Pläne und Vorbereitungen. Das muss integraler Bestandteil der Unternehmenskultur werden – angefangen beim Topmanagement über den Mittelbau bis hin zum „einfachen“ Werksarbeiter. Und sollte es eine solche Hierarchie in einem Unternehmen gar nicht geben: Umso besser, dann ist das schon mal ein erster struktureller Vorteil, denn Netzwerkorganisationen pflegen zwangsläufig durch ihre Struktur ein kritischeres Verhältnis zu Planung und Kontrolle als klassisch organisierte Tannenbaum-Unternehmen.
In der „epistemischen Arroganz“ liegt ein Schlüssel zu erfolgreicher unternehmerischer Improvisation: Wir sollten tunlichst diese Arroganz in Bescheidenheit ummünzen. Wir sollten unserem Wissen und unseren Planungen gegenüber kritischer und aufmerksamer sein, als es im Moment der Fall ist. Gleichzeitig ist es intelligent, davon auszugehen, dass wir mehr nicht wissen, als uns lieb ist. Denn Nichtwissen bedeutet nicht Ohnmacht in Umkehrung der baconschen Weisheit, dass Wissen Macht sei. Nichtwissen zuzugeben ist vor allem die Einsicht in die Begrenztheit unseres Verstandes und der nötige Tribut an unsere hyperkomplexe Welt. Nichtwissen zuzugeben und mitzudenken ist die wahre Rationalität, die wirkliche Vernunft. Die Leugnung des Nichtwissens bedeutet konsequent zu Ende gedacht psychopathologischen Größenwahn. Niemand weiß alles. Nicht mal näherungsweise. Es ist banal. Aber die Verhaltensweisen von so manchen Geschäftsführern, Vorständen und Managern lassen jeden vernünftigen Menschen den Kopf schütteln ob deren erkenntnistheoretischer Allmachtsfantasie. Immerhin ist dank der momentanen Krise immer öfter zu hören, dass Fragen zur Zukunft mit einem ehrlichen „das weiß ich nicht“ beantwortet werden. Wir erleben endlich eine heilsame Neujustierung unserer überschätzten Erkenntnisfähigkeit. Allerdings schimmert bei manch einem Vorstand bereits wieder durch, dass dieses Nichtwissen nur temporär sei, eine Folge des momentanen Chaos. Wenn sich die Märkte wieder normalisiert hätten, könnten wir endlich wieder zu unserer altgewohnten Prognosefähigkeit zurückkehren. Genau das darf aber nicht passieren!
Der zweite Schritt liegt in der persönlichen Wertschätzung der Improvisation als angemessenem Handlungsmodus in Unternehmen. Wer geplantes Handeln per se und grundsätzlich für besser und überlegen hält, der wird in der Improvisation keine hohe Arbeitsqualität erlangen. Ebenso wenig wie jemand, der kein Vertrauen in die eigene Improvisationsfähigkeit hat. Für professionelle Improvisation gilt schließlich dasselbe wie für alle anderen Fähigkeiten: Eine positive innere Haltung ist die Voraussetzung für Erfolg. Wer nicht an den Sinn und Zweck von etwas glaubt, wird meist nach der Bestätigung seiner Skepsis suchen. Mann oder Frau tappt in die Falle der sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Also: Schluss mit der Diffamierung!
Der dritte Schritt ist die allmähliche Entwicklung des eigenen Improvisationsvermögens und dem der Mitarbeiter und Führungskräfte. Improvisation will gelernt sein. Ist es nicht erstaunlich, dass Improvisation noch immer nicht Bestandteil eines professionellen Planungsprozesses ist? Budgetierung, Risikomanagement, Qualitätssicherung, Störungsmanagement – nicht aber Improvisation. Dabei wird quer zu diesen Aufgabenstellungen improvisiert: alleine, im Team, in Konflikten und in der Kommunikation. Und all diese Planungskompetenzen werden in entsprechenden Ausbildungen und Trainings weiterentwickelt. Solange aber Improvisation nicht als professioneller Handlungsmodus und Ausbildungsgegenstand thematisiert wird, ist es nicht verwunderlich, wenn geplantes Handeln vorgezogen wird. Denn ungeübte und unausgebildete Improvisation ist tatsächlich Rumgewurschtel. Dabei ließe sich improvisiertes Handeln wesentlich eleganter, effizienter und effektiver gestalten. Es gibt nämlich Grundregeln der Improvisation, die es zu beachten gilt:
Erstens: „Ja und“ statt „ja, aber“ – akzeptiere, was kommt. Es ist nicht nur sinnlos, sondern vor allem auch erfolgsverhindernd, wenn man mit der eingetretenen Situation hadert oder doch noch versucht, seine Planungen entsprechend hinzubiegen.
Zweitens: Keine vorschnellen Bewertungen. Ob eine Idee hilfreich ist oder nicht, ergibt sich oft erst in der Kooperation mit den anderen. Drittens: Achtsamkeit ist wichtiger als Virtuosität. Ein gutes Gesamtergebnis ist nicht von Virtuosität abhängig, sondern eine Folge von Achtsamkeit den anderen, sich selbst sowie den Geschehnissen gegenüber.
Diese Achtsamkeit haben auch die beiden Organisationsforscher Karl Weick und Kathleen Sutcliffe in ihrem bekannten Buch Das Unerwartete managen thematisiert. Und zwar nicht theoretisch, sondern auf der empirischen Basis sogenannter High Reliability Organizations: Feuerwehr, Katastrophenschutzdienst, Intensivstationen, Flugzeugträger und dergleichen mehr sind mehr als andere Organisationen dem Unplanbaren ausgesetzt und agieren doch erstaunlich erfolgreich. Die durch Weick und Sutcliffe identifizierte Kernkompetenz war eben Achtsamkeit, gepaart mit einer ordentlichen Portion Skepsis gegenüber trügerischer Sicherheit – sprich: epistemische Bescheidenheit! Das heißt konkret: Es gibt Einsatzpläne und Standards. Aber diese werden erstens immer wieder aktualisiert und auf ihre Zuverlässigkeit und ihren Nutzen hin geprüft. Zweitens erblinden die Akteure in HROs nicht durch diese Pläne, sondern bleiben aufmerksam, wann die Abweichung von der Regel – sprich: Improvisation – erfolgversprechender ist. Somit sind eben diese Organisationen vorbildliche Beispiele für erfolgreiche Improvisation. Genauso wie Chesley B. Sullenberger III, der nach dem Triebwerkausfall mit seiner intuitiven Improvisation 150 Menschen das Leben rettete. Somit bleibt nur eine Lösung: Improvisation gehört in die Lehrpläne und Fortbildungsprogramme! Aus der positiven Erfahrung mit dem eigenen Improvisationsvermögen folgt schließlich eine positive Selbstwirksamkeitserwartung, die ihrerseits den Erfolg in der praktischen Anwendung noch wahrscheinlicher werden lässt.
Der vierte und letzte Schritt erfolgt parallel zu den drei anderen: Unternehmen benötigen eine Kultur, die Improvisation als professionellen Handlungsmodus nicht nur akzeptiert, sondern fördert. Das heißt auch: Aus Fehlern niemandem einen Strick drehen. Fehler werden nicht gemacht, denn dann handelte es sich um Sabotage (und wenn dem so wäre, hätten die entsprechenden Unternehmen ohnedies ein anderes Problem). Fehler passieren, wie es Götz Werner in einem Gespräch über Nichtwissen mit mir formulierte. Das ist kein Aufruf zu laxem Arbeiten, Schulterzucken oder Laissez-faire. Es ist ein Plädoyer für eine gut funktionierende Fehlerkultur, in der aus Fehlern möglichst schnell gelernt wird; für eine Kultur, in der die richtigen Fehler schneller gemacht werden als bei der Konkurrenz; für eine Kultur, in der gerade in der Improvisation der unbedingte Wunsch besteht, eine möglichst hohe Arbeitsqualität zu verwirklichen. Dass dies geht, beweist Klaus Kobjoll mit seinem bereits sechsmal zum besten Seminarhotel Deutschlands gekürten Schindlerhof. Kobjoll hat schon vor geraumer Zeit den „Fehler des Monats“ eingeführt, in dem der Verursacher des lehrreichsten Fehlers einen kleinen Preis gewinnt. Übrigens: Der Schindlerhof wurde nicht nur in Deutschland, sondern mittlerweile auch in Europa zum besten Arbeitgeber im Bereich Hotellerie gewählt.
Genauso wie wir in Zukunft einen Ausgleich zwischen rationaler und intuitiver Entscheidungsfindung brauchen, müssen wir unsere unternehmerische Planung um Improvisation ergänzen. Dies bedarf einer anderen Grundhaltung, die sich in epistemischer Bescheidenheit zeigt. Daraus folgt zwingend die ständige Überarbeitung von Standards, Prüfung von Plänen und die Achtsamkeit, wann Abweichung von Plänen wichtig und richtig ist. Wenn wir dann improvisieren, sollten wir das auf der Grundlage einer ausgebildeten Improvisationsfähigkeit tun: Improvisation als unternehmerische Kunst, eingerahmt von einer intelligenten Fehlerkultur.

(*) „In der langen Geschichte der Menschheit setzten sich diejenigen durch, die gelernt hatten, möglichst effektiv zusammenzuarbeiten und zu improvisieren.“
Charles Darwin

Nachtrag
Ich lade Sie herzlich ein, dem innovativen Unternehmer Ulf Lunge zum Thema „Planung, Improvisation und Intuition“ zuzuhören. Ulf Lunge ist gemeinsam mit seinem Bruder der Inhaber und Geschäftsführer der ersten und einzigen deutschen Laufschuhmanufaktur (www.lunge.com). Die beiden Brüder machen damit etwas möglich, was doch angeblich nicht geht: Im Hochlohnland Deutschland Laufschuhe zu gutem Teil auch noch aus deutschen Materialien herzustellen. Und damit erfolgreich zu sein. Eine wichtige Rolle spielt dabei eben die Fähigkeit, Planung und Expertise kritisch zu hinterfragen und stattdessen öfters mal zu improvisieren. Den Link zum kostenfreien Podcast mit Ulf Lunge finden Sie in der rechten Spalte.


Zitate


"Improvisation ist mehr als Rumwurschteln. Sie ist ein seriöser Handlungsmodus, der in der heutigen Wirtschaft zunehmend an Bedeutung gewinnt." Andreas Zeuch: "Improvisation will gelernt sein"

"Nichtwissen zugeben, ist vor allem die Einsicht in die Begrenztheit unseres Verstandes und der nötige Tribut an unsere hyperkomplexe Welt. Nichtwissen zuzugeben und mitzudenken ist die wahre Rationalität, die wirkliche Vernunft." Andreas Zeuch: "Improvisation will gelernt sein"

 

changeX 23.09.2009. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Andreas Zeuch
Zeuch

Dr. Andreas Zeuch ist Gründer und Partner der unternehmens-demokraten. Das Berliner Unternehmen begleitet Menschen und Organisationen auf dem Weg zu mehr und besserer Partizipation. Zeuch veröffentlicht regelmäßig Artikel, Blogbeiträge und Bücher zum Themenfeld Unternehmensdemokratie und Selbstorganisation. Zuletzt erschienen: Alle Macht für niemand. Aufbruch der Unternehmensdemokraten bei Murmann, Hamburg 2015.

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