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Unmittelbar, gleichzeitig und interaktiv

"Beim Crowdfunding gibt es keine Gatekeeper" - ein Interview mit Anna Theil von Startnext
Interview: Winfried Kretschmer

Crowdfunding ist (sozusagen) in aller Munde. Wohl beinahe jeder kennt den Begriff und weiß, was damit gemeint ist: Viele Menschen finanzieren gemeinsam eine Idee, ein Projekt oder ein Unternehmen. Doch Crowdfunding ist mehr als ein neuartiges Finanzierungsinstrument. Die unmittelbare Einbindung potenzieller Nutzer verändert die Art und Weise, wie Projekte organisiert werden. Was früher steril in Phasen getrennt ablief - Finanzierung, Marketing und Vertrieb -, verdichtet sich beim Crowdfunding zu einer Kampagne. Alles passiert unmittelbar, gleichzeitig und interaktiv.

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Crowdfunding kennt beinahe jede und jeder. Doch lohnt es, genauer hinzuschauen. Fragen wir Anna Theil. Anna Theil, studierte Kommunikations- und Medienwissenschaftlerin, ist seit 2010 bei Startnext für die Kommunikation verantwortlich. Sie ist Mitautorin des Crowdfunding-Handbuchs.
 

Frau Theil, wie ist Crowdfunding eigentlich entstanden? Und was ist die Grundidee, ganz kurz? 

Die Idee hinter Crowdfunding ist einfach: Viele Menschen (crowd) finanzieren (fund) gemeinsam eine Idee, ein Projekt oder ein Unternehmen. Entstanden ist Crowdfunding 2003 in der Musikbranche. Der Begriff Crowdfunding wurde dann von dem Autor und Blogger Jeff Howe um das Jahr 2006 geprägt. In Deutschland sind die ersten Crowdfunding-Plattformen bald darauf gestartet: Startnext als erste Crowdfunding-Plattform 2010 und Seedmatch als erste Crowdinvesting-Plattform im Jahr 2011.
 

Crowdfunding, Crowdinvesting - es gibt unterschiedliche Formen. Sie unterscheiden vier Modelle?  

Genau, es wird zwischen vier Ausprägungen von Crowdfunding unterschieden, die davon abhängig sind, welche Gegenleistung der Unterstützer bekommt:  

Beim Crowdfunding oder reward-based crowdfunding bekommen die Unterstützer eine Gegenleistung, in der Regel das fertige Produkt wie zum Beispiel das Buch, das Designprodukt, die DVD, das Album. 

Beim Crowdinvesting oder equity-based crowdfunding investieren die Unterstützer in ein Unternehmen und werden am möglichen Gewinn beteiligt. Es handelt sich um Risikokapital, das heißt, jedes Investment kann einen Totalverlust zur Folge haben. 

Beim Crowdlending oder lending-based crowdfunding verleihen die Unterstützer Geld an den Starter, der das Geld dann verzinst oder unverzinst zurückzahlt. 

Schließlich gibt es eine Form, die sich vor allem für die Unterstützung sozialer Projekte etabliert hat: Spenden oder donation-based crowdfunding. Hier spenden Unterstützer das Geld und bekommen keine Gegenleistung. Wenn der Starter gemeinnützig ist, kann der Unterstützer eine Spendenquittung bekommen. 
 

Das erste Modell ist die Form, die gemeinhin mit dem Begriff identifiziert wird? 

Ja, das reward-based-Modell wird gemeinhin mit dem Begriff Crowdfunding identifiziert. Es eignet sich vor allem für Start-ups und kulturelle, kreative, gesellschaftliche, ökologische Projekte oder Sportprojekte.
 

Die Funktion ist dieselbe wie bei einem Investment oder einem Kredit: fremdes Geld zu bekommen. Im Unterschied zu konventionellen Finanzierungsformen gibt es aber besondere Effekte, die mit der Crowd zusammenhängen. Welche sind das? 

Der große Vorteil von Crowdfunding liegt darin, dass sich Finanzierung, Marketing und Vertrieb verknüpfen lassen. Was im klassischen Projektverlauf nacheinander abläuft, passiert beim Crowdfunding während einer Kampagne gleichzeitig. Die frühzeitige Einbindung der potenziellen Konsumenten oder des Publikums in die Entwicklung von Projekten und Produkten bietet Kreativen und Machern vollkommen neue Möglichkeiten der Potenzial- und Marktanalyse. Die Resonanz der Community auf eine Projektidee ist ein früher Indikator für die Erfolgschancen. 

Beim Crowdfunding geht es also nicht nur um die Finanzierung, sondern vor allem auch um die Kommunikation der Idee - und zwar wechselseitig und interaktiv. Die Initiatoren informieren über das Projekt und bekommen daraufhin Feedback von der Crowd. Sie können ihre Unterstützer und Fans gezielt um Rat, Entscheidungshilfe oder Antwort auf fachliche Fragen bitten. Damit binden sie diese bereits in der Planungsphase mit in das Projekt ein, verbessern so das Ergebnis und gewinnen an Reichweite.
 

Und im Unterschied zur konventionellen Finanzierung gibt es zudem keine Instanzen, die entscheiden: ob das Projekt zugelassen wird, ob es weiterkommt, ob es finanziert wird. Das alles übernimmt die Crowd? 

Genau, beim Crowdfunding gibt es keine Gatekeeper. Vielmehr hat jeder die Chance, seine Idee vorzustellen - und zwar unmittelbar allen, die sich vielleicht dafür interessieren. Wer möchte, dass die Idee Wirklichkeit wird, kann sie mit einem selbst gewählten Betrag unterstützen.
 

Das Modell ähnelt also der Subskription, die sich im 17. Jahrhundert im Buchhandel entwickelt hat? 

Richtig, nur dass wir dank der digitalen Vernetzung die Möglichkeit haben, Ideen schneller und vor allem kostengünstig mit allen zu teilen und mit Crowdfunding dann auch direkt zu finanzieren. Für das Publikum und die Konsumenten verändert Crowdfunding die Art und Weise, wie sie Ideen entdecken, sich direkt mit den Machern vernetzen und dazu beitragen können, dass neue Ideen Wirklichkeit werden.
 

Gibt es Unterschiede zwischen Deutschland beziehungsweise Europa und den USA? 

Ein wichtiger Unterschied ist sicherlich, dass wir in Deutschland und Europa einen anderen kulturellen und gesellschaftlichen Hintergrund haben. In Deutschland werden viele Projekte bislang über öffentliche Förderung finanziert. Die private Förderung von neuen Ideen und Unternehmen, wie sie in den USA weitverbreitet ist, ist hierzulande hingegen noch ein junges Thema. Die Crowdfunding-Plattformen leisten hier Pionierarbeit. Ihr Wachstum zeigt, welche Potenziale im Crowdfunding in Deutschland und Europa stecken.
 

Gibt es Zahlen, welches Finanzierungsvolumen Crowdfunding mittlerweile erreicht hat? 

Ja, die Cambridge University erhebt einmal im Jahr Zahlen zur Entwicklung von Crowdfunding in Europa. 2015 wurden über Crowdfunding 5,4 Milliarden Euro gesammelt, mit einem Wachstum von 90 Prozent gegenüber 2014. Vorreiter ist Großbritannien, danach kommt Frankreich, und Deutschland rangiert auf Platz drei.
 

Auch in Deutschland haben sich ganz unterschiedliche Plattformen für Crowdfunding etabliert. Es ist nicht ganz leicht zu überblicken, was diese auszeichnet und worin sie sich unterscheiden. Worauf ist zu achten? 

Bei der Auswahl einer Crowdfunding-Plattform würde ich als Projektstarter vor allem auf folgende Punkte achten: inhaltliche Ausrichtung, Gebühren, Services, Netzwerk, Funktionen, Bezahlmethoden, Design und Reichweite. Im reward-based crowdfunding ist Startnext im deutschsprachigen Raum Marktführer, im englischen Sprachraum sind es Indiegogo und Kickstarter. Im equity-based crowdfunding ist in Deutschland aktuell Companisto führend, im donation-based crowdfunding die Plattform betterplace.org.
 

Sie sind von Startnext. Worin unterscheidet sich Startnext von den anderen Plattformen? Und wie sieht das Geschäftsmodell aus? 

Startnext ist aktuell die größte Crowdfunding-Community im deutschsprachigen Raum und besonders bekannt für die Finanzierung von kulturellen, kreativen und nachhaltigen Ideen, Projekten und Start-ups. Wir legen großen Wert auf die Betreuung der Projektstarter mit individuellem Feedback, mit Sprechstunden, Beratungen oder Workshops. Damit gelingt es uns, 55 Prozent der Projekte erfolgreich zu finanzieren. Zum Vergleich sind es bei Kickstarter 35 Prozent und bei Indiegogo zehn Prozent. Auf Startnext bieten wir zudem die größtmögliche Vielfalt an Bezahlmethoden an, die vor allem Unterstützer aus dem deutschsprachigen Raum gerne nutzen.  

Auch unser Geschäftsmodell unterscheidet sich von anderen Crowdfunding-Plattformen: Bei uns entscheidet der Projektstarter nach seiner erfolgreichen Kampagne selbst, mit welchem Betrag er Startnext unterstützt.
 

Und das funktioniert? Wie viel Prozent geben die Projektstarter denn so ab? 

Ja, das funktioniert. Die Projektstarter geben im Durchschnitt drei Prozent.
 

Wie viele Projekte haben Sie bereits abgewickelt? 

Über 4.400 Projekte haben wir seit unserem Start im Herbst 2010 erfolgreich finanziert.
 

Wie ist das Verhältnis der Plattformen untereinander - Konkurrenz oder Arbeitsteilung? 

Eher Arbeitsteilung.
 

Wie läuft ein Crowdfunding-Projekt konkret ab? 

Erstens - Projekt anlegen: Man legt sein Projekt auf einer Crowdfunding-Plattform an, beschreibt seine Idee, legt das Fundingziel fest, dreht ein kurzes Pitch-Video und fügt Bilder und Dankeschöns für die Unterstützer hinzu. 

Zweitens - Finanzierungsphase starten: Hier gilt: "Kommuniziere deine Idee und begeistere dein Netzwerk!" In der Finanzierungsphase kann jeder das Projekt unterstützen und Dankeschöns buchen. 

Drittens - alles oder nichts: Wenn das Projekt erfolgreich finanziert wird, bekommt der Initiator das Geld ausgezahlt und kann seine Idee verwirklichen.
 

Ein Unterstützer gibt also eine Finanzierungszusage, die erst fällig wird, wenn die Finanzierungsschwelle erreicht ist - dann erst wird das Geld eingezogen? 

Im Grunde ja, allerdings variiert das bei den Bezahlmethoden. Bei Lastschrift und Kreditkarte wird das Geld erst eingezogen, wenn das Projekt erfolgreich ist. Bei Sofortüberweisung und Vorkasse-Überweisung geht das Geld schon vorher auf ein Treuhandkonto und wird, falls das Projekt nicht das Fundingziel erreicht, an die Unterstützer zurücküberwiesen.
 

Noch mal zu den Gegenleistungen, die Unterstützer erhalten. Das kann die zu finanzierende Leistung sein, muss aber nicht, oder? 

Genau. In der Regel wird als Gegenleistung das fertige Produkt angeboten. Aber auch ideelle Gegenleistungen oder Services sind möglich. Etwa die Nennung im Abspann eines Films oder im Booklet einer CD, eine Einladung zur Premiere oder einer exklusiven Vorstellung oder ein Besuch am Set während der Produktion.
 

Welche Projekte eignen sich für Crowdfunding?  

Projekte, die eine gute Idee, ein innovatives Produkt, ein klares Ziel oder eine wichtige Botschaft haben. Die erfolgreichsten Crowdfunding-Projekte sind die, die jeder gleich verstehen und weitererzählen kann.
 

Und welche nicht? 

Komplexe Projekte sind oftmals nicht einfach zu finanzieren, da sie nicht so einfach auf den Punkt gebracht werden können.
 

Welches Potenzial besitzt Crowdfunding auf lange Sicht? Nischenfinanzierung oder ernst zu nehmende Alternative zu herkömmlichen Finanzierungsformen? 

Aus meiner Sicht ist es eine wichtige Finanzierungsalternative, da es beim Crowdfunding nicht nur um Geld geht, sondern um die Verbindung von Kommunikation, Finanzierung und Vertrieb und sich alleine dadurch von allen anderen Finanzierungsoptionen unterscheidet. Damit sind Crowdfunding-Plattformen zugleich Ideenplattformen, Inkubatoren, Netzwerk, Labore und Suchmaschine für gute Ideen.
 

Und was begeistert Sie persönlich daran? 

Wir engagieren uns mit Startnext neben kreativen Ideen auch für nachhaltige Projekte und gesellschaftliche Innovationen, die die Wirtschaft oder Gesellschaft verändern können. Da sind viele Projekte dabei, die mich begeistern und inspirieren und die oftmals ohne die Unterstützung der Crowd nicht hätten starten können.
 

Das Interview haben wir schriftlich in einer Frage- und einer Nachfragerunde geführt.
 


Zitate


"Crowdfunding ist eine wichtige Finanzierungsalternative, da es nicht nur um Geld geht, sondern um die Verbindung von Kommunikation, Finanzierung und Vertrieb." Anna Theil: Unmittelbar, gleichzeitig und interaktiv

"Die Resonanz der Community auf eine Projektidee ist ein früher Indikator für die Erfolgschancen." Anna Theil: Unmittelbar, gleichzeitig und interaktiv

"Beim Crowdfunding geht es nicht nur um die Finanzierung, sondern vor allem auch um die Kommunikation der Idee - und zwar wechselseitig und interaktiv." Anna Theil: Unmittelbar, gleichzeitig und interaktiv

"Beim Crowdfunding gibt es keine Gatekeeper." Anna Theil: Unmittelbar, gleichzeitig und interaktiv

"Crowdfunding-Plattformen sind zugleich Ideenplattformen, Inkubatoren, Netzwerk, Labore und Suchmaschine für gute Ideen." Anna Theil: Unmittelbar, gleichzeitig und interaktiv

 

changeX 10.02.2017. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Zum Buch

: Das Crowdfunding-Handbuch. Ideen gemeinsam finanzieren. orange press, Freiburg 2015, 240 Seiten, 20 Euro, ISBN 978-3-936086-80-5

Das Crowdfunding-Handbuch

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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