Sie lesen diesen Artikel kostenlos

Vielen Dank für Ihr Interesse! Sie rufen diesen Beitrag über einen Link auf, der Ihnen einen freien Zugang ermöglicht. Sonst sind die Beiträge auf changeX unseren Abonnenten vorbehalten, die mit ihrem Abo zur Finanzierung unserer Arbeit beitragen.
Wie Sie changeX nutzen können, erfahren Sie hier: Über uns
Wir wünschen viel Spaß beim Lesen!

Fit für Social Entrepreneurship

Vision Summit 2011: Hunderte Teilnehmer diskutieren über das Sozialunternehmertum der Zukunft
Text: Anja Dilk

Was können Sozialunternehmer tun? Wie vorgehen? Welches Handwerkszeug brauchen sie? Was hat sich bewährt? Wo gibt es erfolgreiche Beispiele? Wie können sie mit Stiftungen und Unternehmen kooperieren? Wie Partner finden? Was voneinander lernen? Der Vision Summit richtet den Blick in die Praxis.

visionsummit_620.jpg

Für eine Versicherung ist Social Business ziemlich harter Tobak. Glaubt eh keiner. Peter Endres seufzt. Er weiß, wie dramatisch seine Zunft seit der Geburt des Versicherungswesens an Glaubwürdigkeit eingebüßt hat. Aus den Solidaritätsgemeinschaften gegen Risiken von einst sind Abzockermaschinen im Interesse von Aktionären und Bossen geworden. Wahrscheinlich ist Endres schlicht zu alt, um sich davon entmutigen zu lassen. Oder besser: Der Chef der Ergo Direkt Versicherung hat schon zu viel hinter sich, fast sein ganzes Berufsleben. Jetzt will er mehr als versichern. Etwas Sinnvolles tun, etwas Innovatives. Am besten beides zugleich. 

Heute versichert Ergo Direkt sozusagen brennende Häuser, scherzt Endres. "Wir versichern noch, wenn der Schaden bereits eingetreten ist", erklärt er fröhlich. Das ist der innovative Aspekt. "Wir versichern Menschen, die sonst niemand mehr nimmt." Das ist der soziale Aspekt. "Zahn-Ersatz-Sofort" nennt sich das erstaunliche Programm, das Menschen mit marodem Zahnwerk auch bei bereits begonnener Behandlung finanziell zur Seite steht. Eine Versicherung also, die leistet, auch wenn der Vertrag erst nach dem Schadensfall abgeschlossen wurde. Der Kunde kann sich noch auf dem Zahnarzt-Stuhl bei Ergo Direkt absichern. Damit der Versicherung das neue Geschäftsmodell nicht zum Grab wird, hat sie die Zahl der Policen vorsichtshalber erstmal auf 50.000 beschränkt - und hofft, dass die Kunden ihr dauerhaft treu bleiben.  

Social Business freilich ist dieser "systematische Regelbruch", wie es Endres nennt, noch nicht. Deshalb sucht der Mann nun nach neuen, innovativen Ideen für Non-Profit-Investitionen. Sein Ziel: Gleiche Bildungschancen und gute Gesundheit für Kinder schaffen. "Beides ist fundamental wichtig. Beides kann man nicht versichern", ruft Endres ins Auditorium. "Sagen Sie uns, wie wir dazu beitragen können, dass beides in Deutschland eines Tages Realität wird."


Über das Sozialunternehmertum der Zukunft diskutieren


Es ist ein sonniger Freitagmorgen, an dem Peter Endres auf dem Vision Summit das Publikum zum Lachen bringt - und zum Nachdenken. Viele Hundert Menschen sind in die Säle des Hasso-Plattner-Instituts der Universität Potsdam gekommen, um über das Sozialunternehmertum der Zukunft zu diskutieren. Neugierige aus Unternehmen und Ashoka-Fellows, Sozialentrepreneure, Gründer, Forscher, Innovatoren, Zukunftsdenker, Beobachter. Vor allem aber: auffällig viele Macher. Insofern scheint das Motto gut gewählt - mit "Don´t wait: Innovate!" hatte Veranstalter Peter Spiegel, Chef des Genisis Institute for Social Business, zu seinem Kongress eingeladen.  

Nach Jahren der Diskussion über neue Wege in der Wirtschaft, über die Notwendigkeit des Wandels und eine neue Ethik in der Ökonomie geht jetzt der Blick in die Praxis: Was können Sozialunternehmer tun? Wie sollten sie vorgehen? Welches Handwerkszeug brauchen sie? Was hat sich bewährt? Wo gibt es erfolgreiche Beispiele? Wie können sie mit Stiftungen und Unternehmen kooperieren? Was voneinander lernen?  

Die Projektstände säumen den Gang vor dem großen Hörsaal im Plattner-Institut. Die Macher der dänischen Design City haben ein metergroßes Modell der Stadt der Zukunft aufgebaut. Im Regal der Werner Hartwig Handelsvertretungen leuchten Becher und Tassen mit bunten Silikon-Deckeln - die umweltfreundliche Alternative zum Coffee-to-go-Equipment aus Pappe und Plaste. Die Blue Economy-Community informiert über ihre globale Plattform für nachhaltiges Unternehmertum und nachhaltige Wissenschaft. Vorn, am Pressestand ereifern sich Teilnehmer über den winzigen WLAN-Bereich. Auf einem Zukunftskongress so wenig multimediale Vernetzung zugänglich überall und für jedermann? Von Vorgestern, werden die User später auf Twitter meckern. Im Vision Hub sitzen Gründer an silbernen Bistrotischen zum Speedconsulting mit Beratern zusammen. "Pflanz Deine Idee", steht auf der Schultafel zur Linken. Die Ergebnisse des individuellen Brainstormings kleben an der blauen Pinnwand zur Rechten. Geschäftsideen wie diese: "Online-Portal mit nachhaltigen Produkten für neue Kundengruppen", "Agentur für Spieleentwicklung - gesellschaftliche Probleme im Spiel abbilden", "Experience Thinking - die Expertise von Millionen älteren Menschen nutzen".


Unternehmen "Gewaltfrei lernen"


Die zwei Dutzend Kinder schauen gebannt auf die große schlanke Frau am Kopf der Runde. "Die Stoppregel ist gut gegen rangelige Viertklässler", erklärt Sibylle Wanders. "Das proben wir jetzt mal im Rollenspiel", sagt sie zu dem sehr kleinen Mädchen im Blümchenkleid. "Schubs mich mal". Das Mädchen kichert und schubst die große Frau, die sofort in die Rolle eines Kindes schlüpft. "Stopp, Jasmin, schubs mich nicht", sagt Wanders laut und klar und mit erhobenem Kopf. So wie es ein Kind auf dem Schulhof tun sollte, das von einer Mitschülerin geärgert wird. Jasmin schubst wieder. "Hör jetzt auf, oder ich hole die Aufsicht." Jasmin schubst wieder. "Jetzt reicht‘s, ich hole die Aufsicht." Wanders alias geschubstes Kind schreitet zu einer Frau im Kreis, die die Lehrerin spielt. "Meint Ihr, das könnt Ihr auch?", fragt sie und schaut die Kinder im Kreis an. "Jaa!"  

Dass sie mal Sozialunternehmerin werden würde, hätte Sibylle Wanders nie gedacht. Sie zog ihr Anti-Gewalt-Training für ein friedliches gemeinsames Lernen an den Schulen im Alleingang auf. Organisierte die Anfänge über einen Förderverein. Einen professionellen Unternehmensaufbau im großen Stil hatte sie lange nicht im Kopf. "Es wäre immer klein, klein geblieben". Bis Wanders vom Social Lab Köln hörte und sich bei Michel Aloui vorstellte. Er erzählte ihr vom Konzept des Social Entrepreneurship. Erläuterte die Vorteile des Gründerzentrums für Sozialunternehmer im Bildungssektor: Der Kontakte, die sie über das Lab knüpfen könnte. Der Kooperationen, die sich vielleicht ergeben würden. Der Suche nach Geldgebern in der Anschubphase, von der sie profitieren könnte. Den Beratern mit erstklassigem Profi-Know-how, die für sie organisiert werden könnten. "Ich als kleines Licht hätte mir doch nie Roland Berger leisten können." Wanders begriff: Das ist meine Chance. Heute sitzt sie mit elf anderen Sozialunternehmern im 4711-Hochhaus über den Dächern der Rheinmetropole. "Und mein Unternehmen `Gewaltfrei lernen´ wächst explosionsartig."


Subketten bilden


Was leicht klingt, ist harte Arbeit. Oder vielmehr: engagierte, geschickte Arbeit. Als Aloui und sein Kompagnon Murat Vural vor eineinhalb Jahren das Bildungslab aus der Taufe hoben, war das eine Konsequenz aus dutzendfach gemachten Erfahrungen: Wer als Sozialentrepreneur sein Geschäft ausweiten, es in neue Regionen tragen will, fängt meist immer wieder von vorne an. Sponsoren suchen, Kontakte knüpfen, die Verwaltung kennenlernen, Projektpartner finden, andere Initiativen auftun, die Ähnliches unternehmen. Zudem: "Es gibt enorm viele Projekte im Social Business, der Bereich ist sehr fragmentiert", sagt Vural. "Wir haben uns gefragt: Wie können wir diese Kräfte bündeln, um das Ziel zu erreichen: ein soziales Problem lösen?" Was also wäre, wenn man Gleichgesinnte, die alle in demselben Segment, nämlich Bildung, mit unterschiedlichen Projekten unterwegs sind, zusammenholen und verknüpfen würde? Und zu überlegen: Wo können wir effektiv zusammenarbeiten, um unser Ziel zu erreichen? "Eine Subkette bilden", nennt das Vural.  

Das Social Lab Köln ist also ein Inkubator für Bildungsprojekte. Dort sind Initiativen versammelt vom Chancenwerk, das benachteiligte Schüler unterstützt über die Komplizen, ein Programm, das Mentoren vermittelt, den Berufsparcours, der zehntausende Jugendliche für die Bewerbung trainiert, bis zur Projektfabrik, die Theaterpädagogik und Bewerbungsmanagement verbindet, der Eltern AG für benachteiligte Familien und dem Science-Lab, das Kita- und Schulkindern Lust auf Naturwissenschaft machen will.  

Subketten entstehen dann, wenn sich alle an einen Tisch setzen und überlegen: Wie können wir beispielsweise dazu beitragen, das Problem des Fachkräftemangels in den Griff zu bekommen? Durch Bildung einer Kette, in der sich Science Lab, Chancenwerk und die Komplizen zusammenschließen, um erst Kita-Kindern Lust auf Technik zu machen, sie im Chancenwerk dann in den naturwissenschaftlichen Fächern individuell zu unterstützen und anschließend in Mentorenprogramme zu technischen Berufen zu führen. Das Kernteam dieser Bildungskette scannt gleichzeitig den Markt, um aus dem Dschungel qualitativ höchst unterschiedlicher Projekte andere, hochwertige Initiativen hinzuzuholen. So lassen sich Programme mit Bausteinen aus vielen Projekten zusammenstellen, die nachhaltig arbeiten und deren Förderung für Unternehmen interessant sein kann. Inwieweit das gelingt, bleibt abzuwarten. Bislang sind die Erfahrungen durchaus ermutigend.


Sich fit machen für Social Entrepreneurship


Wie sehr die praktischen Fragen die Teilnehmer auf dem Vision Summit umtrieben, war an den Fragen zu spüren: Wie können wir in unserer Region ähnliche Zentren für Social Entrepreneurship schaffen? Worauf kommt es an? Wie finde ich die Partner? Insofern überrascht es nicht, dass nicht nur im Workshop der Sozialunternehmer aus Köln die Reihen dicht gefüllt waren, sondern auch in vielen anderen praxisorientierten Sessions. Zum Beispiel bei "Sich fit machen für Social Entrepreneurship".  

Dort gaben Experten von ThinkCamp, vom Terra Institute, von der European Leadership Academy und von Poostchi-Seminare Sozialunternehmern Tipps für ein erfolgreiches Sozialunternehmertum. Es ging um Social Impact Leadership, eine Führung, die auf einer holistischen, umfassenden Weltsicht beruht und Mitarbeitern Orientierung gibt. Es ging um Erkenntnisse der systemischen Beratung, die Sozialunternehmer im Kopf haben sollten - zum Beispiel: Systeme müssen sich selbst erhalten, sonst haben sei keine Berechtigung -; um den Nutzen von gezielter Expertise, die eigene Lücken in kürzester Zeit effektiv ausgleichen kann und doch erstaunlich selten in Anspruch genommen wird; um Schwarmlernen, um die systematische Suche nach Inspiration in Wandergesprächen, Ideencamps oder auf Exkursionen.  

Ob diese in die indischen Slums führen müssen, wie es ThinkCamp zuweilen auf Wunsch von Teilnehmern macht, war umstritten. Gleichwohl war spürbar, dass es gerade für Sozialunternehmer auf der Suche nach neuen Wegen gewaltigen Charme haben kann, die Geschäftsidee einmal aus einer überraschenden Perspektive reflektieren zu lassen - was hält der indische Slumbewohner davon? Ebenso spürbar war die Leidenschaft der Workshop-Teilnehmer - die meisten selbst aktive Sozialunternehmer oder kurz davor - für Social Entrepreneurship. "Wir müssen endlich mehr Menschen dafür begeistern, Verantwortung zu übernehmen", sagte ein Teilnehmer. "Das muss Mainstream werden." Vielleicht gelingt das mit Menschen wie Margret Rasfeld.


Projekt Verantwortung


An ihrer Schule, der Evangelischen Reformschule Berlin Zentrum (ERZB), macht die Schulleiterin so ziemlich alles anders, was es anders zu machen gibt. Keine Leistungsauslese und nur ein Minimum von Zensuren. Blockunterricht, Projektarbeit und jede Menge Erkundung der Welt da draußen statt Mathestunden und Deutschgrammatik im 45-Minuten-Takt. Und weil Rasfeld Schule so gänzlich anders denkt als viele, hat sie neue Fächer auf den Plan gesetzt: "Verantwortung" oder "Herausforderung meistern" nennen sie sich und haben mit einem klassischen Schulfach à la Ethik so wenig zu tun, wie zu erwarten ist, wenn man Rasfeld einmal hat reden hören. Es geht ums Tun. Handeln, Verantwortung übernehmen, an die Grenzen gehen. Jetzt.  

Im Projekt "Verantwortung" geben sie zwei Jahre lang Schach- oder Spielkurse an einer nahegelegenen Grundschule, unterstützen Kinder in Brennpunktschulen beim Deutschlernen, ziehen als Klimabotschafter durch Berliner Schulen, basteln mit Senioren im Altersheim an einem Kochbuch mit alten Rezepten, das die Oldies am Computer zusammenbauen. Plus Übungsstunden für bürgerschaftliches Engagement. Im Projekt "Herausforderung meistern" stellen sich die Acht- bis Zehntklässler drei Wochen lang einer selbst gesuchten Aufgabe - außerhalb Berlins.  

"Lange hatte ich keine Lust dazu", sagt ein Mädel aus der Klimagruppe. "Wieso sollen wir reparieren, was die Erwachsenen verbockt haben? Irgendwann ist mir klar geworden: Wenn meine Enkel auch noch Schnee erleben sollen, muss ICH etwas tun - und es macht Spaß." In der Tat, die Schüler der ERBZ machen es vor: Selten sind Jugendliche so selbstbewusst, zupackend und gewohnt, Erwachsenen die Stirn zu bieten, wie die Kids aus dieser neuen Gemeinschaftsschule hinter dem Hackeschen Markt. Es ist ihnen anzumerken, dass sie Verantwortung leben, dass sie auf Kongressen vor vielen Menschen davon erzählen, ja, dass sie selbst inzwischen sogar Lehrer fortbilden. "Wir müssen endlich verstehen, dass Kinder viel mehr machen wollen, als wir Erwachsenen ihnen zutrauen", sagt ein Herr in dunklem Zwirn sichtlich beeindruckt in der Abschlussrunde des Workshops.


Allen Grund hoffnungsvoll zu sein


Es ist, als hätte Ernst Ulrich von Weizsäcker diese Jugendlichen reden hören. In seiner Dankesrede für den Vision Award, der dem Ex-Chef des Wuppertal Instituts für Klima Umwelt Energie auf dem Summit verliehen wurde, mahnte er erst mit gewohnter Präzision, endlich die Kosten der Natur einzupreisen in unser Wohlstandsdenken; die wachsende Effizienz zu nutzen, um die Natur zu schonen, statt die Konsumschraube weiter nach oben zu drehen; den Atomausstieg durchdacht und wohlstandskonform umzusetzen, damit er überhaupt zukunftsfähig ist. Dann schaute er fröhlich in das voll besetzte Auditorium. "Es macht Mut, dass so viele junge Leute hier sind. Wir haben allen Grund, hoffnungsvoll zu sein." 

Foto: Kay Herschelmann, HPI School of Design Thinking


changeX 14.04.2011. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

Artikeltools

PDF öffnen

Ausgewählte Beiträge zum Thema

Heute ist Lego

"Denken mit den Händen" - der Design Thinking Workshop beim Vision Summit zum Report

Das Ende einer milden Krankheit

changeX berichtet vom Vision Summit in Berlin. Unser zweiter Bericht. zum Report

Auf dem Weg zum Wandel

changeX berichtet vom Vision Summit in Berlin. Unser vierter Bericht. zum Report

Eine Idee, die die Welt verändern wird

changeX berichtet vom Vision Summit in Berlin. Unser dritter Bericht. zum Report

Die Ideen zählen

changeX berichtet vom Vision Summit in Berlin. Unser erster Bericht. zum Report

There's No Business Like So-Business

Wird Social Entrepreneurship zu einer sozialen Bewegung für eine bessere Welt? Ein Bericht vom Vision Summit in Berlin. zum Report

Das ist der Gipfel

Ideen für eine bessere Welt – Anja Dilk berichtet vom Vision Summit in Berlin. zum Report

Ausgewählte Links zum Thema

Autorin

Anja Dilk
Dilk

Anja Dilk ist Berliner Korrespondentin, Autorin und Redakteurin bei changeX.

weitere Artikel der Autorin

nach oben