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Lernen in Häppchen

Kurze Frage, schnelle Antwort - Mikrolernen verändert unsere Art, Wissen zu erwerben
Report: Tatjana Krieger

Noch ist das Angebot zerstreut, der Begriff wenig bekannt. Doch könnte Mikrolernen unsere Art, Wissen zu erwerben, radikal umkrempeln. Mikrolernen heißt Lernen in kleinen Einheiten, selbstbestimmt und zwischendrin. Wann und wo es gerade passt, im Zug oder in der Warteschlange an der Supermarktkasse. Eine Idee mit Zukunft.

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Lernen in kleinen Einheiten: Screenshots aus der iPhone-App KnowledgePulse im App Store von Apple. 

Noch nie waren die Menschen unabhängig von Zeit und Ort so vielen Botschaften ausgesetzt wie heute. Der Informationsstrom, der uns alle umgibt und den wir mit Smartphone, Tablet-PC oder Laptop stets bei uns tragen, gliedert sich dabei in zunehmend kleiner werdende Rinnsale: SMS, WhatsApp-Nachrichten, Statusmeldungen in sozialen Netzwerken und die fast schon antiquiert daherkommende E-Mail fordern von Absender wie Empfänger geistige Beweglichkeit und hohe Aufmerksamkeit; in kurzen Abständen springen sie zwischen unterschiedlichen Gedanken und Themen. Das strengste Reglement fährt Twitter auf: Was auf 140 Zeichen nicht gesagt werden kann, bleibt ungesagt. Meist dienen die Botschaften der Unterhaltung und Zerstreuung.  

Dabei lässt sich der technische Fortschritt viel gewinnbringender einsetzen. Denn der Trend zur Verkürzung von Informationen und Kommunikation hat mittlerweile die berufliche Weiterbildung erreicht. Mikrolernen, oder auch Microlearning, nennt sich die Methode, die dabei helfen soll, die Forderung nach lebenslangem Lernen einzulösen - selbst wenn man nur kurzzeitig auf Empfang schalten kann. Und tatsächlich verspricht Microlearning, Lernen jenseits des Seminarraums und der elektronischen Vorlesung, ohne Webinar und Tutor, an die Lebenswirklichkeit von Berufstätigen anzupassen.


Die tägliche Dosis: drei bis 15 Minuten


Lerninhalte werden beim Mikrolernen auf minimale, in sich abgeschlossene Einheiten heruntergebrochen. Drei bis 15 Minuten - länger soll die Beschäftigung mit einer solchen, maximal verkürzten und oft spielerischen Lektion nicht dauern. Mikrolernen macht den Lernenden unabhängig von einem Trainer oder einem Stundenplan. Während man auf den Zug wartet, im Taxi sitzt oder sogar in der Warteschlange an der Supermarktkasse ansteht: Der Stoff lässt sich mit einer Software herunterladen, aufrufen und studieren, wann und wo es gerade passt. Damit ist Mikrolernen eine radikale Abkehr von einer durch Schule und Universität geprägten Vorstellung, wie der Mensch Wissen zu erwerben hat.  

"Microlearning eignet sich für alle Menschen, die ihren Wissensstand ausbauen und aktuell halten wollen", erklärt Peter Bruck von der Research Studios Austria Forschungsgesellschaft in Salzburg. Ab einem Alter von 30 Jahren, wenn die frei verfügbare Zeit zwischen Karriere und Familie knapp wird, und für über 40-Jährige, deren Gedächtnisleistung langsam abnimmt, sei es besonders sinnvoll, so der österreichische Kommunikations- und Wirtschaftsprofessor. Darstellbar seien im Mikrolernen alle Inhalte, die sich mit Faktenwissen, Konzepten, Regeln und Definitionen beschäftigen. Bruck fallen verschiedene Szenarien ein, in denen Erwerbstätige schnell und zuverlässig auf aktuelles Wissen zurückgreifen müssen, das sie sich zuvor mit Microlearning angeeignet haben: die Krankenschwester etwa, die einem Diabetespatienten bei unerwarteten Komplikationen ein Medikament verabreicht und dafür Indikation und Kontraindikation kennen muss. Oder der Verwaltungsbeamte in Amt oder Behörde, der stets über Neuregelungen in der Gesetzgebung informiert sein muss, um dem Bürger Auskunft zu erteilen. "In all diesen Fällen kann man nicht erst bei Google nachsehen. Man muss es einfach wissen", sagt Bruck.  

Zu den bekannteren Beispielen von Mikrolernen gehört der Service One-Word-A-Day (www.owad.de) von Paul Smith. Per E-Mail schickt er seinen Abonnenten täglich eine englische Vokabel oder eine Redewendung, die er in der aktuellen Presse gefunden hat. Unter drei möglichen Begriffserklärungen wählt der Empfänger, welche er für plausibel hält. Liegt er falsch, teilt das System ihm das sogleich mit und bietet eine zweite Chance an. Zusätzlich kann man sich per Audio-Funktion die richtige Aussprache anhören. Für den Begriff "burning platform" etwa bietet Smith folgende Auswahl an: erstens "an issue that is of extremely high public interest", zweitens "a crisis that makes people change their behavior" und drittens "an internet site that illegally offers copyrighted material". Klickt man auf Lösung zwei, erfährt man, dass der Tipp richtig war, inklusive deutscher Übersetzung: "eine schwere Krise, zum Beispiel in einem Unternehmen, die zu einer Änderung der Einstellung oder des Verhaltens der Mitarbeiter führt".


Learning McNuggets?


Lern-Nuggets heißen solche kleinteiligen Wissensportionen in der Sprache der Anbieter. Kleine Goldklümpchen oder eher Nuggets, wie man sie sonst aus Schnellrestaurants kennt: winzige Häppchen, schnell verfügbar, schnell zu konsumieren? Und ebenso schnell vergessen? Ist Mikrolernen Fast Food fürs Gehirn?  

Es kommt darauf an. Neben dem "wie" zählt das "wie oft". "Das Gedächtnis ist aufnahmefähiger, wenn man entspannt ist", sagt Peter Bruck. Seine Nuggets auf einem mobilen Endgerät abzuholen, wann und wo man gerade Lust darauf hat, erweist sich also als Vorteil. Zudem muss, wer wirklich lernen will, repetieren. "Ab dem vierten Mal Lesen verankert sich Wissen im Gedächtnis." Wer nicht nur - wie vielleicht während der Schulzeit - bis zur nächsten Prüfung lernt, sondern fürs Berufsleben, wer möchte, dass das Wissen vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis übergeht, kommt auch beim Microlearning nicht um Wiederholungen herum.  

"Das Mobiltelefon wird zum Lerngerät", so Peter Bruck. Und schafft damit den Schritt vom Spielzeug zum Werkzeug. Die angebotenen Inhalte sind personalisiert und reichen vom Ernährungskurs über den Benimmratgeber bis zu Fußballregeln. In einzelnen Lernkarten werden sie auf dem Handy oder Tablet-PC angeboten, wo der Lernende sie in Leerlaufphasen abrufen kann oder wenn der Wissensdurst ihm zusetzt. Eingebaut ist ein Kontrollmechanismus, der prüft, ob das Wissen wirklich im Gedächtnis verankert ist. Wenn nicht, kommt die entsprechende Lernkarte zur Wiedervorlage. Und zwar so oft, bis man sich den Stoff gemerkt hat.  

Die Lernsoftware KnowledgePulse etwa läuft auf allen internetfähigen Geräten, inklusive des Smartphones. Über den App Store lassen sich verschiedene Kurse herunterladen, wie zum Beispiel der Lehrgang Projektmanagement in 18 Lektionen.


Menschen können nicht kontextfrei denken


Indem er die Methoden des Mikrolernens auf Kommunikations- und Verhaltenstrainings übertragen hat, ist der Flensburger Professor Wolfgang Linker schon früh einen Schritt weiter gegangen. Bereits vor einigen Jahren, der Begriff Mikrolernen war noch nicht gebräuchlich, machte er bei seinen Seminaren eine für ihn auf den ersten Blick unverständliche Beobachtung: "Obwohl die Teilnehmer mit Interesse bei der Sache und motiviert waren, konnten sie sich bei einer Folgeveranstaltung einige Zeit später nicht mehr an das Gelernte erinnern", erzählt er. Er zog daraus den Schluss, dass die Lerninhalte zu abstrakt seien und keine echte Handlungsempfehlung anböten. "Wenn es in einem Kurs für Verkäufer heißt, man solle auf den Kunden eingehen, nicken alle mit den Köpfen", so Linker. "Stehen Sie allerdings später vor einem Kunden, wissen sie nicht, was sie konkret tun sollen." Das Problem mangelnden Wissenstransfers sieht er auch beim Lehrpersonal. "Gerade Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaftler kommunizieren mit einer so großen Selbstverständlichkeit, dass sie nicht mehr erklären können, was sie genau tun." Ihnen sei das Gespür dafür verloren gegangen, welche Maßnahmen wirksam seien.  

Linkers Ansatz lautet deshalb "Microlearning by Microdoing". Handlungen werden dabei in kleinste Mikromuster zerlegt, die sich einzeln lernen lassen. Das kann eine Geste bei der Körpersprache sein, ein Griff beim Lernen eines Musikinstruments oder ein Kommunikationsmuster. Ähnlich der Lernkarten bei softwarebasiertem Mikrolernen hat Linker in Größe und Haptik an Spielkarten erinnernde Trainingskarten entwickelt, die der Lernende bei sich tragen soll, am besten in der Jackentasche, wo sie den Schüler bei Berührung an sein neues Mikromuster erinnert.  

Die Zahl der für dauerhaftes Lernen notwendigen Wiederholungen macht Linker von der emotionalen Beteiligung abhängig. Daran, so seine Überzeugung, scheitert auch regelmäßig das klassische E-Learning: Wenn die emotionale Wirkung gegen null tendiert, hilft es nur noch, den Stoff auswendig zu lernen. Wichtig sei außerdem, die Übung in einer konkreten beruflichen Situation anzuwenden. In einem von Linker aufgestellten Grundgesetz des Lernens lautet der Artikel drei deshalb auch: "Menschen können nicht kontextfrei denken." Auch Linker kann sich die Anwendung von neuen Medien oder Smartphones während des Lernprozesses vorstellen - indem das Handy zum Beispiel an das neue Verhalten erinnert. Andere Befürworter von Mikrolernen verweisen auf Blogs, Wikis und Social Media als schnelle Hilfestellung, wenn man im Arbeitsalltag auf ein zu lösendes Problem stößt. Dieser Ansatz geht von einem grundlegenden Paradigmenwandel beim Lernen aus: suchen statt wissen. Künftig muss man nicht mehr alles wissen, sondern es reicht zu wissen, wo man die erforderliche Information findet. Diese Methodik hilft natürlich, unvorhergesehene Fragen schnell und pragmatisch zu beantworten. Allerdings wird nur ein Bruchteil der so aufgerufenen Fakten ins Langzeitgedächtnis übergehen und ist von daher nicht für jede berufliche Situation geeignet.


Prinzip "kurze Frage - schnelle Antwort"


Den Bedürfnissen von Unternehmen kommt die Methodik des Mikrolernens jedenfalls entgegen. In Zeiten stetiger Arbeitsverdichtung sind Firmen immer weniger bereit, wegen Weiterbildungsmaßnahmen auf ihre Mitarbeiter zu verzichten, und erwarten stattdessen Eigeninitiative von ihrer Belegschaft. Wer mehrere Tage auf einer Präsenzveranstaltung verbringt, hat nach seiner Rückkehr an den Arbeitsplatz eine ähnliche Menge liegen gebliebener Aufgaben aufzuarbeiten wie nach einem Kurzurlaub - jedoch ohne erholt zu sein. Hinzu kommt, dass neues Wissen in immer kürzer werdenden Abständen erworben werden muss. Klassische Trainingsprozesse wie Seminare und Schulungen mit ihrer langen Konzeptions- und Aufbereitungsdauer hinken diesem Wandel oft hinterher. Der moderne Erwerbstätige, der sich ohnehin an eine schnelle, flexible Form des Medienkonsums gewöhnt hat, öffnet sich hingegen automatisch dem neuen Lernen. Das Prinzip "kurze Frage - schnelle Antwort" fügt sich nahtlos zwischen ein Youtube-Video und eine Statusmeldung in einem sozialen Netzwerk. Es schließt aber auch die letzten Lücken medialer Abwesenheit.  



Zitate


"Mikrolernen ist eine radikale Abkehr von einer durch Schule und Universität geprägten Vorstellung, wie der Mensch Wissen zu erwerben hat." Tatjana Krieger: Report Mikrolernen

 

changeX 27.03.2013. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Autorin

Tatjana Krieger

Tatjana Krieger ist freie Journalistin in München und schreibt über Beruf, Karriere und Weiterbildung.

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