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Enorm ambitioniert

enorm – ein neues Magazin widmet sich dem Social Business.
Text: Annegret Nill

Social Business wächst. Nun gibt es das Magazin dazu. Mit hohen Zielen. Ohne Hochglanz. Auf zertifiziertem Papier. Mit Sponsoring für soziale Projekte. Geboren aus der Einsicht, dass sich etwas ändern muss. Da kann man doch nur alles Gute wünschen.

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Acht Rupien hat sie schon gespart, berichtet die zwölfjährige Radika Kale stolz. Radika kommt aus Wathora im Bundesstaat Maharashtra. Sie lebt in einer der ärmsten Regionen Indiens, die auch als „Selbstmordgürtel“ bezeichnet wird. Denn hier haben sich in den letzten zehn Jahren viele Bauern wegen Überschuldung das Leben genommen. Dass Radika, die mit Eltern und Bruder in einer winzigen Ziegelsteinhütte lebt, angefangen hat zu sparen, ist ein Verdienst von Aflatoun, einer Organisation mit Sitz in Amsterdam, gegründet von der Inderin Jeroo Billimoria, die schon Ashoka Fellow war und von den Social-Entrepreneur-Stiftungen Schwab Foundation und Skoll Foundation ausgezeichnet wurde.
Aflatoun ermuntert arme indische Kinder spielerisch, Geld zu sparen, damit sie sich eine Zukunft erarbeiten können. Der Ansatz: Die Lehrer staatlicher indischer Schulen in armen Gegenden in interaktivem Unterrichten auszubilden und zu Multiplikatoren der Sparbewegung zu machen. Radika beispielsweise gibt jede hart ersparte Münze ihrem Lehrer, der darüber genauestens Buch führt. Sie hat sich ein hohes Ziel gesetzt: Sie möchte Ärztin werden.
Aflatoun ist eine mittlerweile recht große und in der Social-Entrepreneurship-Szene bekannte Hilfsorganisation. Und sie ist der Gegenstand einer große Fotoreportage im Herzen des neuen Wirtschaftsmagazins, dessen erste Ausgabe am vergangenen Freitag erschienen ist: enorm. Das Magazin mit dem schönen Untertitel „Wirtschaft für den Menschen“ hat sich die Social-Entrepreneur-Szene als Fokus der Berichterstattung auserkoren. Es sei „ein Magazin, das aus Einsicht geboren wurde. Der Einsicht, dass sich etwas ändern muss“, schreibt Chefredakteur Thomas Friemel, der das neue Magazin entwickelt hat, im Editorial. Friemel hat früher unter anderem für die Hamburger Morgenpost, den Berliner Kurier und das Männermagazin Max geschrieben, ist also ein Kenner der Zeitungs- und Magazinszene. Das mit der Einsicht darf man wohl wörtlich nehmen.


Bewegung aus der Mitte der Gesellschaft heraus


Dennoch wird Einsicht nicht der einzige Beweggrund für das neue Magazin gewesen sein. Mitgeholfen haben dürfte, dass sich die Bewegung des Social Entrepreneurship in Deutschland immer weiter ausbreitet. Untrügliches Indiz dafür ist neben der steigenden Zahl von Ashoka Fellows und von Graswurzel-Entrepreneuren auch die zunehmende Akademisierung der Bewegung: Rund 60 Lehrstühle, vereinzelt sogar ganze Studiengänge, seien in den letzten Jahren entstanden, berichtet enorm. Insofern hat sich also aus der Mitte der Gesellschaft heraus ein Milieu entwickelt, das eine realistische Zielgruppe für ein solches publizistisches Angebot darzustellen scheint. Das ist wichtig in einer Zeit, in der herkömmliche Wirtschaftsmagazine mit einbrechenden Anzeigenschaltungen und rücklaufenden Abozahlen zu kämpfen haben. Und enorm hat sich hohe Ziele gesteckt: Mit einer Auflage von 80.000 Exemplaren startet das vierteljährlich erscheinende Magazin. Der ehrgeizige Plan sieht so aus: Mit 20.000 bis 30.000 verkauften Exemplaren rechnet der neu gegründete Social Publishing Verlag, in dem das Magazin erscheint, für das erste Heft. Im Verlauf der kommenden drei Jahre soll diese Zahl auf 100.000 Exemplare anwachsen. Möglich ist die hohe Auflage zum Start durch finanzkräftige Investoren wie dem Myphotobook-Gründer David Diallo, der neben Friemel und Verlagsleiter Alexander Dorn einer der fünf Gesellschafter des Social Publishing Verlags ist. Die Finanzierung sei für die nächsten anderthalb Jahre gesichert. Für eine nachhaltige Finanzierung soll eine Mischung aus Abonnenten, Kioskverkauf und Anzeigenverkauf sorgen.
Im ersten Heft stecken die Magazinmacher erst einmal das Feld ab. In der Titelgeschichte „Land in Sicht!“ wird Social Entrepreneurship definiert als „das Konzept, soziales Engagement und kreatives, unternehmerisches Denken zu kombinieren, um eine nachhaltig positive Veränderung im sozialen und ökologischen und damit insgesamt gesellschaftlichen Bereich zu erzielen“. Ein Definitionskasten spezifiziert, leider ohne Angabe der Quelle, diese Definition: Ein Social Entrepreneur ist jemand, der „eine bisher unzureichend gelöste gesellschaftliche Aufgabe angeht“ und mit unternehmerischem Handeln darauf abzielt, „den gesellschaftlichen Nutzen zu maximieren“. Als Beispiel dient das Projekt „Dialog im Dunkeln“ des Sozialunternehmers Andreas Heinecke, Ashoka Fellow der ersten Stunde in Deutschland und einer der erfolgreichsten Social Entrepreneurs hierzulande. Seine in Hamburg gestartete Dauerausstellung, durch die Blinde die Gäste führen, trägt sich mittlerweile selbst und hat weltweit 13 Ableger. Hinzugekommen sind außerdem ein Restaurant und seit Neuestem Kommunikationstrainings für Führungskräfte im Dunkeln. Somit ist Heinecke nicht nur ein Social Entrepreneur. Sein Projekt ist zugleich ein Beispiel für ein Social Business, das enorm als eine Finanzierungsform für das Projekt eines Social Entrepreneurs sieht. Einem Social Business gelinge es, „sich vollständig und nachhaltig selbst zu finanzieren, indem es Produkte oder Dienstleistungen entwickelt, die zur Problemlösung beitragen und für die es Käufer gibt“.


Selbst Social Business sein


Muhammad Yunus kommt als Gründer von Grameen und Übervater der Bewegung ebenso zu Wort wie Hans Reitz, Leiter des Grameen Creative Lab in Wiesbaden, das sich der Verbreitung der Idee des sozialen Unternehmertums nach dem Grameen-Modell in Deutschland verschrieben hat. Die unternehmenskritische Autorin Kathrin Hartmann fühlt Johannes Merck auf den Zahn, dem Nachhaltigkeitsleiter der Otto Group, die als „Fabrik der Zukunft“ gemeinsam mit Grameen ein Social Business Joint Venture der Textilbranche in Bangladesch gegründet hat. Unter der Überschrift „Finanzen“ werden ethische Banken thematisiert und Anne-Kathrin Kuhlemanns Initiative Social Stock Exchange Association e. V. vorgestellt, die derzeit an einer weltweiten Sozialbörse namens NExT SSE arbeitet. Stephan Breidenbach, Gründer der Humboldt-Viadrina School of Governance und auch ein Schwergewicht der Szene, spricht sich in einem Kommentar für die Möglichkeit aus, Investoren in Sozialunternehmen eine finanzielle Rendite zu zahlen.
Nicht zuletzt werden einige Sozialunternehmen kurz mit ihrer Idee porträtiert. Es gibt einen Länderreport über Brasilien und eine feste Rubrik „Urgesteine“, in der Pioniere des sozialen Unternehmertums vorgestellt werden sollen. Die erste in der Reihe: Florence Nightingale. Was vielleicht noch fehlt, ist ein Marktplatz für potenzielle Social Entrepreneurs.
Gleichzeitig geht enorm aber über das Thema Social Entrepreneurship hinaus. So fragt das Magazin in der Rubrik „Die Frage aller Fragen“: „Kann der Kapitalismus fair sein?“ Es wildert im breiteren Feld der Nachhaltigkeit und widmet sich der Frage, wie man in Deutschland nachhaltig Leben kann, ohne zu verbiestern. Und es nimmt den Bereich der Corporate Social Responsibility mit ins Visier, wenn es eine Studie zur Zusammenarbeit von NGOs und Unternehmen vorstellt.
enorm will aber nicht nur über Social Business berichten; es will auch selbst Social Business sein. So gibt das Magazin an, 15 Prozent der Abo-Einnahmen in Projekte aus dem Bereich des sozialen Unternehmertums zu investieren. „Werden Sie zum Social Business Angel“, lockt es potenzielle Abonnenten. Und verspricht außerdem, das Magazin klimaneutral zu produzieren – indem in Togo zum Ausgleich Bäume gepflanzt werden. Denn, natürlich, ohne Ressourcenverbrauch kommt kein Print-Magazin aus. Wobei sich enorm viel Mühe gibt: Es kommt angenehmerweise ohne Hochglanzpapier aus und verwendet vom Forest Stewardship Council zertifiziertes Papier. Auch das Design ist sehr angenehm. Es gibt mehr Weißräume als üblich, die Illustrationen sind ansprechend und einfallsreich und die Fotos klar konturiert. Das Magazin hat die Latte also hoch gesteckt. Man darf gespannt sein.

enorm. Wirtschaft für den Menschen. Social Publishing Verlag, Hamburg, 130 Seiten, 7.50 Euro.


changeX 24.03.2010. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Autorin

Annegret Nill
Nill

Annegret Nill arbeitet als freie Journalistin, Autorin und Moderatorin in Berlin. Sie schreibt als freie Autorin für changeX.

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