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Ich will mehr - wissen

Quereinsteiger in Bildung wollen vor allem ihr Wissen erweitern - ein Interview mit Thomas Freiling
Text: Winfried Kretschmer

Ich will mehr wissen; da ist noch was drin; ich habe mein Potenzial noch nicht ausgeschöpft. Das motiviert Menschen, aus dem Beruf heraus ein Studium oder einen Berufsabschluss anzugehen. Mehr Geld und beruflicher Aufstieg spielen nicht die entscheidende Rolle. Quereinstieg in Bildung ist lebenslanges Lernen konkret. Nur wird dafür viel zu wenig getan.

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Mehr wissen, sich weiterbilden, noch ein Studium absolvieren: das sind wichtige Motive für Quereinsteiger, die aus dem Beruf heraus einen Bildungsabschluss anstreben - nicht so sehr beruflicher Aufstieg und mehr Geld. Dieses überraschende Ergebnis hat eine Studie erbracht, die sich mit Motivlagen, Hürden, Erfolgskriterien und Nutzen des Quereinstiegs in Bildung beschäftigt hat. Sie zeigt zugleich bildungspolitische Defizite auf: In Deutschland werden Quereinsteiger weitgehend allein gelassen. Es gibt zu wenig Information und zu wenig Modelle, wie sich Beruf und Weiterbildung unter einen Hut bringen lassen. Und deshalb gibt es hierzulande auch viel zu wenig Quersteiger in Bildung. Das Potenzial ist da, allein es fehlt der Wille. changeX hat mit einem der Autoren der Studie gesprochen.
Thomas Freiling ist stellvertretender Leiter des Projektbereichs Weiterbildung im Forschungsinstitut Betriebliche Bildung (f-bb) in Nürnberg. Er ist Co-Autor der Studie Qualifikationsreserven durch Quereinstieg nutzen.
 

Wer auf dem deutschen Arbeitsmarkt Erfolg haben will, braucht eine abgeschlossene Berufsausbildung oder einen akademischen Abschluss. Gilt dieses Credo noch? 

Das gilt immer mehr. Man sieht das nicht zuletzt daran, dass der Bedarf an einfachen Tätigkeiten für gering Qualifizierte - also Personen ohne einen beruflichen Ausbildungsabschluss - zukünftig weiter abnimmt. Das zeigen beispielsweise aktuelle Ergebnisse des Bildungsberichts 2010. Dadurch wird die Relevanz von Abschlüssen steigen. Deshalb sollten Zugangswege zu Abschlüssen weiter diversifiziert und erleichtert werden.
 

Und deshalb steigt die Bedeutung des Quereinstiegs? 

Auf jeden Fall, der Quereinstieg wird wichtiger. Der demografische Wandel hat zur Folge, dass auf dem Arbeitsmarkt potenziell weniger Fachkräfte zur Verfügung stehen. Eine wichtige bildungspolitische Strategie ist es, das Potenzial derjenigen auszuschöpfen, die erst noch einen Berufsabschluss erwerben müssen, und denjenigen ein Studium zu ermöglichen, die nicht die allgemeine Hochschulzugangsberechtigung besitzen. Es gilt also jene mehr zu fördern, die bisher nicht im bildungspolitischen Fokus standen. Mehr Durchlässigkeit im Bildungs- und Beschäftigungssystem ist eine zentrale bildungspolitische Forderung.
Zudem muss bedacht werden, dass der Quereinstieg einen Beitrag zur Herstellung von mehr Bildungsgerechtigkeit leistet, indem beispielsweise der Zugang zu Bildungsabschlüssen weiter diversifiziert und dadurch auch für Personen aus bildungsfernen Familien erleichtert wird. Ungleich verteilte Bildungschancen können so im Verlauf der Bildungs- und Berufskarriere besser kompensiert werden.
 

Sie haben sich in Ihrer Studie mit Quereinsteigern beschäftigt. Was verbirgt sich hinter dem Begriff? Was sind das für Leute? 

Bei den Studierenden sind es beispielsweise Personen, die nicht über eine herkömmliche Studienberechtigung verfügen. Weniger formal ausgedrückt sind es Personen, die ihr Potenzial in ihrer bisherigen Bildungs- und Berufsbiografie noch nicht ausschöpfen konnten. Vor allen Dingen sind es Menschen, die mehr Potenzial in sich sehen. Personen, die den Quereinstieg wagen, gibt es in Deutschland noch viel zu wenig. Derzeit sind ja gerade mal knapp ein Prozent aller Studienanfänger Quereinsteiger, also Personen, die über besondere Zulassungsregelungen für Berufstätige ins Studium gekommen sind. Dieser Anteil muss deutlich erhöht werden. Dafür gibt es entsprechende bildungspolitisch motivierte Unterstützungsleistungen, wie die Finanzierung eines Studiums über die sogenannten Aufstiegsstipendien.
 

Was motiviert Quereinsteiger denn zur Weiterbildung? 

Wir haben unterschiedliche Motivlagen gefunden. Bei den persönlichen Motiven ist es vor allem der Wunsch, den Wissensdurst zu stillen, die Wissensbasis zu erweitern und seine Kompetenzen auszubauen. Also ein inhaltliches, thematisches Interesse, Motto: "Ich kann schon was, aber ich will noch mehr!" Zweitens ist da das Motiv, sich einen Studienwunsch zu erfüllen und noch ein Studium zu absolvieren. Eine Rolle spielt auch, sich zu beweisen, dass man "es kann". Dahinter steht der Wunsch, Bestätigung zu erhalten und den Ansprüchen gerecht zu werden.
Bei den beruflichen Motiven ist uns aufgefallen, dass der berufliche Aufstieg, also beispielsweise verbunden mit einer Einkommenssteigerung oder der Verbesserung seiner beruflichen Position, gar nicht an erster Stelle rangiert. Vielmehr spielen bei den Befragten Veränderungswünsche eine entscheidende Rolle: Sein Fachwissen erweitern, das Tätigkeitsniveau erhöhen, Beschäftigungsalternativen zur bisherigen Tätigkeit eröffnen oder auch die Arbeitsplatzsicherheit erhöhen. Also Veränderung und Wissenserweiterung, nicht so sehr Aufstieg.
 

Welche Typen haben Sie herausgearbeitet? 

Wir haben vier Persönlichkeitstypen des Quereinstiegs identifiziert: Aufsteiger, Selbstverwirklicher, Patchworker und Pragmatiker. Aufsteiger sind erfolgreich im Beruf. Sie verfolgen vorrangig berufliche Aufstiegsmotive, wollen ein höheres Einkommen erzielen oder ihre berufliche Position verbessern. Pragmatiker verfügen bereits über eine solide Bildung; auch sie verfolgen primär berufliche Motive beim Quereinstieg. Die beiden anderen Typen haben es hingegen eher auf eine Erweiterung ihres fachlichen Horizonts abgesehen. Sie sagen, Bildung ist ein hohes Gut, und daran will ich weiter partizipieren. Sie stellen nicht so sehr den beruflichen Nutzen in den Mittelpunkt, sondern die Wissenserweiterung. Das sind also durchaus unterschiedliche Motivlagen, die nebeneinanderstehen.
 

Weiterbildung ist den Leuten wichtiger als Erfolg? Das überrascht. Man würde zunächst ja vermuten, dass die Leute einfach mehr erreichen wollen ... 

Das Aufstiegsmotiv ist bei einigen vorhanden und identifizierbar. Ich will das gar nicht kleinreden. Diese Menschen, die sehr interessiert und motiviert sind und sich als Leistungsträger empfehlen, wählen eine aufstiegsorientierte Strategie mit einem festen Ziel: den beruflichen Erfolg zu erweitern.
Ich möchte den Blick aber erweitern. Es müssen beide Motive betrachtet werden, also auch das Bildungsmotiv: Hier sind aktive und interessierte Menschen, die sich sagen: "Da ist noch mehr da drin!", die an ihrer Bildungsbiografie arbeiten wollen. Den Quereinstieg zu fördern bedeutet somit gleichzeitig eine Förderung lebenslangen Lernens. Das geht fast nahtlos ineinander über.
 

Wenn bildungsökonomische Motive nicht die Rolle spielen, die man ihnen zugedacht hatte, was bedeutet das für die Ansprache der Menschen? Muss man die vielleicht anders abholen? 

Aufsteiger werden bereits durch entsprechende Förderprogramme, auch finanzieller Art, sehr gezielt angesprochen. Beruflicher Aufstieg und finanzielles Mehreinkommen reizen aber eben nur einen Teil der Interessenten zum Quereinstieg - aber nicht alle. Wenn es darum geht, die Fachkräftebasis zu erweitern und die Quereinstiegszahlen zu erhöhen, sollten aber auch die anderen Gruppen gezielter angesprochen werden.
 

Haben Sie in Ihren Interviews erfahren können, wo die Hemmnisse für den Quereinstieg liegen und wo sich die Leute Verbesserungen erwarten? 

Einmal wurde das Studium selbst benannt: Da ist der Wunsch, möglichst flexibel studieren zu können und dafür den Beruf nicht unterbrechen zu müssen. Da ist auch der Wunsch, Beratung und Information zu bekommen, wenn man aus der Berufstätigkeit heraus an die Hochschule geht: als Einstiegshilfe im Vorfeld, aber auch begleitend während des Studiums selbst.
Das ist wichtig, denn Quereinsteiger lernen anders. Sie lernen sehr selbständig, sehr ziel- und wissensorientiert auf Grundlage beruflicher Erfahrungen. Einzelne Hochschulen nehmen sich bereits der Zielgruppe der Quereinsteiger an, aber das macht bei Weitem noch nicht jede Hochschule. Zukünftig werden sie aber nicht umhinkönnen, sich mit flexiblen Studienmodellen für Berufstätige zu beschäftigen. In Bayern ist beispielsweise zu erkennen, dass zunehmend berufsbegleitende Bachelor-Studiengänge entstehen. In anderen Bundesländern aber auch.
 

Das betrifft diejenigen, die schon mit dem Gedanken spielen, sich weiterzubilden. Wie kann man es gesellschaftlich fördern, vermehrt Bildungschancen zu ergreifen - oder sie vielleicht erst mal zu sehen? 

Das gelingt beispielsweise über Multiplikatoren: die Betriebe, die Verbände, die Kammern oder die Arbeitsverwaltung vor Ort, die über die Möglichkeiten des Quereinstiegs informieren können. Entscheidend ist, mehr und detailliertere Informationen über Quereinstiegsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen: Was muss ich beachten, wenn ich arbeite und noch einen Studienabschluss machen will? Dazu benötigt man ganz viele Informationen. Denn es ist erforderlich, seinen Arbeitsalltag umzustellen, gegebenenfalls die Arbeitszeitregelungen anzupassen, das Studium in den Lebens- und Berufsalltag zu integrieren und die Familie und Freizeitinteressen zu berücksichtigen - da ist eine Vielzahl von Faktoren zu bedenken. Im Moment sind diejenigen, die einen Quereinstieg wagen, noch etwas allein gelassen.
 

Was können, was sollen Unternehmen tun?  

Unternehmen und Arbeitgeber insgesamt müssen sich mit Blick auf zukünftig benötigte Fachkräfte Gedanken machen, welche alternativen Rekrutierungswege es denn noch gibt, als nur qualifizierte Personen auf dem Arbeitsmarkt anzusprechen. Ein Ansatzpunkt ist es, eben die Personen zu qualifizieren, die schon im Unternehmen sind. Das ist die Option Quereinstieg. Und das verlangt die Entwicklung alternativer Karrierepfade in enger Verzahnung von betrieblicher Personalentwicklung mit den Hochschulen.
 

Konkret? 

In großen Konzernen haben Mitarbeiter leichter die Möglichkeit zu studieren, nicht selten in den eigenen Corporate Universities. Kleinere mittelständische Unternehmen - also die vielen KMU - haben diese Ressourcen in der Regel nicht, werden aber gefordert sein, vergleichbare Modelle zu entwickeln. Wie kann ich beispielsweise einen Schlosser zum Ingenieur qualifizieren? Wie ist das zu organisieren? Welche Inhalte, welche Vorbereitungsmöglichkeiten muss es geben? Welche Freistellungsregelungen sind sinnvoll? Wie lässt sich die Verbindung von Beruf und Familie unterstützen? Dazu bedarf es betrieblicher Modelle. Klein- und mittelständische Unternehmen werden das aber nicht alleine bewältigen können. Daher gilt es von bildungspolitischer Seite, betriebliche Bildungsinnovationen zu fördern.
 


changeX 30.08.2011. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Zum Buch

: Qualifikationsreserven durch Quereinstieg nutzen. Studium ohne Abitur, Berufsabschluss ohne Ausbildung. W. Bertelsmann Verlag, Bielefeld 2011, 256 Seiten, ISBN 978-3-7639-3607-6

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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