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Transformation erklären

Für eine Neubestimmung der Unternehmenskommunikation in der digitalen Transformation - ein Gespräch mit Egbert Deekeling und Dirk Barghop
Interview: Winfried Kretschmer

Wir produzieren tolle Produkte, die wir an unsere Kunden weitergeben - diese alte produktionszentrierte Denkweise funktioniert nicht mehr. In der digitalen Transformation rückt der Kunde ins Zentrum. Und die Unternehmen werden kundennäher und zugleich dezentraler. Die Folge: Auch die klassische Unternehmenskommunikation greift nicht mehr. In einer veränderten Unternehmenswirklichkeit mit flachen Hierarchien und veränderten Formen der Zusammenarbeit laufen die gelernten Top-down-Prozesse ins Leere. Durchsteuern ist vorbei. Kommunikation ist überall. Und geschieht Peer-to-Peer. Zwei Kommunikationsexperten suchen nun nach einem neuen Rollenverständnis für die Unternehmenskommunikation - ihre Aufgabe: für alle Beteiligten nachvollziehbar die Transformation erklären. Und mit neuen Formaten den kulturellen Wandel vorantreiben.

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Egbert Deekeling und Dr. Dirk Barghop, beide Senior Partner bei Deekeling Arndt Advisors, sind Experten für Transformations- und Change-Prozesse. Sie sind Herausgeber des Buches Kommunikation in der digitalen Transformation, das im Sommer 2017 im Verlag Springer Gabler erschienen ist.
 

Herr Deekeling, Herr Barghop, wollen wir mit der Masterfrage beginnen: Was muss man wissen, um die digitale Transformation zu verstehen? 

Egbert Deekeling: Darf ich vorher fragen: Warum ist das für Sie die Masterfrage? Weil Sie erkannt haben, dass keiner so genau weiß, was mit digitaler Transformation gemeint ist?
 

Richtig. Spannend ist, dass auf diese an sich einfache Frage total unterschiedliche Antworten kommen. Wie lautet die Ihre? 

Egbert Deekeling: Die digitale Transformation hat unterschiedliche Facetten: Da sind zunächst einmal das Thema Industrie 4.0 und die Automatisierung und Roboterisierung, die damit verbunden sind. Dann das Thema Daten: In digitalen Kundendaten liegt der eigentliche disruptive Kern der digitalen Transformation. Und das Dritte ist die Plattformökonomie. Aber es kommt noch etwas Viertes hinzu: ein Mentalitätsthema, mit dem wir in der Beratung viel zu tun haben. Wir treffen in der Industrie auf Denk- und Mentalitätsmuster, die total produktionsbestimmt sind. Im Grunde wird die gesamte unternehmerische Existenz von der Produktionsseite aus gedacht. Da geht es um Produkte, um Produktionsketten, um Lieferketten und dergleichen mehr. Doch mit der digitalen Transformation stellt sich die Frage von der Transaktionsseite her. Die Transaktion zwischen Kunde und Unternehmen wird zentral. Wenn Sie so wollen, haben wir es mit einer Radikalisierung der Kundenperspektive zu tun. Und das hat enorme Auswirkungen auf die Produktion. Ich erlebe immer wieder, wie schwer sich die "Engineering-Mentalität" damit tut, das anzuerkennen. Denn das erfordert, einen völlig neuen Geschäftsbegriff zu entwickeln. Das alte Verständnis - wir produzieren Eins-a-Produkte, die wir dann an unsere Kunden weitergeben -, das funktioniert so nicht mehr.
 

Also haben wir eine Umkehrung des Prozesses? Nicht das tolle Produkt steht im Mittelpunkt, sondern der Kunde rückt ins Zentrum? 

Egbert Deekeling: Das gesamte Muster der Produktentwicklung wird obsolet. Geheimhaltung, Marktreife, möglichst Konkurrenzvorteile vor anderen haben - dieses Entwicklungsmuster von Produkten wird hinfällig, weil die Muster von Transaktion zwischen Kunde und Unternehmen viel früher greifen. Und damit tun sich viele richtig schwer.
 

Was verstehen Sie unter "Transaktionsmuster"? 

Egbert Deekeling: Mit Transaktionsmuster meine ich: Da ist nicht mehr ein Produzent, der ein bestimmtes Set von Produkten herstellt und diese anbietet. Sondern der Kunde selbst gewinnt immer mehr Einfluss auf Preisfindung, Handel, Austausch von Informationen - und damit auf die Produktentwicklung selber. Die gesamte Prozesswelt von Produktion, Vertrieb, Marketing wird darauf ausgerichtet, was für den Kunden interessant ist. 

Diese unterschiedlichen Facetten der Digitalisierung - die massive Roboterisierung, die universelle Verfügbarkeit von Daten, die Umkehrung von Prozessen, die Auflösung von Geschäftsmodellen wie auch die Plattformökonomie - müssen zur Transformation der Unternehmen führen. Und zwar zu einer mentalen und kulturellen Transformation und natürlich zur Transformation von Prozessen und Strukturen.
 

Dasselbe Muster wie bei der Produktentwicklung haben wir bei Change-Prozessen, wir haben es bei Innovationsprozessen, wir haben es bei Projekten: Überall gab es diese klassische Kaskadierung. Dieser Fluss von einem Wasserbecken zum nächsten, der bricht auf? 

Egbert Deekeling: Das bricht auf. Und verbindet sich mit bestimmten methodischen Mustern, die kennzeichnend sind für die digitale Transformation. Das Entscheidende ist, dass der Kunde viel früher zum Teil des Prozesses wird. Das schlägt sich unter anderem in Ansätzen wie Customer Journey, Design Thinking oder Scrum nieder. Mit ihnen soll die Kundenperspektive in den Unternehmensalltag gebracht werden. Diese spezifischen Ansätze sind zugleich Ausdruck und Kennzeichen der digitalen Transformation. Kurz gesagt: Transaktionsmuster werden bestimmend auch für die Produktion selbst. 

Dirk Barghop: Ja, es dreht sich um. Was natürlich heißt, dass das Prinzip der Zentralität unterhöhlt wird. Die dezentralen Einheiten gewinnen ganz extrem an Bedeutung und kommen damit in eine Gestaltungsrolle. Sie sind nicht mehr nur ausführende Organe oder, wie Sie gerade sagten, Teil der Kaskadierung. Die Unternehmen werden dadurch deutlich dezentraler. Das hat dann natürlich extreme Auswirkungen auf die Kommunikation, gerade auch auf die Change-Kommunikation, die ihre Rolle ja sehr stark aus diesen top-down orientierten Strategieprozessen abgeleitet hat.
 

Woran zeigt sich das? 

Dirk Barghop: Wir beobachten sowohl bei der internen Kommunikation oder auch bei der Kommunikation insgesamt die Suche nach einem neuen Rollenverständnis. Was haben wir eigentlich noch für Aufgaben? Was haben wir noch für Funktionen, wenn alles dezentral organisiert ist und die Entwicklung im Grunde genommen an uns vorbeigeht? Zugespitzt heißt das: Die interne Kommunikation gerät durch die digitale Transformation in Gefahr, ihre gestaltende Rolle zu verlieren, die sie bisher in Veränderungsprozessen innehatte.
 

Sie starten im Buch mit einem interessanten Befund. Sie machen eine Liste auf, in welchen Bereichen digitale Transformation in den Unternehmen eine Rolle spielt. Und stellen fest: Erstens, die Liste ist lang. Zweitens: Kommunikation kommt da nicht vor. Sie führt ein Schattendasein. Warum? 

Egbert Deekeling: Das hat zunächst damit zu tun, dass, wie eben gesagt, Dezentralität die neue Realität in den Konzernen und Unternehmen ist. Die Prozesse werden nicht mehr hoheitlich von oben nach unten kaskadiert - das alte Muster -, sondern aufgrund der erforderlichen Kunden- und Marktnähe maßgeblich von marktnahen Einheiten geleitet. Es ist eine Abnahme von zentraler, hoheitlicher Durchgriffskompetenz. Die aber bestimmte das Verständnis der Unternehmenskommunikation: gewissermaßen Hoheit bewahren und den Durchgriff sichern. Aber das funktioniert so nicht mehr. Das führt zu den existenziellen Fragen, die eben schon anklangen: Welche Rolle spielt Kommunikation eigentlich? Welche Rolle spielt der CEO? Wir beobachten aufseiten der Unternehmenskommunikation eine große Zurückhaltung bei diesen Themen.
 

Kommunikation kommt in der digitalen Transformation nicht vor, weil sie auf dem alten Muster beharrt? 

Egbert Deekeling: Nein, Kommunikation kommt schon vor … 

Dirk Barghop: … sie kommt vor, aber nicht mehr in der gestaltenden und prägenden Rolle, die sie bisher gespielt hat. Wir erleben einen Rückzug auf die unmittelbaren Kernkompetenzen der Kommunikation: Botschaften senden, Kanäle bespielen. Das ist zugleich eine große Gefahr und eine neue Herausforderung für die Kommunikation. Die Kommunikation muss sich ja selber digitalisieren. Aber darin das Endziel zu sehen, ist zu kurz gesprungen. Man hat dann statt eines Intranets zwar ein Social Intranet, aber ob man noch eine gestaltende Rolle einnimmt, ist eine andere Frage.  

Egbert Deekeling: Entscheidend ist jetzt: Wer nimmt sich die Kommunikation? Das ist nicht mehr richtlinienmäßig die Konzern- oder Unternehmenskommunikation, das können auch die Projektleiter oder die Chief Digital Officers sein. Hier und da beobachten wir, dass die HR-Abteilung sich das nimmt. Aber es ist nicht mehr so wie früher, dass der CEO und die Unternehmenskommunikation diese Prozesse dramaturgisch und von den Ressourcen her durchsteuern. Das ist vorbei. 

Dirk Barghop: Und es kommt noch etwas hinzu: Die agilen Formate - Design Thinking und wie sie alle heißen - sind an sich schon hoch kommunikativ. Dabei wird schon viel erklärt, viel vermittelt, wird der Übergang zum Doing, zum Handeln einbezogen. Da erübrigt es sich oftmals, einen Kommunikationsprozess darüberzulegen. Das ist für die interne Kommunikation und die zentrale Kommunikation ein echtes Problem, weil ihr hier etwas wegbricht.
 

Das heißt, neue Player übernehmen eine aktive Kommunikationsrolle, und die interne Kommunikation erleidet einen Bedeutungsverlust? Was genau bricht weg? 

Dirk Barghop: Die klassische Rolle der Strategievermittlung. Die Strategie vermittelt sich unmittelbar in der Umsetzung. Und das geschieht dezentral. Hier erfährt Kommunikation einen Bedeutungsverlust. Und auch Kultur und Identitätsvermittlung sind im Rahmen einer dezentralen Aufstellung kein Thema mehr. Das muss sich die Kommunikation wieder zurückerkämpfen.  

Egbert Deekeling: Es gibt noch einen anderen Grund. Der hat mit der Digitalisierung der Kommunikation selber zu tun. Stichwort "Newsroom-Organisation", also in einer Multikanalwelt Content Marketing zu betreiben. Dabei lösen sich die Grenzen zwischen interner und externer Kommunikation auf. Wir beobachten einen Übergang zur Themenverantwortung für Inhalte, die dann aufbereitet und in alle Kanäle eingespeist werden. Also wirft schon die Digitalisierung der Kommunikation selber die Frage der Funktion der internen Kommunikation auf.  

Hinzu kommt: Früher in klassischen Change-Prozessen konnte man immer klar bestimmen, was die alte Kultur und was die neue Kultur ist. Weil man ein relativ klares Bild von den Verkrustungen und Defiziten hatte. Das ist heute nicht mehr so. Du hast keine Vorstellung mehr davon, welches die Kultur ist, wo du hin möchtest. Hier zeigt sich ein zentrales Muster der digitalen Transformation: Trial and Error, Probieren, iteratives Vorgehen. Schon vor drei Jahren haben wir gesagt: Es gibt kein Best Practice mehr, wie es in den Optimierungsprozessen der alten Change-Welt der Fall war. Dort gab es einen Industriestandard, heute gibt es keinen mehr. Spannend.
 

Das alte Muster in Change-Prozessen ist: Man analysiert die Lage, plant den Change, entwickelt eine Roadmap und rollt das top-down aus. Das neue Muster ist: Such- und Lernprozess, ergebnisoffen, man kennt das Ziel noch nicht? 

Egbert Deekeling: Exakt so! "Probiert mal!" - sowohl innerhalb des Unternehmens wie auch außerhalb. Intern: in Enklaven, in denen sich neues Denken, neue Ideen, neue Geschäftsmodelle entwickeln können. Extern: in Digital Hubs, Inkubatoren oder Start-ups. Früher kam ja keiner auf die Idee, einen Change-Prozess mit einem Start-up zu machen!
 

Worin besteht die große Herausforderung der digitalen Transformation für Unternehmen? Wie muss man sie begreifen, um richtig damit umgehen zu können? 

Egbert Deekeling: Das hängt davon ab, wie groß der Disruptionsgrad ist. Dort, wo sich Konsumptionsgewohnheiten aufgrund der Digitalisierung massiv ändern, stehen die Industrien total unter Druck und müssen sich grundlegend neu orientieren. Sie müssen ihre gesamten Geschäftsprozesse in Richtung Kunden komplett anders aufbauen. Andere Branchen sind nicht ganz so nah an der Disruption. Sie haben größere Experimentier- und Entwicklungsmöglichkeiten. Aber es gibt keine Benchmarks. Es gibt nur ein Experimentieren. Gucken und Ausprobieren. Und schauen: Wie weit kommen wir? 

Dirk Barghop: Im Rahmen der Transformation gibt es natürlich auch Zielkonflikte: weitere Effizienzsteigerung, Restrukturierung und Reorganisation auf der einen und große Innovations- und Investitionsprozesse auf der anderen Seite. Das findet oft zeitgleich statt. Die digitale Transformation erzeugt also ganz massiv auch Gewinner und Verlierer. Das kommunikativ zu managen und zu handeln, ist eine ganz wesentliche Herausforderung für die Kommunikation.
 

Sie sprechen von der Notwendigkeit einer Erneuerung des gesamten Geschäftsmodells, ja von einer generellen unternehmerischen Erneuerung. Was meint das? 

Egbert Deekeling: Wir hatten vor Jahren schon, als wir begannen, uns intensiv mit dieser neuen Form der Veränderung auseinanderzusetzen, den Begriff "Corporate Rethinking" ins Spiel gebracht. Heute ist das alles unter dem Begriff "digitale Transformation" subsumiert, auch bei uns.  

Dirk Barghop: Es meint: Bleibt nicht im Rahmen eines Geschäftsmodells, also im Rahmen klassischer Optimierungsprozesse mit dem Ziel, noch mehr Effizienz rauszuholen. Worum es geht: Geschäftsmodelle entwerfen aufgrund einer neuen, anderen Kundenwelt. Das Geschäftsmodell komplett auf den Kopf stellen. Disruptiv neue Geschäftsfelder entwickeln.  

Das verändert die Unternehmen, die in den letzten Jahren extrem auf Effizienz getrimmt wurden, natürlich ganz und gar. Sie müssen überhaupt wieder lernen, Innovation zu denken und Innovation wieder in Gang zu bekommen. Das ist den Unternehmen im Rahmen der Effizienzsteigerungsprogramme der letzten Jahre fast schon abtrainiert worden. Dafür waren oft keine Zeit und keine Ressourcen mehr da. Das meint Erneuerung. Und das verändert auch die Unternehmenskultur.
 

Welche Rolle fällt der Unternehmenskommunikation im Rahmen dieser Erneuerung zu? 

Egbert Deekeling: Vollmundig gesagt: "Der Kommunikator ist der Dramaturg des Prozesses." Das ist als Wunschgedanke richtig. In der Realität: zero! Aber ich halte den Begriff des Dramaturgen nach wie vor für richtig. Es gilt, der Transformation eine Kontextualisierung zu geben, sie zu erklären, ihren Sinn und ihre Bedeutung deutlich zu machen, Zusammenhänge mit der vorherigen Unternehmenswelt herauszuarbeiten, Vergleiche zu ziehen. Also die Geschichte, das Narrativ zur Verfügung zu stellen beziehungsweise die handelnden Personen entsprechend zu coachen. Den Masterplan aber gibt es nicht mehr. Das war das alte Muster, entlang von Meilensteinen Führungskräfteveranstaltungen zu organisieren, das Ganze dann durchzutakten und entsprechend rechts und links zu begleiten. Das ist Vergangenheit. Aber die Erklärungsaufgabe ist substanziell wichtig - wer soll das machen, wenn nicht die Kommunikatoren? 
 

Das heißt, die Kommunikation muss inhaltlicher werden und zugleich narrativer? 

Egbert Deekeling: Narrativer, ja - aber das meint mehr als Storytelling. Mit digitaler Transformation sind so viele Erklärungsaufgaben verbunden, die inhaltlich zu durchdringen und in Erzählangebote oder Argumentationen zu übersetzen sind. Was meinen Buzzwords wie Digital Leadership? Sie fragen ja auch, was digitale Transformation eigentlich meint. Jeder hat da so seine eigene Vorstellung. Aber was heißt das für das jeweilige Unternehmen, für den jeweiligen Konzern? Das ist eine inhaltliche Reflexions- und Definitionsarbeit ersten Ranges. Das ist eine originäre Aufgabe der Unternehmenskommunikation. 
 

Noch mal eine Schleife zurück. Neue Methoden und Formate werden meist unter ihrer Funktion gesehen: Scrum als Methode, Projekte zu organisieren, Design Thinking als Innovationsmethode. Ich finde Ihre Beobachtung interessant - eigentlich ist es selbstverständlich, aber eine interessante Perspektivenverschiebung -, dass dies zugleich Kommunikationsprozesse sind. Mit diesen Formaten rückt Kommunikation in den Mittelpunkt. Wird ubiquitär und zugleich zentral. 

Egbert Deekeling: Das ist ein spannender Punkt: Die neuen Formate und Methoden haben ihre Funktion im Rahmen von Produktentwicklungs- oder Innovationsprozessen -, sie sind aber zugleich auch Symbole und damit Kommunikationsinstrumente, die der Organisation zeigen: So müssen wir jetzt denken und handeln. Am Beispiel von Design Thinking oder Scrum lassen sich die neuen Prozessmuster der digitalen Transformation wunderbar veranschaulichen. 

Wir haben mit einigen Dienstleistern zu tun, die wirklich fit sind in diesen Methodikangeboten. Ich glaube aber, dass sie einem Missverständnis unterliegen. Sie wollen gerne Business-Entwickler sein, das sind sie aber nicht. Sie sind Event-Gestalter. Sie denken, mit ihrer Methodik seien sie Teil eines Prozesswandels im Kern des jeweiligen Geschäfts. Aber sie sind Teil der Event-Industrie.
 

Den Hinweis auf die symbolische Ebene von Kommunikation finde ich wichtig. Wenn man sich einen Design-Thinking-Workshop vorstellt, an dem eine Führungskraft teilnimmt, vielleicht um die Methode kennenzulernen oder inhaltlich mitzuarbeiten, und es geht dann los mit einem Warm-up - dann ist man gleich auf einer symbolischen Ebene von Interaktion, wo es diese Rolle "Ich bin Führungskraft" eigentlich nicht mehr gibt. 

Egbert Deekeling: Enthierarchisierung - ganz wichtig! Das ist hierarchiefreier Diskurs, der damit umgesetzt wird.
 

Im Grunde wird bereits auf einer symbolischen Ebene die Hierarchie, die formell vorhanden sein mag, durch die Methode ausgehebelt. 

Dirk Barghop: Ja, genau.
 

Wenn Sie sagen, Unternehmenskommunikation soll Innovationsformate als Kommunikationsformate nutzen, wie hat man sich das vorzustellen? 

Egbert Deekeling: Unternehmen müssen diese Innovationsformate in den Geschäftsprozessen selber einsetzen, sie können sie aber auch als ein Kulturinstrument nutzen: um Abteilungen zu führen, um an bestimmten Aufgaben zu arbeiten oder sie zum großen Exerzitium auf Großveranstaltungen zu machen. Unternehmen haben viele Möglichkeiten, mit diesen Formaten und Methoden kommunikativ und kulturell zu arbeiten. Das meinen wir damit: Überlass das Innovationserlebnis nicht den Innovatoren, sondern nutze diese neuen Innovationsformate auch für den Kulturwandel! Die Effekte, die wir damit erlebt haben, sind einfach phänomenal! Das macht auch Spaß! 

Dirk Barghop: Das ist Teil der Neudefinition einer gestaltenden Rolle von Kommunikation. Diese muss ja selber auch demonstrieren: Wir gehen da voran. Wenn Kommunikation Veränderung im Unternehmen mit treiben und gestalten will, dann müssen die Formate, die dabei genutzt werden, das auch selbst zum Ausdruck bringen. Es muss sichtbar werden, dass die Kommunikation in einem erneuerten Verständnis auftritt. Dafür sind diese Formate natürlich genau das Richtige.
 

Braucht es dafür überhaupt noch die Unternehmenskommunikation? Reicht es nicht, wenn wir Scrum Master und ausgebildete Design Thinker haben? Und, mehr noch, die Mitarbeiter selber lernen, mit diesen neuen Formaten zu arbeiten? 

Egbert Deekeling: Wir erleben heute schon Abwehrreaktionen auf Scrum und solche Formate, wo diese sinnentleert und nicht reflektiert eingesetzt werden. Und das Ganze gewissermaßen zu so einer Art Zwangsveranstaltung wird. Das zeigt: Es findet keine Anpassungsleistung statt, es findet keine Kontextualisierung statt! Die Mitarbeiter und Führungskräfte werden hier belästigt. Sie bringen die Methodik, die einen Kulturwandel ausdrückt, nicht mit ihrem Alltag in Verbindung. Das erzeugt Abwehreffekte. Das erleben wir hier und da recht heftig. 

Dirk Barghop: Da wird eine Innovationsmethodik geliefert, aber nicht die dazugehörige Veränderungsdidaktik. Genau das wäre die Aufgabe von Kommunikation: das wieder zusammenzubringen.
 

Das heißt, diese neuen Formate bekommen unter dem Aspekt von Kommunikation und Kultur noch mal eine andere Bedeutung? 

Egbert Deekeling: Sie sind Ausdruck eines Kulturwandels. Neues Denken, neues Arbeiten, die Bedeutung der Kunden für den Entwicklungsprozess, die kurzzeitige Taktung und Optimierung von Produktentwicklungen - das alles demonstriert zugleich, wie die neue Kultur aussieht. Das Problem ist nur: Die Scrum-Methode zum Beispiel kommt aus der IT und aus der Softwareentwicklung, dort ist das eine hochfunktionale Methodik. Irgendwo anders eingesetzt, muss man das kontextualisieren. Was meint das für unseren Zusammenhang? Sonst entsteht der beschriebene Belästigungs- und Entfremdungseffekt. 
 

Die Eingangsdiagnose klang ja einigermaßen düster: Unternehmenskommunikation führt ein Schattendasein in der digitalen Transformation. Jetzt sagen Sie: Sie bekommt eine neue Relevanz. Worin besteht diese neue Relevanz, ganz kurz gesagt? 

Egbert Deekeling: In einer ganz klaren Besinnung auf die Erklärrolle. Auf das Deutlichmachen für alle Beteiligten. Die Unternehmenskommunikation wird diese Prozesse nicht treiben, sie wird auch die Kommunikation zu einem guten Teil den Prozessgestaltern überlassen müssen. Das lässt sich nicht mehr wegzentralisieren - hier Projektleitung, da Kommunikation. Sondern die Projektleiter müssen die Prozesse und die Kommunikation mit übernehmen. Aber die Erklärungen, die Inhalte, die Narrative, die Kontexte müssen geliefert werden, denn das ist massive Arbeit. Sie können aber nur angeboten, nicht mehr durchgesetzt werden. Das ist der Unterschied. 

Dirk Barghop: Ein anderer Punkt: Die starke Dezentralisierung, die wir im Augenblick erleben, hat natürlich Auswirkungen auf die Identität des Unternehmens. Was hält dieses Unternehmen eigentlich zusammen? Was macht Zusammengehörigkeit aus? Was Zugehörigkeit? Auch das ist ein wichtiges Thema, um das Kommunikation sich kümmern muss. Ihre Verantwortung ist es, wieder sichtbar zu machen, wofür ein Unternehmen steht und was es zusammenhält - sonst entstehen Zentrifugalkräfte, die am Ende wieder Ineffizienzen erzeugen werden. Also: gemeinsame Identität. Was hält uns zusammen? Was macht uns aus? Das sind Themen für die Kommunikation, und sie stärken ihre Relevanz.
 


Das Interview haben wir telefonisch geführt. 


Zitate


"Unternehmen werden deutlich dezentraler." Egbert Deekeling, Dirk Barghop: Transformation erklären

"Wir treffen in der Industrie auf Denk- und Mentalitätsmuster, die total produktionsbestimmt sind. Da geht es um Produkte, um Produktionsketten, um Lieferketten und dergleichen mehr. Doch mit der digitalen Transformation stellt sich die Frage von der Transaktionsseite her. Die Transaktion zwischen Kunde und Unternehmen wird zentral." Egbert Deekeling, Dirk Barghop: Transformation erklären

"Die interne Kommunikation gerät durch die digitale Transformation in Gefahr, ihre gestaltende Rolle zu verlieren, die sie bisher in Veränderungsprozessen innehatte." Egbert Deekeling, Dirk Barghop: Transformation erklären

"Entscheidend ist jetzt: Wer nimmt sich die Kommunikation?" Egbert Deekeling, Dirk Barghop: Transformation erklären

"Die agilen Formate - Design Thinking und wie sie alle heißen - sind an sich schon hoch kommunikativ. Dabei wird schon viel erklärt, viel vermittelt, wird der Übergang zum Doing, zum Handeln einbezogen. Da erübrigt es sich oftmals, einen Kommunikationsprozess darüberzulegen." Egbert Deekeling, Dirk Barghop: Transformation erklären

"Die Strategie vermittelt sich unmittelbar in der Umsetzung. Und das geschieht dezentral." Egbert Deekeling, Dirk Barghop: Transformation erklären

"Es gibt keine Benchmarks, keine Best Practice. Es gibt nur ein Experimentieren. Gucken und Ausprobieren. Und schauen: Wie weit kommen wir?" Egbert Deekeling, Dirk Barghop: Transformation erklären

"Du hast keine Vorstellung mehr davon, welches die Kultur ist, wo du hin möchtest. Hier zeigt sich ein zentrales Muster der digitalen Transformation: Trial and Error, Probieren, iteratives Vorgehen." Egbert Deekeling, Dirk Barghop: Transformation erklären

"Es gilt, der Transformation eine Kontextualisierung zu geben, sie zu erklären, ihren Sinn und ihre Bedeutung deutlich zu machen, Zusammenhänge mit der vorherigen Unternehmenswelt herauszuarbeiten, Vergleiche zu ziehen. Also die Geschichte, das Narrativ zur Verfügung zu stellen." Egbert Deekeling, Dirk Barghop: Transformation erklären

"Überlass das Innovationserlebnis nicht den Innovatoren, sondern nutze diese neuen Innovationsformate auch für den Kulturwandel!" Egbert Deekeling, Dirk Barghop: Transformation erklären

"Es muss sichtbar werden, dass die Kommunikation in einem erneuerten Verständnis auftritt." Egbert Deekeling, Dirk Barghop: Transformation erklären

"Gemeinsame Identität. Was hält uns zusammen? Was macht uns aus? Das sind Themen für die Kommunikation, und sie stärken ihre Relevanz." Egbert Deekeling, Dirk Barghop: Transformation erklären

"‚Der Kommunikator ist der Dramaturg des Prozesses.‘ Das ist als Wunschgedanke richtig. In der Realität: zero!" Egbert Deekeling, Dirk Barghop: Transformation erklären

 

changeX 03.11.2017. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Zum Buch

: Kommunikation in der digitalen Transformation. Verlag Springer Gabler, Wiesbaden 2017, 143 Seiten, 29.99 Euro (D), ISBN 978-3-658-17630-3

Kommunikation in der digitalen Transformation

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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