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Die Firma sind wir

Musterbrecher - der Film von Stefan Kaduk, Dirk Osmetz und Hans A. Wüthrich
Rezension und Interview: Anja Dilk

Unternehmen, die Grundlegendes anders machen. Die Muster brechen: die Muster aus den betriebswirtschaftlichen Lehrbüchern. Und die den Wandel zu einem Unternehmen wagen, bei dem die Beziehungen zwischen den Mitarbeitern im Mittelpunkt stehen, nicht die Managementstrukturen. Ein Film porträtiert solche Unternehmen mit analytisch geschärftem Blick und reflektierenden Kommentaren. Dazu eine Hybrid-Rezension mit integrierten Interviewsequenzen. Und einer Rückkopplungsschleife zum Premierenbericht über AUGENHÖHEwege.

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Was passiert, wenn ein Chef abhaut? Andreas Glemser hat es einfach mal ausprobiert. Der Vorstandsvorsitzende der Cocomin AG. Er packte seine Koffer und machte sich auf eine Weltreise.  

Als Glemser nach einigen Monaten zurückkehrte, war von seinem Job nichts mehr übrig. "Ich war arbeitslos." Die Mitarbeiter hatten sich Stück für Stück seine Aufgaben geschnappt. "Man kann ja nicht warten, bis der Alte zurück ist." Glemser lacht. "Da musste ich halt was Neues machen." Der Boss des Trainingsinstituts aus Leinfelden-Echterdingen erarbeitete neue Strategien für die Firma. Heute ist sie doppelt so erfolgreich wie vor dem Exit des Mannes an der Spitze.  

Im Grunde wundert das Glemser nicht. "Der Chef ist immer der Flaschenhals für Veränderung." Wenn niemand mitentscheiden kann, sind Wachstum und Entwicklung ohne ihn kaum möglich. Deshalb hat Glemser die Prinzipien Vertrauen und Eigenverantwortung auf die Probe gestellt. Sein Experiment hat funktioniert. Die Geschäfte laufen besser, die Mitarbeiter sind zufriedener. "Sie haben sich nach meiner Rückkehr bei mir bedankt." Dass es mal welche gibt, die Vertrauen missbrauchen, wie jene Sekretärin, die ihn nach 14 Jahren Zusammenarbeit beklaute, wirft Glemser nicht aus der Bahn. "Selbst wenn einen zehn Prozent der Leute bescheißen, unter dem Strich zahlt es sich doppelt und dreifach aus, den Menschen etwas zuzutrauen." Einige Jahre nach seinem ersten Exit begab sich Firmenchef Andreas Glemser wieder auf Weltreise.


Keine Erfolgsrezepte


Andreas Glemser ist ein Musterbrecher. Einer, der es wagt, aus der gewohnten Organisationslogik auszubrechen und etwas Neues zu wagen. Weil er glaubt, dass Arbeiten und Wirtschaften auch anders gehen kann, erfolgreicher und zufriedener zugleich. Weil er überzeugt ist, dass es sich lohnt, ein Menschenbild, geprägt von Misstrauen und Kontrollwahn, infrage zu stellen.  

Es sind Menschen wie Andreas Glemser, die Stefan Kaduk, Dirk Osmetz und Hans A. Wüthrich faszinieren. Die drei Berater beschäftigen sich seit 15 Jahren mit "Musterbrechern", wie sie Unternehmer wie Glemser nennen. 700 narrative Interviews haben sie im Laufe der Jahre in Unternehmen geführt, 80 Andersmacher analysiert und sie auf einer Filmreise von September 2014 bis Oktober 2015 porträtiert. Mitte Februar haben sie ihren Film Musterbrecher auf den Markt gebracht, erschienen ist er bei Murmann. 

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Wie sind Sie denn auf die Idee der Musterbrecher gekommen, Herr Kaduk?  

Stefan Kaduk: Das war schon 2001 an der Universität der Bundeswehr, an der Hans A. Wüthrich einen Lehrstuhl hat. Durch Zufall sind wir drei uns dort begegnet und haben festgestellt, dass wir alle eine Beobachtung teilten: Es gibt eine gewaltige Unzufriedenheit mit der klassischen Beratung, die mit Change Management und mechanistischen Methoden Veränderungen in Organisationen in Gang setzen zu können glaubt. "Wie geht es anders?", haben wir uns gefragt und beschlossen: Wir machen uns selbst auf die Suche nach Andersmachern und erkunden ihre Biotope. Erfolgsrezepte interessieren uns nicht, wir wollen inspirieren.  

Ihr erstes Fazit ist schon 2006 als Buch erschienen. Musterbrecher. Führung neu leben. 2013 dann Musterbrecher. Die Kunst, das Spiel zu drehen. Verraten Sie uns. Was sind für Sie Musterbrecher? 

Stefan Kaduk: Für uns sind das Unternehmen oder Einzelne, die sinnvoll Muster brechen. Menschen also, die mit Augenmaß ausprobieren, Dinge anders zu machen, ohne dabei gleich alles aufs Spiel zu setzen. Es sind Leute, die den Mut haben, an Grenzen zu gehen, aber auch den Realismus, die Grenzen des Machbaren zu erkennen. Klug und geschickt verbessern sie das Bestehende, es ist eine Arbeit im und am System. Man kann in einem börsennotierten Konzern nicht alle Bilanzierungsvorgaben und Gewinnerwartungsprognosen einfach in die Luft schießen. Sehr beeindruckend war für mich da die Südostbayernbahn (SOB).


Das Unternehmen und die Mitarbeiter besser verstehen


Sichtlich entspannt sitzt SOB-Chef Christoph Kraller im kegelförmigen Interviewstuhl, mit dem Kaduk, Osmetz und Wüthrich durch die Republik reisen, und erzählt. Von den Fahrgästen, mit denen er einmal im Jahr ausgiebig spricht. Dann schlendert er einfach durch den Zug, spricht die Leute an, "Hallo, ich bin der Chef der SOB. Gibt es etwas, das Sie mir über die SOB sagen möchten?" Manchmal sind sie dann kaum zu stoppen, wie jener Mann, der ihm beglückt Geschichten aus 25 Jahren Pendlerdasein servierte.  

Indem er mit den Leuten spricht, erfährt Kraller auch ungewöhnliche Geschichten aus einem Unternehmen. Geschichten von Mitarbeitern, die den Mut haben, Ungewöhnliches zu tun. Wie jener Stellwerksleiter, der eine australische Familie, die irrtümlich im abgelegenen Rottal gelandet war, bei sich zu Hause übernachten ließ, um ihr am nächsten Tag zu zeigen, wie sie an ihren eigentlichen Zielort kommt. Wie jener Mitarbeiter, der mit einer Bank ein Fenster zum Signalraum einschlug, aus dem er sich ausgeschlossen hatte. So konnte er die Signale setzen, ohne die der Zugverkehr zum Stehen gekommen wäre.  

Gern schlüpft SOB-Chef Kraller auch in andere Rollen, um sein Unternehmen und die Mitarbeiter besser zu verstehen. Regelmäßig packt er eine Nacht lang bei der technischen Reinigung mit an. Das ist verdammt teuer, denn Kraller versteht nicht viel vom Reinigen und braucht daher viel länger als die Profis neben ihm. Doch Kraller ist gern verschwenderisch. Er weiß, wann es klug ist, kurzfristig nicht effizient zu sein, damit man langfristig die richtigen Entscheidungen trifft. Selbst als 100-prozentige Tochter des Konzerns Deutsche Bahn. Auch Kraller gibt der Erfolg recht: Gerade hat sich die SOB im Ringen um den Zuschlag für den Betrieb der Regionalstrecke Süd gegen andere Bewerber durchgesetzt.  

Herr Kaduk, sind die Musterbrecher letztlich also auch Querdenker? 

Stefan Kaduk: Querdenker - das ist ein schrecklicher Modebegriff. Querdenker sind für mich Leute in Talkshows, die irgendetwas gegen den Mainstream Gebürstetes sagen, aber nicht handeln. Auch Unternehmen zaubern gerne Querdenker aus irgendwelchen Hubs hervor, unfassbar kreative Menschen, die die nächste disruptive innovation auf den Tisch knallen, aber kaum einer hat noch Zeit, darüber in Ruhe nachzudenken. Brauchen wir das? Bringt uns das was? Und oft ist das Kokettieren mit solchen Querdenkern nur Etikettenschwindel.


Nach klugen Musterbrüchen forschen


Musterbrecher haben es nicht nötig, zu schwindeln und zu protzen. Sie entdecken. Die Protagonisten der neun Organisationen, die das Beratertrio für seinen Film besucht hat, sind bescheidene Macher. Sie handeln im Stillen, ohne ihr Andersmachen publikumswirksam an die große Glocke zu hängen. Sie sind so anders, finden Kaduk, Osmetz und Wüthrich, dass es sie nach üblichen Maßstäben eigentlich gar nicht geben dürfte. Denn sie widersprechen fast allem, was in Managementlehrbüchern steht.  

Wer macht denn so was? Ein Unternehmen nach Art der Zellteilung betreiben? Fünf Werke liegen nebeneinander aufgereiht wie auf einer Perlenkette. Alle haben 150 bis 250 Mitarbeiter, eine eigene Buchhaltung, eigenes Controlling, eigene Logistik, eigene Führungsteams. Alle sind rundherum für sich selbst verantwortlich. Spätestens wenn ein Werk 250 Mitarbeiter hat, wird es wieder geteilt. Synergien? Fehlanzeige. Warum leistet sich der Textilhersteller Gore so eine Verschwendung? "Wir haben eine Philosophie der direkten, spontanen Kommunikation, dazu muss man sich kennen", erklärt Geschäftsführer Oskar Berger. Also dürfen die Einheiten nicht zu groß sein, um effizient arbeiten zu können.  

Verschwendung rechnet sich. Genau wie es sich lohnt, das Votum der vielen ernst zu nehmen. Die Frau an der Spitze des 10.000-Mann-Unternehmens wurde gewählt. "Wer soll euer Leader sein?", waren mehrere Hundert Gore-Führungskräfte weltweit gefragt worden. Den Namen ihres künftigen Wunschchefs sollten sie auf ein weißes Blatt schreiben. Am häufigsten stand dort der Name Terri Kelly. Seitdem führt sie das Unternehmen, das 2015 drei Milliarden US-Dollar erwirtschaftete. Berger: "Wir sind überzeugt, dass ein Leader nur dann ein Leader sein kann, wenn die Leute ihm folgen wollen." 


Nicht mehr so weiter wie bisher


Herr Kaduk, zwei Bücher, jetzt ein Film. Wieso eigentlich? 

Stefan Kaduk: Wir wollten einen Medienwechsel. Unsere Bücher leben sehr von Beispielen. Sie sollen lebendig sein wie Klänge, die im Ohr des Publikums hängen bleiben. Wir haben es einfach versucht. Ohne Masterplan und mit eigenen finanziellen Mitteln. Ganz falsch lagen wir wohl nicht. Die Zuschauerreaktionen bei der Filmpremiere in München waren sehr beeindruckend. Die Menschen sind begeistert, berührt, manche sogar beseelt aus dem Kino gegangen.  

Nun ist Musterbrecher nicht der einzige Film, der Andersmacher ins Rampenlicht holt. Gerade wurde AUGENHÖHEwege, eine Produktion vom Team um die Filmemacher Sven Franke und Daniel Trebien, in zehn Städten in Deutschland, Österreich und der Schweiz gleichzeitig uraufgeführt. Die Säle sind voll. Zum Teil portraitiert AUGENHÖHEwege die gleichen Firmen wie Musterbrecher, Ladegut-Sicherungshersteller Allsafe Jungfalk zum Beispiel. Was unterscheidet Musterbrecher von AUGENHÖHEwege?  

Stefan Kaduk: Im Grunde nur wenig. Sie haben Ähnliches gemacht, nach klugen Musterbrüchen geforscht. Und ich finde, Sven Franke und seine Crew haben das ganz toll hinbekommen. Der einzige Unterschied ist, dass wir unsere Beobachtungen kommentieren, einordnen. Beides ist ein Weg. Ich sehe uns da nicht als Konkurrenz. Letztlich ist es symptomatisch für das Grundgefühl in unserer Gesellschaft, dass fast zeitgleich zwei Filme mit einer ähnlichen Perspektive, einer ähnlichen Kritik erschienen sind und auf so große Resonanz stoßen. Es geht in unserer Gesellschaft eben einfach nicht mehr so weiter wie bisher.


Gibt es ein Muster der Musterbrecher?


Wenn die Biotope der Musterbrecher Anstöße liefern sollen, damit sich tatsächlich etwas ändert - lässt sich dann so etwas wie ein Muster der Musterbrecher ausmachen?  

Vielleicht ist es die Arbeit an Beziehungen, resümieren Osmetz, Wüthrich und Kaduk in ihrem Film. Wie beim Maschinenbau-Beratungsunternehmen Vollmer & Scheffczyk aus Hannover. Gehälter und Urlaube werden frei ausgehandelt. "Es gibt zum Teil heftige, harte Debatten", sagt Mitgründer Lars Vollmer. "Aber es bleibt bei der Selbstbestimmung." Denn wo jeder eigenverantwortlicher Teil eines Kollektivs ist, ziehen letztlich alle an einem Strang. Oder, wie es ein Mitarbeiter formuliert: "Hier wirst du keine Sprüche hören à la ,Das zahlt ja eh die Firma!‘. Denn die Firma sind wir."  

Wie beim Türblatthersteller RWD Schlatter im schweizerischen Roggwil. CEO Roger Herzig setzt konsequent auf Vertrauen. Die Außendienstmitarbeiter müssen keine Berichte mehr schreiben, arbeiten für ein gemeinsames Budget und bekommen alle den gleichen Bonus, abhängig vom Ertrag des Unternehmens. Seitdem haben sie mehr Zeit für den Verkauf und keinen Grund mehr, schon im Oktober die Jahresendruhephase einzuläuten, wenn die eigenen Budgetziele erreicht sind. Doch letztlich zählen nicht Regularien, sondern Beziehungen. CEO Herzig sagt: "Vertrauen kann man nur spüren im täglichen Umgang mit den Vorgesetzten." Offenbar spüren die Mitarbeiter viel. Obwohl die Außendienstmitarbeiter seit der Umstrukturierung bis zu 50 Prozent weniger Geld verdienen, hat niemand gekündigt. Vertriebler Fiorenzo Pelli: "Die Arbeit macht jetzt viel mehr Freude, die Qualität hat sich enorm verbessert."


Keine Tools, sondern eine Haltung


Mal ehrlich, Herr Kaduk, glauben Sie, dass sich in der Wirtschaftswelt gerade wirklich etwas verändert? Stehen wir vor dem nächsten großen Ding?  

Stefan Kaduk: Na ja, ich war schon optimistischer. Andererseits ist es tatsächlich ein deutliches Signal, dass Publikationen wie AUGENHÖHE und Musterbrecher auf solche Resonanz stoßen. Letztlich aber schwanke ich täglich. Tut sich wirklich etwas? Oder ist das bloß die nächste Kuh, die durchs Dorf getrieben wird? Sicher, Musterbrecher, AUGENHÖHE, das ist fundamentaler als Kaizen oder Führen mit fernöstlichem Blick. Es sind keine Tools, es ist eine Haltung.
Andererseits: Vielleicht meinen es nur zehn Prozent unserer Zuschauer ernst, während die anderen denken: "Aha, interessant!" - und weitermachen wie bisher. Es gibt schon viele Menschen mit einem ungeheuren organisationalen Zynismus, dieser Ist-halt-so-Haltung ... und außerdem hat man ja noch das Haus am Starnberger See abzubezahlen. Das bremst die Bereitschaft zum Musterbruch.  

Mit einer Lernreise wollen Sie Zweifler und Neugierige ermuntern, vielleicht doch selbst aktiv zu werden. Ein Sonderzug macht sich 2016 auf zu den Orten des Musterbruchs. 

Stefan Kaduk: Ja, wir laden ein, auf einer 48-Stunden-Tour live zu den Unternehmen zu fahren, die den Ausbruch wagen. Auf dem Tourenplan stehen Ladegutsicherer Allsafe Jungfalk und Türenhersteller RWD Schlatter. Im Juli geht es los. Vielleicht können wir neue Musterbrecher inspirieren. Vielleicht kommen auch eher jene, die es ohnehin anders machen und sich vergewissern wollen: "Liege ich richtig?" Beides wäre ein Erfolg.  


Zitate


"Erfolgsrezepte interessieren uns nicht, wir wollen inspirieren." Stefan Kaduk über den Film Musterbrecher

"Wir sind überzeugt, dass ein Leader nur dann ein Leader sein kann, wenn die Leute ihm folgen wollen." Oskar Berger, Geschäftsführer Gore Deutschland, im Film Musterbrecher

"Es geht in unserer Gesellschaft eben einfach nicht mehr so weiter wie bisher." Stefan Kaduk über den Film Musterbrecher

 

changeX 18.03.2016. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Zum Buch

: Musterbrecher - der Film. DVD 90 Minuten plus Bonusmaterial. Murmann Publishers, Hamburg 2016, 24.95 Euro, ISBN 4260339170010

Musterbrecher - der Film

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Autorin

Anja Dilk
Dilk

Anja Dilk ist Berliner Korrespondentin, Autorin und Redakteurin bei changeX.

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