Konsequent inspirierend

Falling Walls - eine Konferenz sucht den Brückenschlag zwischen den Disziplinen
Text: Jost Burger

Wer geistige Mauern einreißen will, bleibt schnell in Klischees stecken. Da kann die Absicht noch so gut sein. Der Falling Walls Conference in Berlin gelang das Kunststück, diese Klippe zu umschiffen. Das liegt vor allem am konsequent umgesetzten Konzept - und einem charmanten jungen Mann.

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Draußen ist es kalt und regnerisch, vorschriftsmäßiges Wetter für einen Novembertag in Berlin. Doch im Radialsystem am Ostbahnhof fliegen die Funken. Beziehungsweise die Mauersteine. Denn dort fand am Vorabend des 21. Jahrestages des Mauerfalls die zweite Falling Walls Conference statt. Und wie schon im vergangenen Jahr gelang es der Veranstaltung - organisiert von der gleichnamigen Stiftung - Mauern einzureißen. Inspirierende Ausblicke zu geben auf wissenschaftliche Durchbrüche des 21. Jahrhunderts, die unser Leben in den kommenden Jahren verändern werden. Wege aufzuzeigen zur Lösung brennender Zukunftsfragen. Können wir Aids bald per Stammzellentherapie heilen? Ist Mitgefühl trainierbar? Gibt es Innovation auch ohne Privatwirtschaft? Wie filmt man chemische Reaktionen auf molekularer Ebene, was kann die Ethnografie zur Medikamentenversorgung in der Dritten Welt beitragen, und wieso können mittelalterliche Schriften aus Syrien den modernen Religionsdialog voranbringen?  

So etwas kann auch schiefgehen. Eine Veranstaltung, die zum letztjährigen Jubiläum des Mauerfalls ins Leben gerufen wurde und dieses Geburtsmotto auch noch im Namen trägt, muss zunächst einmal Skepsis auslösen. Zu oft hat man in den vergangenen 20 Jahren von einzureißenden Mauern gehört, gelesen und geschrieben. Kaum ein Bild, das noch nicht verwendet und bis zum Erbrechen wiederholt wurde. Zwischen Rhein und Oder, zwischen Bodensee und Bodden dürfte mittlerweile auch der letzten, klitzekleinsten symbolischen, geistigen und kulturellen Mauer der Einsturz anempfohlen worden sein. Und dann rufen Menschen zu einer Konferenz auf, bei der es um Mauerdurchbrüche in der Wissenschaft geht? Und am Ende fordert noch einer, die Mauer in den Köpfen müsse endlich weg ...


Einblicke in kleine Revolutionen der Erkenntnis


Keine Angst. Die im ausgehenden 20. Jahrhundert am konsequentesten ins Nirvana zitierte deutsche Phrase benutzte an diesem Tag niemand. Dafür sprühte der Geist nur so um sich und hatte keine Mühe, die ehrwürdigen Backsteinmauern des ehemaligen Pumpwerks an der Spree zu überwinden. 20 Vertreter der sagenumwobenen Spezies der Topwissenschaftler aus aller Welt gaben sich die Ehre - und den Teilnehmern Einblicke in die kleinen Revolutionen der Erkenntnis, mit denen sie sich gerade beschäftigen.  

Zum Beispiel Doug Guthrie. Der Wirtschaftswissenschaftler an der George Washington University stellte seinen Vortrag unter das Motto "Breaking the Wall of Efficient Innovation". Seine These: Gewinnbringende Innovation geht auch ohne Privatwirtschaft. Die von ihm vor allem in den USA verortete Besessenheit von den Selbstorganisations- und Heilungskräften des Marktes bezeichnet er als Selbstbetrug. Denn in Wirklichkeit glaube man auch im Eldorado der Marktfetischisten nicht an die freie Marktwirtschaft, sonst hätte man das Bankensystem nicht durch staatliche Eingriffe gerettet.  

Das ist nun nicht neu. Erfrischend ist aber, mit welcher Radikalität er seine These des "planned capitalism" vorbringt - und zwar am Beispiel China. "China is winning", ruft er fröhlich grinsend ins Rund und zeigt ein Bild von der Bandenwerbung der Fußballweltmeisterschaft: Im Hintergrund der um den Ballbesitz kämpfenden Recken wirbt das "lahme, immer gleiche" McDonald’s direkt neben Yingli Green Energy, einem der weltweit größten Produzenten von Fotovoltaikmodulen - und unter staatlicher chinesischer Kontrolle stehend. "Bei uns veranstalten die Erfinder von grüner Technik erst mal ein Presse-Event. Dann warten sie auf Kapitalgeber. Und nach sieben Jahren ziehen die Venture-Capital-Leute ihr Geld wieder ab", sagt Guthrie. Und hat sichtlich Freude, westliche Finanzierungsformen von Innovationen zu demontieren. "In China beschließt die Regierung: Unsere großen staatlichen Holdings müssen in die Entwicklung erneuerbarer Energietechnologie investieren, und zwar massiv. Selbst wenn wir 20 Jahre lang zahlen müssen."  

Innovation an sich braucht also keine privaten Strukturen. Marktdynamik gibt es dennoch in China. Denn dort wird nicht privatisiert, sondern lokalisiert. Die großen Industriezonen werden nicht zentral von Peking aus gesteuert, sondern stehen in Wettbewerb zueinander. Ihr Ziel ist es, Auslandskapital anzuziehen. Und da passt man sich durchaus peinlich genau an die weltweiten Ansprüche an. Durch den Wettbewerb entstehen nicht nur Innovation und Wertschöpfung, sondern es kommt auch zu einer Angleichung an internationale Standards. So ist die viel beklagte chinesische Korruption in den erfolgreichsten Industriezonen Chinas am niedrigsten. "In the end, China will be more transparent than we are": Das ist Guthries mit Freude vorgebrachte These: eines Wissenschaftlers, der die USA unverblümt als eine "failed democracy" bezeichnet und dem Land eine düstere Zukunft prophezeit. Denn erfolgreiche Innovationen, die Geld bringen, brauchten keine Demokratie und private Wirtschaft. Sind Wirtschaftssysteme aber umgekehrt an eine schlecht funktionierende Demokratie gebunden, gehen sie zugrunde.


Anhaltende Faszination


Guthries Fachkollegen mögen seine Thesen bekannt sein. Beim anwesenden Publikum - unzählige Fachjournalisten, Forscher aus anderen Gebieten und die Creme des deutschen Wissenschaftsbetriebes immerhin - dürfte jedoch diese Aufforderung zum Paradigmenwechsel durchaus einige innere Mauern eingerissen haben. Das galt auch für fast alle anderen Beiträge. Die auf den üblichen Konferenzen dieses Anspruches immer wieder einmal aufkommende gepflegte Langeweile wollte sich einfach nicht einstellen. Bester Beleg: Von den rund 600 Teilnehmern waren am Ende, gegen 18.30 Uhr, immer noch gut vier Fünftel anwesend. 

Wie funktioniert so etwas? Formal ähnelte die Falling Walls 2010 durchaus anderen Konferenzen gleichen Typs. Aufgeteilt in vier Sessions unter den Motto "Breaking the Walls Around Our Senses", "Breaking the Walls Around Our Actions", "Breaking the Walls Around Our World" und "Breaking the Walls Around Our Existence" hielten jeweils fünf - in der letzten waren es vier - Wissenschaftler 15-minütige Vorträge, die inhaltlich in der Regel wenig miteinander zu tun hatten. Jede Session wurde von einem Leithammel der Wissenschaftsgemeinde angesagt - zum Beispiel Jürgen Mlynek, Chef der Helmholtz-Gemeinschaft, oder Sabine Kunst, Leiterin des DAAD - der auch die jeweils anschließende Diskussion leitete. Ein Wissenschaftler der Humboldt-Uni, der Verfassungsrechtler Christoph Möllers, hielt das Schlussplädoyer.  

War es die Eröffnungsrede von Annette Schavan, die das Publikum für die Veranstaltung einnahm? Wohl kaum. War es doch die Keynote von Bundespräsident Christian Wulff? Er musste ja kommen, schließlich handelte es sich um ein Mauerfall-Event. Und trat zumindest deutlich inspirierter auf, als der belgische Ministerpräsident Yves Leterme, zurzeit Vorsitzender des EU-Ministerrates. Letzterer vermeldete vor allem, dass die Mauern in Europa zu fallen hätten und sein Land im Übrigen gerade an neuen Lagermöglichkeiten für Atommüll arbeite.


Der Mann mit dem Wecker


Nein, ihren Erfolg hat die Konferenz vor allem einem schmalen Mann im dunklen Anzug zu verdanken. Ein junger Schauspieler, der am Rand der zweiten Reihe vor dem Sprecherpult sein Stühlchen hütete. Waren die 15 Minuten Redezeit um, erklang über das zentrale Soundsystem ein freundlich-bestimmtes Räuspern. Hörte der Redefluss nach zehn Sekunden dennoch nicht auf, stand der junge Mann wie ein Blitz neben dem Sprecher - und fing an, Faxen zu machen. Mal jonglierte er mit bunten Bällen, mal überreichte er als verschämter Verehrer einer Vortragenden eine rote Rose, die darob dahinschmolz und zum Schluss ihres Vortrages kam, obschon sie eben noch über das Leid indischer Bauern referiert hatte. Und einem zeitlich besonders engagierten Herrn stellte er einen Wecker nach dem anderen aufs Pult - und drohte sie kalt grinsend aufzuziehen. 

Es war also der Mann mit dem Wecker. Er stand wie nichts anderes für den Geist der Konferenz: ein konsequent umgesetztes Konzept, das in seiner Strenge zu absoluter Fokussierung zwang, keine Längen zuließ, gerade deshalb geistige Höhenflüge erlaubte - und zugleich für eine fröhlich-kreative Atmosphäre sorgte. Dass der Zeitplan praktisch ohne Verzögerungen eingehalten wurde, war ein Wunder, das am Ende des Abends aber niemanden mehr verwunderte.  

Denn auch all die anderen Dinge, die eine gute Konferenz üblicherweise ausmachen, stimmten: Kein Saalmikrofon für Fragen, sondern vorher ausgeteilte Fragekärtchen, aus denen der Moderator für die - kurze! - Fragerunde am Schluss jeder Session auswählte. Ein laut und deutlich angekündigtes Ende der Pausen. Hervorragende Unterlagen. Absolut professionelles, ernsthaft freundliches und unaufdringliches Eventmanagement und Catering - für Berliner Verhältnisse übrigens schon eine Sensation an sich.


Politikwissenschaft meets Neurologie


Und vor allem: keine Podiumsdiskussion. Sie sind der Tod jeder Veranstaltung, wie jeder vernünftige Mensch weiß. Stattdessen kam es in den Fragerunden zu kurzen, konzentrierten Funken des interdisziplinären Denkens (auch dieser Ausdruck wurde selbstverständlich kein einziges Mal erwähnt), wie sie zuweilen durch den Druck der Struktur entstehen. Frederick Cooper zum Beispiel, Geschichtsprofessor an der New York University, hatte überzeugend die Idee des "völkischen" Nationalstaats ad absurdum geführt.  

"In 20 Jahren werden wir die Frage der Integration völlig anders diskutieren", meinte er im Hinblick auf den deutschen Umgang mit Einwanderern, um sich dann an Tania Singer zu wenden. Die Direktorin am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig hatte zuvor gezeigt, dass Mitgefühl trainierbar ist: "Vielleicht kann uns da Tania Singer mit einem Übungsprogramm helfen", warf Cooper in die Runde. Welch triviale Gedankenverbindung, meinte ein Journalist in der Kaffeepause. Doch wie oft beschäftigen sich Politikwissenschaftler mit den neurologischen Grundlagen sozialer Interaktion? 

Ausblick: Im kommenden Jahr wird die Falling Walls in der dann hoffentlich fertig umgebauten Staatsbibliothek zu Berlin stattfinden. Kein historischer Ort eingerissener Mauern wie das Radialsystem, das direkt auf dem ehemaligen Todesstreifen steht. Aber ein Ort der Ideen, des Wissens, des Suchens und Findens. Ein junger Ort, der für viele Jahre als Ausgangspunkt für geistige Durchbruchunternehmen dienen wird. Wenn die Organisation wieder so perfekt ist, wenn erneut die Form den Inhalt zum Leben erweckt, spätestens dann wird man die Falling Walls zu den weltweit wichtigsten Schaufenstern in die Zukunft zählen können. 



changeX 12.11.2010. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Jost Burger ist freier Journalist in Berlin. Er schreibt als freier Mitarbeiter für changeX.

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