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Reiseziel agil

Mit dem Sonderzug nach Agilistan - auf Fahrt mit dem Musterbrecher-Express
Report: Winfried Kretschmer

Es war ein Experiment, eine Premiere: eine Erkundungsreise zu Unternehmen, die Grundlegendes anders machen - mit dem Sonderzug. Der Musterbrecher-Express auf Jungfernfahrt bot eine Lernreise mit Klassenfahrt-Charakter und präsentierte zugleich ein neues (und selbst agiles) Veranstaltungsformat. Fazit: gelungen, Wiederholung geplant.

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"Sonderzug" steht im Anzeigefenster über der Lokführerkabine des roten Triebwagens. München Hauptbahnhof, Gleis acht, kurz vor halb neun am Morgen. Es ist ein kurzer Zug, der hier auf die Abfahrt wartet. Zwei Regionalzug-Doppelstockwagen, dazwischen ein Salonwagen: der Musterbrecher-Express auf Lernreise zu außergewöhnlichen Unternehmen. "Musterbrecher", der Begriff ist längst zur Marke geworden, lange vor "Augenhöhe" schon, wenn es um eine andere Art geht, Unternehmen zu organisieren. Zwei Bücher, ein Film, jetzt ein neuartiges Format des Lernens und Konferierens. Ausgeheckt haben das die beiden Musterbrecher-Autoren und -Managementberater Stefan Kaduk und Dirk Osmetz zusammen mit Christoph Kraller, dem Chef der Südostbayernbahn, die das Projekt dann auf die Schiene gebracht hat.  

Die drei stehen dann auch morgens am Bahnsteig, Kraller in der obligatorischen Eisenbahner-Uniform, um die Teilnehmer zu begrüßen und eine kurze Gebrauchsanweisung für den Express zu geben. Sein Gepäck stellt man in einer Sitzgarnitur im vorderen Großraumwagen ab, trifft sich dann im Salonwagen in der Mitte, wo es Kaffee und Butterbrezen gibt. Und die Möglichkeit zu einem ersten gegenseitigen Kennenlernen, das in der Enge des Durchgangs an der Theke schnell in Gang kommt. Ah, viele von der Bahn hier, der erste Eindruck.  

Als der Zug dann über die Pasinger Weichen ratternd die Landeshauptstadt westwärts verlässt, gibt es gleich den ersten, den Eröffnungsimpuls der beiden Organisatoren Stefan Kaduk und Dirk Osmetz, die den Musterbruch nicht nur als wissenschaftlichen Begriff, sondern natürlich auch als Beratungsansatz verstehen, dieses Angebot aber mit wohltuender Zurückhaltung behandeln. Die Bühne gehört den Praktikern: den Impulsgebern im Zug, die diverse Denkanreize beisteuern. Und den Unternehmen, zu denen die Reise führt.


Raus aus der Kontrolle und anfangen zu lernen


In die Bodenseeregion geht die Fahrt, zunächst auf die deutsche Seite, am nächsten Tag dann per Bus weiter in die Schweiz. Dort steht jeweils eine Unternehmensbesichtigung auf dem Programm: allsafe JUNGFALK auf der deutschen und RWD Schlatter auf der schweizerischen Seite. Genau genommen sind es aber drei Unternehmen, die es kennenzulernen gibt. Die dritte Besichtigung passiert im laufenden - besser fahrenden - Betrieb: Die Südostbayernbahn, die Zug und Logistik für den Musterbrecher-Express bereitstellt und zu den im Buch und Film porträtierten Unternehmen zählt, ist das dritte Unternehmen, das gewissermaßen auf dem Fahrplan des Zuges steht.  

So ist der Musterbrecher-Express zugleich Reisevehikel wie Anschauungsobjekt für das Betreiberunternehmen, die SOB. Und was der Chef vorne in seinem Impulsvortrag über Kundenorientierung sagt, kann man sich im Salonwagen gleich ganz praktisch anschauen, wo Servicekräfte des Bahnunternehmens für das leibliche Wohlergehen der Fahrgäste sorgen. Der Chef, das ist Christoph Kraller, einer der Geschäftsführer der Südostbayernbahn mit Sitz in Mühldorf, die zu den DB-Regio-Unternehmen zählt und das Streckennetz zwischen München und Passau betreibt. Oberbayern, bayerisches Kernland. Von München im Westen bis Passau im Osten, von Landshut im Norden bis zum Chiemsee im Süden erstreckt sich das Streckennetz. Und Kraller hat es geschafft, die Fläche, aus der sich die Bahn schon zurückgezogen hatte, wieder zurückzuerobern. Statt ein paarmal am Tag verkehren die Züge zu Hauptverkehrszeiten nun stündlich. Sauber geputzt. Kundenorientierung wird großgeschrieben. "Grüß Gott, Kraller mein Name, ich bin der Chef der Südostbayernbahn", mit diesem Spruch stellt sich Kraller regelmäßig in die Großraumwagen und bittet die Fahrgäste um Feedback. Das verlangt Mut, denn nicht nur einmal ergoss sich jahrelang aufgestauter Pendlerunmut über den Bahnchef.  

Er sei radikaler Dezentralist, sagt Kraller von sich selbst. "Führungskultur geht jeden an" und "Kundenorientierung geht jeden an" sind zwei seiner zentralen Führungsgrundsätze. Sprich: Alle gestalten die Organisation mit, im Innenverhältnis wie im Außenverhältnis. Und alle sollten wissen und wertschätzen, was andere beitragen. So übernimmt schon mal das Managementteam der SOB eine komplette Wagenreinigung - um selbst zu erfahren, was für harte Arbeit es ist, für Sauberkeit zu sorgen. Und Sauberkeit ist für Kraller die Basis jeglicher Kundenorientierung. Am Zustand der Toiletten im Zug entscheidet sich, wie der Kunde das Unternehmen wahrnimmt, davon ist er überzeugt. "Raus aus der Kontrolle und anfangen zu lernen", ist die Devise des Eisenbahners in dritter Generation, der nun die immer noch klassisch hierarchischen Strukturen im Unternehmen ins Visier genommen hat. Mehr Selbstorganisation ist das Ziel. Ein Serviceteam im Unternehmen ist schon mal vorausmarschiert. Gleich zu Beginn wollten die Servicemitarbeiter erst einmal einen Teamchef wählen, der sagt, wo es langgeht. Heute wollen sie gemeinsam das beste Reisezentrum der Bahn werden. Für Kraller ein vielversprechender Beginn des Experiments Selbstorganisation. Menschen wachsen, wenn man ihnen Vertrauen schenkt, ist sich Kraller sicher. Und wenn sie wissen, wofür. "Die Leute ändern sich schon, wenn sie nur wissen, warum." Führung hat mit Dienen und mit Demut zu tun, sagt Kraller, während draußen, hinter den mit Tesa auf die Scheiben geklebten Schaubildern, die Landschaft vorbeizieht.


Ein Schutzraum für Neues


Krallers Unternehmensführung im Fahren ist einer von drei Impulsen, die parallel im Salonwagen und im Fahrradabteil eines Großraumwagens stattfinden. Drei parallele Impulse haben die Organisatoren in die viereinhalbstündige Hinfahrt von München an den Bodensee gepackt. Lars Vollmer, Buchautor, Berater und Unternehmenschef a. D. sinniert da über den Unterschied zwischen kompliziert und komplex und über Kreativität als sozialen Prozess. Und Margret Rasfeld, Leiterin und Gründerin der Evangelischen Schule Berlin Zentrum, ebenso wie Vollmer eigens angereist, stellt ihre "Schule im Aufbruch" vor. Als Beispiel nicht nur für besseres, weil gehirngerechtes Lernen, sondern auch für eine andere Organisation von Unternehmen (als solches wurde Rasfelds Schule ja auch von Frederic Laloux in seinem Buch Reinventing Organizations gewürdigt).  

Es waren nachdenkliche Impulse, die gleichermaßen deutlich machten, wie fragil und voraussetzungsvoll Lernen und Innovation doch sind. Und wie ungeeignet die etablierten Strukturen, sie zu fördern. Innovationsmanagement ist ein Oxymoron, sagt Vollmer, ein Begriff mit eingebautem Widerspruch. Denn die Wege zur Innovation sind mitunter verschlungen. Steuern lässt sich da nichts. Führung muss vielmehr einen Schutzraum schaffen, damit Neues entstehen kann. Als einen solchen Schutzraum könnte man auch den Musterbrecher-Express sehen. Denn zweifellos entfaltete die Fahrt im Zug eine ganz eigene, ungewohnte Atmosphäre. Vollkommen anders als ein vergleichbares Programm in irgendeiner der üblichen Veranstaltungslocations. Ein Zug: Wahrscheinlich einer der ungewöhnlichsten Orte für eine solche Veranstaltung.  

Drei Impulse auf der Hinfahrt, zwei Firmenbesichtigungen, und nochmals Reflexionsrunden plus Abendessen, Ausstellungsrundgang und Bustransfer zu den Firmenstandorten - es war ein volles Programm, das der Musterbrecher-Express offerierte. Viel Aufmerksamkeit für die schöne bayerisch-schwäbische Landschaft draußen blieb da nicht. Nach dem Mittagsimbiss war der Zielbahnhof Radolfzell, ein Städtchen am nördlichen Ufer des Bodensees, erreicht. Weiter ging’s per Bus. Ein wenig schade nur, dass man den Musterbrecher-Express, kaum hatte man sich an die rumpelnde Eventlocation gewöhnt, schon wieder bis zur Rückreise am nächsten Tag zurücklassen musste.


Lernen zu vertrauen


Einen besonderen Namen haben die Boards nicht, die bei allsafe JUNGFALK überall herumstehen. Aber sie fallen auf: Pinnwände in den Büros, Stellwände in der Produktion, Infotafeln im Gang vor den Büros der Geschäftsleitung. Darauf gepinnt und geklebt Terminpläne, Arbeitsregeln, Qualifikationsprofile, Kennzahlen. "Alles das, was das Unternehmen ausmacht", finde sich da, bemerkt Christoph Kraller kollegial anerkennend. Bei allsafe JUNGFALK gibt es offenbar keine Geheimnisse. Nicht vor den Mitarbeitern, nicht vor den Besuchern, die natürlich interessiert studieren, was da aushängt.  

"Entscheidend war, dass ich gelernt habe, zu vertrauen", sagt Firmenchef Detlef Lohmann. Das sieht man nicht nur an den Aushängen, das prägt auch den mit keinem Messgerät zu messenden Spirit der Firma, der sich wohl aus der gleichschwingenden Ausstrahlung der Menschen ergibt. Die Räume jedenfalls können es nicht sein, denn die sind bei allsafe JUNGFALK unspektakulär und funktional und meilenweit entfernt etwa vom bonbonbunten Google-Ambiente. allsafe JUNGFALK ist ein mittelständischer produzierender Betrieb und unterscheidet sich äußerlich kaum von anderen mittelständischen produzierenden Betrieben. Wobei schon auffällt, dass die Büroarbeitsplätze hier allesamt mit höhenverstellbaren Tischen ausgestattet sind und die Mitarbeiter so wahlweise respektive abwechselnd im Stehen und im Sitzen arbeiten können. Als offen, ruhig und konzentriert könnte man die Atmosphäre hier beschreiben. Und offen, kompetent und selbstbewusst geben sich auch die Mitarbeiter, die die fünf Besuchergruppen durch die Firma führen und dabei auch Einblick in die Produktion vermitteln.  

Befestigungssysteme stellt allsafe JUNGFALK her, wie sie in Transportern, Lkws und auch Flugzeugen montiert werden, um das Ladegut zu sichern - Großserien für die Industrie, aber auch Kleinserien zumeist für Mittelständler. Die Produktpalette ist im Baukastensystem organisiert; im Online-Shop kann das gewünschte Produkt konfiguriert werden. Produziert wird hier in autonomen Fertigungsinseln, einen Lagerbestand für Produkte gibt es ebenso wenig wie Rüstzeiten, denn für jeden Fertigungsschritt sind eigene Arbeitsplätze vorhanden, unabhängig davon, ob sie aktuell benötigt werden oder nicht. Online-Bestellungen liefert der Hersteller binnen 24 Stunden nach Auftragseingang aus. Sie werden im Tagesablauf zuerst gefertigt, später dann kommen die Serienaufträge dran.


Profis trainieren


Klar, dass eine derart flexible Produktion mit starren Produktionsplänen nicht zu machen ist. Insofern sind die selbstorganisierten Teams, in denen bei allsafe JUNGFALK alles läuft, kein Selbstzweck, auch keine Feelgood-Maßnahme für die Mitarbeiter, sondern Bedingung einer hochflexiblen Fertigung, die dem Unternehmen wiederum klare Marktvorteile verschafft. Und sich nicht zuletzt auch betriebswirtschaftlich rechnet. "Das Unternehmen muss atmen können", sagt Detlef Lohmann. Es muss unabhängig von der Auslastung profitabel sein. Und profitabel ist die Firma, überdurchschnittlich sogar. Und das, obwohl (oder gerade weil) die Mitarbeiter gehalten sind, 30 Prozent ihrer Arbeitszeit in die Unternehmensentwicklung zu investieren. "Gemessen wird das nicht, auch nicht sklavisch eingefordert", sagt Produktmanager Christian Suhr, der unsere Gruppe durchs Unternehmen führt. Aber es ist ein Grundsatz, der präsent ist in der Firma.  

"Profis trainieren", hatte Christoph Kraller in seinem Impuls gesagt, und dafür plädiert, am System und nicht nur im System zu arbeiten. Genau das macht auch allsafe JUNGFALK. "Wir sind permanent am Trainieren, wie wir uns verhalten, wenn etwas anders ist", sagt Lohmann. Und beschreibt so, was er unter einem resilienten Unternehmen versteht.  

"Lernen zu vertrauen" und "raus aus der Kontrolle und anfangen zu lernen" - die Führungsgrundsätze von Kraller und Lohmann lesen sich wie eine argumentative Schleife, in der das eine das andere bedingt. Und so verwundert es auch nicht, dass sich die beiden, die sich zuvor noch nicht persönlich begegnet sind, auf Anhieb verstehen, als sie beim Abendessen einander gegenübersitzen. Schnell entspannt sich ein Dialog über Unternehmensorganisation und Unternehmensführung. Kraller ist sichtlich angetan von der Praxis der Selbstorganisation bei allsafe. Und fühlt sich bestärkt, weiter in diese Richtung voranzugehen. "Wie wäre es denn, wenn wir das bei uns einführen würden, mit der Selbstorganisation", fragt er in breitem Bayerisch zwei Mitarbeiterinnen, die schräg gegenüber am selben Tisch sitzen. "Im Grunde machen wir das ja schon so", erwidert selbstbewusst Tatjana Abt, bei DB RegioNetz verantwortlich für die Personalentwicklung. Das ist ein schöner Hinweis darauf, dass die informale Organisation mitunter weiter ist, als die formale glauben machen will. Und darauf, welche Möglichkeitsräume sich öffnen, wenn ein Chef darauf achtet - wie Kraller morgens in seinem Impuls Reinhard K. Sprenger zitierend gesagt hat -, seinen Mitarbeitern nicht im Weg zu stehen. Genau das ist der Start in die Selbstorganisation. Es beginnt mit Vertrauen, wie Detlef Lohmann es so treffend ausgedrückt hat.  

Überhaupt die Gespräche, die man informell nennen könnte, weil sie sich zwischen den Programmblöcken der Lernreise entwickeln: im Zug, beim Abendessen, am Frühstückstisch, an der Theke im Zug, auf den Bustransfers. Die zahllosen Gespräche zwischen den Teilnehmern der Musterbrecher-Exkursion bilden gewissermaßen den ungeplanten, informellen Teil der Veranstaltung, nicht anders als bei anderen Formaten auch. Doch die Form der Reise scheint gegenüber den ewigen Kaffeetischgesprächen bei den üblichen anderen Veranstaltungsformaten die Vielfalt der Kontakte zu steigern. Langweilig jedenfalls wurde es nie. Allein die Heterogenität des Teilnehmerkreises hätte etwas größer sein können, denn wie gesagt waren sehr viele Bahnmitarbeiter dabei. Denn als es nicht gut stand um das innovative Format, weil die Buchungen hinter den Erwartungen zurückblieben, sprang die Bahn in die Bresche und rettete die Premiere des Formats, indem sie Mitarbeitern die Teilnahme ermöglichte.


Kunst des Weglassens


Ebenso wie bei allsafe JUNGFALK gesteht man auch bei RWD Schlatter offen ein, eher langweilige Produkte herzustellen. Bei Schlatter sind es Türen. Das Schweizer Unternehmen mit rund 200 Mitarbeitern an vier Standorten ist nach eigenen Angaben der führende Anbieter von nachhaltigen Türsystemen für Sicherheit, Brand- und Rauchschutz mit hohen Ansprüchen an eine ökologische Fertigung.  

Auf den ersten Blick ist es nicht besonders spektakulär, was sich in der weitgehend automatisierten Produktionshalle auf Paletten zum Abtransport stapelt. Man muss schon genau hinschauen, um ein Detail zu entdecken, das erzählt, wie hier produziert wird: Auf der Unterseite jeder Tür sind deren Nummer und ihr Bestimmungsort aufgedruckt. "160014-72 6002 Zürich Glaubtenstrasse 11 + 15" steht da zum Beispiel. "Wir produzieren in Losgröße eins", sagt Daniel Segmüller, der Produktionsleiter. Jede Tür ist ein Einzelstück, individuell vermessen und gefertigt. Die Projektleiter von Schlatter nehmen auf der Baustelle das Maß jeder einzelnen Türöffnung; die Tür wird dann eigens gefertigt und von der Firma selbst oder einen beauftragten Montageunternehmen eingebaut. Nachträgliches Ausstemmen der Türöffnung auf der Baustelle gehört der Vergangenheit an.  

Individualisierte Produktion bei gleichzeitig hoher Automatisierung, so lässt sich die Produktionsweise bei Schlatter beschreiben. Handarbeit neben weitgehend automatisierter Fertigung. So ist in der sich sonst eher menschenleer präsentierenden Produktionshalle ein Arbeiter damit beschäftigt, mit dem Schwingschleifer an einer Tür den handverspachtelten Ausschnitt für einen Glaseinsatz glatt zu schleifen. Kein Widerspruch.  

Wie bei allsafe gibt es auch bei Schlatter kein Lager. "Die Tagesproduktion muss heute noch raus", sagt Segmüller und weist auf die Türenstapel auf dem Hallenboden. Wie allsafe arbeitet auch Schlatter mit selbstorganisierten Teams bei extrem flachen Hierarchien. Auch hier korrespondiert Selbstorganisation mit einer hohen Produktionsintelligenz und einem gleichzeitig hohen Stellenwert von Innovation. So hat Schlatter nicht nur eine breite Palette von der einfachen Wohnungstüre bis hin zu Brand- und Schallschutztüren im Angebot, sondern auch eine neuartige schusssichere Tür, deren Konstruktionsprinzip man sich bei einem bayerischen Autobauer abgeschaut hat. Aus zwei Kevlarplatten besteht das Innere der Tür, deren Hauptabnehmer Bankdirektoren sind, wie Segmüller schmunzelnd einfließen lässt. Eine weitere Produktinnovation ist eine antibakterielle Tür insbesondere für Krankenhäuser, die den Einsatz antibiotischer Putzmittel drastisch verringern kann.  

Man muss nur auf so was kommen. Wie? "Wir lassen unseren Leuten die Freiheit zu denken, zu entwickeln und mit seltsamen Ideen zu kommen - und damit auch auf die Schnauze zu fallen", sagt Roger Herzig, der CEO des Unternehmens. Fehler gehören für ihn einfach zu einem System dazu. Punkt. Für Entspannung zu sorgen, sei die Hauptaufgabe von Führungskräften, sagt Herzig. Ruhe, Gelassenheit und die Kunst des Weglassens sind Kernsätze in seinem von fernöstlicher Philosophie inspirierten Führungsverständnis.  

Weglassen, das betrifft nicht zuletzt überbordende Regeln. Festgezurrte Arbeitszeiten? "Die Menschen kommen doch ohnehin immer zu selben Zeit", sagt Herzig. Und erzählt genüsslich eine Geschichte, die man in ähnlicher Form auch bei allsafe zu berichten weiß: Hier wie dort wurde ein Mitarbeiter mit besseren Konditionen geködert. Lange aber hielten die es bei der neuen Firma nicht aus. Kurze Zeit später riefen sie an und wollten zurück - nach drei Monaten bei Schlatter, nach einer Woche bei allsafe. Sie waren wohl mit der Kultur in ihren neuen Unternehmen nicht zurechtgekommen.


Neue Wege gehen


Auf der Rückfahrt von Lindauer Bahnhof nach München setzt Lars Vollmer dann noch einen gezielten Impuls zum Thema Kultur. Gezielt deshalb, weil er einem Missverständnis vorbeugte, dem leicht erliegen kann, wer zwei so komplexe, selbstorganisierende Systeme erlebt hat wie in den beiden Firmen diesseits und jenseits des Bodensees: Eine andere Unternehmensorganisation sei das Ergebnis eines langen kulturellen Wandels, so könnte man denken, Folge der bewussten Gestaltung von Kultur. Nix da, so Vollmer. Kultur lässt sich weder gestalten, noch ist sie für irgendetwas verantwortlich. Sie ist einfach. So wie sich, wenn Menschen durch einen Dschungel gehen, Wege ausbilden, ist Kultur "die Summe der ausgetretenen Pfade, sie ist das Gedächtnis einer Organisation", so Vollmer. Kultur ist nicht unmittelbar beeinflussbar. Sondern allein, indem man neue Wege austritt.  

Neue Wege gehen. Genau das war das Signal, das bei den Teilnehmern angekommen zu sein scheint. Warum zum Beispiel sollten Mitarbeiter Angebote, die sie ausarbeiten, nicht auch gleich selbst unterschreiben? Diese Frage stellt sich Bosch-Manager Falko Rödiger ganz konkret, wie er in der Abschlussrunde berichtet. Seine Konsequenz: "Ich denke, ich probiere das einfach mal aus." Was Rödiger für das Unterschriftenprozedere in seinem Unternehmen mit nach Hause nahm, galt auch für andere Mitreisende an Bord. Denis Kollai etwa, der, von der SOB kommend, nun die Westfrankenbahn auf neue Geleise schieben will. Dass er traditionelles Management beherrsche, habe er gezeigt, sagt er. Nun gehe es darum, sich von den klassisch-hierarchischen Strukturen abzulösen. Oder eben Christoph Kraller, der neben mehr Selbstorganisation auch das Verfahren "Mitarbeiter stellen Mitarbeiter ein" ausprobieren möchte.  

Oder Sandra Meisl, Projektleiterin im Marketing bei der SOB, die den Musterbrecher-Express maßgeblich mit organisiert und die ganze Reise über aufmerksam zugehört hat. Sie, wohl die Jüngste unter den Teilnehmenden, fasst sich ein Herz und wirft in der Abschlussrunde das erste Statement in den Raum. "Ich bin zwar keine Führungskraft", sagt sie, "aber ich glaube schon, dass ich etwas beeinflussen kann."  


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changeX 03.08.2016. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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