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Die Komplexität umarmen

Wrong Turn - das neue Buch von Lars Vollmer
Rezension: Jost Burger

Alles so komplex hier. Hört man oft. Und ahnt den Wunsch dahinter: Wenn man das alles doch steuern könnte! Mit besserer Planung. Mehr Daten. Irgendwann, wenn die Ungewissheit vorbeigezogen ist. Passé. Ein Buch räumt auf mit der Verwechslung von Kompliziertheit und Komplexität. Dem Klammern an Kausalitäts-, Objektivitäts- und Steuerungsfantasien. Und zieht den Managementfans den Zahn. Plus Wurzelbehandlung.

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Stellen Sie sich vor, ein Fußballtrainer würde vor Beginn eines Spiels seiner Mannschaft einen detaillierten, bis ins Letzte ausgearbeiteten Plan präsentieren, der die Spielzüge und zu erzielenden Tore für jede einzelne der kommenden 90 Minuten vorgibt. Das können Sie sich nicht vorstellen? Natürlich nicht: Selbst an Fußball wenig Interessierten ist klar, dass das niemals klappen kann. Doch genau das machen immer noch viele, viele Organisationen und Unternehmen, zum Beispiel wenn es um die Jahresplanung geht. Keiner kommt auf die Idee, das lächerlich zu finden. Und wenn es hinterher nicht klappt, finden sich schon Begründungen und Ausreden. Oder die Firma ist pleite. 

Das ist der Befund, den der Unternehmensberater Lars Vollmer in seinem Buch Wrong Turn vorlegt. Wobei es ihm gar nicht so sehr um einzelne, falsche Entscheidungen geht, wie es der Titel nahelegen könnte. Vollmers These ist vielmehr: Führungskräfte sind allzu oft in einer tayloristischen Weltsicht verfangen, in der die Dinge zwar ziemlich kompliziert werden können, aber immer planbar, kontrollierbar, handhabbar bleiben. Sprich: Ursache und Wirkung sind prinzipiell zu verstehen. Es braucht nur einen guten Plan. Und Leute, die den dann getreulich ausführen.


Gewiss ist nur die Ungewissheit


Leider ist die Welt im 21. Jahrhundert aber nicht kompliziert, sondern komplex, sagt Vollmer. Und reiht sich damit in den kleinen, aber wachsenden Chor jener ein, die darauf hinweisen, dass in einer schnellen, vernetzten Welt Kausalitäten eben nicht klar sind und nur eines gewiss ist: die Ungewissheit. Da ist nichts mehr mit Planung und Kontrolle: "Komplexe Systeme zu beherrschen ist ungefähr so aussichtsreich wie der Wunsch, sich seine leiblichen Eltern selbst aussuchen zu können." Und noch so ein treffender Satz: "Der Lauf der Dinge schert sich nicht um Prozesshandbücher." Das Schöne an diesem Buch: Vollmer konstatiert das nicht nur, er macht auch Vorschläge zur Lösung. Und zwar ganz konsequent keine komplizierten: Er bietet komplexe Lösungen, um ein wenig vorzugreifen.  

Wobei schon seine Hinführung wunderbar zu lesen ist. Eher wie ein gekonnt-souveräner Vortrag lesen sich die Kapitel, die es dennoch an Konkretheit nicht mangeln lassen. Gekonnt stellt der Autor dar, dass der Fehler, der "Wrong Turn" im Sinne einer falschen Annahme, schon darin besteht, von der Möglichkeit objektiven Wissens auszugehen. Fakten, die wir vermeintlich sicher zu wissen scheinen, werden von unseren Vorurteilen, von Glaubenssätzen oder von dem, was Vollmer die Expertenfalle nennt, beeinflusst: Etwas scheint wahr und richtig, nur weil Steve Jobs oder Klinsmann es gesagt hat. Und die auf vermeintlichem Wissen fußenden Modelle, die wir uns - um sie handhabbar zu machen - von der Realität machen, sind regelmäßig zum Scheitern verurteilt. Nicht etwa, weil die Modelle an sich falsch wären. Sondern weil uns die Realität nicht den Gefallen tut, sich an die Modelle zu halten: "Im Windkanal mag ein Modell nützliche Daten liefern. Systeme von modernen Unternehmen dagegen sind immer seltener anhand reduzierter Maßstäbe zu verstehen."


Mythos Best Practice


So räumt Vollmer konsequent auch mit dem Mythos Best Practice auf. Führungskräfte studieren eifrig Erfolge in dem Glauben, was in einem anderen Unternehmen geklappt hat, müsse auch im eigenen funktionieren. Und laufen in die Falle der falschen Übertragung. Vollmers Argument: Best Practices haben einmal in einer bestimmten Umgebung funktioniert. Wie kommt man aber zu der Annahme, eine Anwendung in einem anderen Umfeld würde genauso gut funktionieren? Schon allein die Tatsache, dass eine Best Practice bestenfalls das Modell von gestern ist, aber jetzt zur Anwendung kommen soll, muss doch stutzig machen: Seitdem können sich Marktgegebenheiten, Kundenwünsche oder Technologien verändert haben. Oder andere Dinge den Ausschlag geben, nicht die vermeintliche Best-Practice-Regel: "Der Erfolg könnte ja auch der allgemeinen wirtschaftlichen Lage, anderen unternehmerischen Maßnahmen oder - und das ist gar nicht so unwahrscheinlich - schlicht dem Zufall geschuldet sein", schreibt Vollmer.  

Da ist man als Leser versucht, sofort einzuwenden: Moment, natürlich lassen sich grundlegende Strukturen erkennen, man kann schauen, wo dieselben Voraussetzungen gegeben sind, und dieses Wissen dann übertragen. Eben nicht, so Vollmer: Das Problem beginnt ja schon damit, dass Wissen gar nicht sicher erkannt werden kann - in diesem Fall strukturelle Erkenntnisse im Sinne einer Best Practice etwa. Was will man dann noch "übertragen"? Letztlich ist und bleibt Best Practice immer ein Einzelfall. Best Practice ist immer nur die Best Practice eines Unternehmens, sagt Vollmer. Und eine Gefahr besteht immer: Etwas passiert, mit dem schlicht kein Mensch gerechnet hat, und macht alles obsolet. Ein Taifun noch nie da gewesener Stärke etwa wie im Fall Fukushima. Die Erfindung des Dampfers, der die schnellen Segelschiffe, die Clipper, im 19. Jahrhundert obsolet machte. Oder, oder, oder ... 

Gut. Wo also liegt die Lösung? Zwei Vorschläge hat Vollmer: Selber denken lassen. Und die Komplexität umarmen, statt sie zu bekämpfen: "Komplexität kann man nur mit Komplexität begegnen." Und nebenbei die Idee der Führungskraft über Bord werfen.


Wozu dann noch Führungskräfte?


Und ja, tatsächlich schreibt er von dm, jener äußerst erfolgreichen Drogeriemarktkette, in der die Mitarbeiter der einzelnen Filialen großen Einfluss auf das Sortiment haben. Je nach Lage und Umfeld passen sie es an: Wo es viele Altenheime gibt, nehmen Haftcremes und Fußpflegeprodukte viel Raum ein, wo die Uni um die Ecke ist, eher Bioprodukte, Beautykram und, na ja, Kondome. Das funktioniert, weil dm nicht streng hierarchisch geführt wird mit einer Führungsriege, die im Zentrum sitzt, aber wenig Kontakt zum Marktgeschehen hat. dm hat erkannt, dass sich das Wissen etwa um die Kundenwünsche dort sammelt, wo es wirkt: bei den Filialmitarbeitern vor Ort. Wenn man denen jetzt erlaubt, sich auszutauschen und Wissen und Erfahrung direkt anzuwenden, stimmen auch die Umsätze. Ein ganz schön komplexes System, bei dem diejenigen an der Konzernspitze schlicht nicht wissen können, was da im Einzelnen so vor sich geht in den Filialen. Besser gesagt: Sie planen es nicht mehr. Sie liefern lediglich ein "stummes Modell", wie es Vollmer nennt: Ein Modell, das keine Einzelvorschriften macht, sondern Handlungsräume setzt.  

Stellt sich die Frage: Wozu dann noch Führungskräfte? Was machen die dann noch? Und kann man den Mitarbeitern denn wirklich so viel Freiheit geben? Hier wird das Buch richtig gut. Und eine ganz schöne Herausforderung. Vollmer sagt: Führen ist eine Tätigkeit wie Nachdenken oder Zuhören. "Die Aufgabe des Führens ist eine fluide, überall auftauchende Aufgabe. Ständig muss jemand die Führung übernehmen." Führung ist damit nicht an eine bestimmte Person gebunden. Sondern eine Rolle, die je nach Situation von verschiedenen Mitarbeitern eines Unternehmens ausgefüllt wird.  

Und jetzt kommt’s: Vollmer ist überzeugt, dass Menschen das wollen. Sie verhalten sich in seinen Worten "systemkonform". Das heißt, sie folgen automatisch einem System und halten es am Laufen. Und geben dafür das Beste, was sie geben können. Indem sie etwa je nach Anforderung flexible Arbeitsgruppen bilden, in denen die Könner die Arbeit anleiten. Sie tun das - jedoch nur unter einer Voraussetzung: Man muss ihnen die Freiheit dazu geben. Und das System so gestalten, dass eine Vernetzung möglich ist. Das bleibt als einzige Aufgabe von "Führungskräften", die dann, so denkt man beim Lesen, wohl eher Ideengeber und Möglichmacher sind.


Mitarbeiter in die Freiheit der Komplexität entlassen


Dass sich Menschen erfolgreich selbst organisieren können, dafür führt Vollmer als Beispiel das Elbhochwasser vom vergangenen Jahr an. Im Juni 2013 organisierten Hunderte ganz normaler Dresdner Bürger den Bau von Sandsackbarrieren, die Belieferung mit Nachschub und die Versorgung mit Essen völlig dezentral, indem sie Twitter und Facebook nutzten. Äußerst erfolgreich begegneten sie dem komplexen Problem eines Hochwassers mit einem ebenfalls komplex angelegten dezentralen System. Bei der hierarchisch organisierten Feuerwehr dagegen drehten viele einfach nur Däumchen: Deren Führung kannte die Lage vor Ort nicht, sie konnte mit schnell wechselnden Umständen nicht umgehen und traute ihren Leuten keine Eigeninitiative zu. Sie wollte kompliziert planen, versagte aber an der Komplexität des Geschehens.  

Auf Unternehmen gemünzt sagt dazu Vollmer: "Sobald Sie Ihre Mitarbeiter in die Freiheit der Komplexität entlassen, passen sie sich an und verhalten sich anders, als im Plan vorgesehen." Und zwar besser, klüger, erfolgreicher. Das erfordert schlicht eines: Vertrauen in die Menschen. Ist das ein Zirkelschluss - Sie müssen vertrauen, weil Sie vertrauen müssen? Nur scheinbar. Denn das Gegenmodell - alles berechnen, kontrollieren und planen zu wollen - funktioniert in einer komplexen Welt ja nicht. Man könnte sagen: Vertrauen in die Selbstorganisationskräfte des Menschen ist die einzige Option.  

Fazit? Selten wurde für die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels so schlicht und überzeugend argumentiert. Findet der Rezensent, der den Menschen gegenüber ja sehr skeptisch ist. Dieses Werk aber uneingeschränkt empfiehlt: Ein Buch für alle, die endlich mal wissen wollen, wie die neue Arbeitswirklichkeit in die Welt kommen soll. Nämlich ohne Blaupausen. Nur mit Vertrauen.  


Zitate


"Die Welt ist nicht einfach und vorhersagbar. Sie ist komplex, das heißt, überraschend und unvorhersehbar. Und noch viel weniger vorauszuplanen, zu beherrschen, zu managen. Sie verhält sich auch nicht nach Regeln. Der Lauf der Dinge schert sich nicht um Prozesshandbücher." Lars Vollmer: Wrong Turn

Best Practice ist immer nur die Best Practice eines Unternehmens. Lars Vollmer: Wrong Turn

"Komplexität kann man nur mit Komplexität begegnen." Lars Vollmer: Wrong Turn

"Die Aufgabe des Führens ist eine fluide, überall auftauchende Aufgabe. Ständig muss jemand die Führung übernehmen." Lars Vollmer: Wrong Turn

"Sobald Sie Ihre Mitarbeiter in die Freiheit der Komplexität entlassen, passen sie sich an und verhalten sich anders, als im Plan vorgesehen." Lars Vollmer: Wrong Turn

 

changeX 04.04.2014. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Zum Buch

: Wrong Turn. Warum Führungskräfte in komplexen Situationen versagen. Verlag Orell Füssli, Zürich 2014, 224 Seiten, 19.95 Euro, ISBN 978-3-280-05527-4

Wrong Turn

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Autor

Jost Burger
Burger

Jost Burger ist freier Journalist in Berlin. Er schreibt als freier Mitarbeiter für changeX.

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