So klein ist die Welt

Small Worlds - das neue Buch von Mark Buchanan.

Von Ute Hohmeier

Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen dem World Wide Web, dem Stromnetz der Vereinigten Staaten und dem Synchronisationsverhalten von Glühwürmchen auf Papua Neuguinea? Solche Fragen, die auf den ersten Blick abwegig klingen, beschäftigen Netzwerk-Wissenschaftler seit mehr als 30 Jahren. Ihre Simulationsmodelle führen sie zu verblüffenden neuen Hypothesen für Ökologie und Technik.

Unsere Umwelt wird komplexer. Einfache Ursache-Wirkungsmechanismen tragen immer weniger zur Erklärung von Entwicklungen und Ereignissen bei. Nur wer in komplexen Systemen denkt, findet einen Schlüssel für die Zusammenhänge, die in der globalen Welt maßgeblich sind. Doch was wissen wir wirklich über komplexe Netze?
Mark Buchanan hat in seinem neuen Buch Small Worlds den aktuellen Forschungsstand der Komplexitätstheorie zusammengefasst. Der Titel geht auf ein Experiment des amerikanischen Psychologen Stanley Milgram zurück, in dem er untersucht hat, welches Netz von Beziehungen Menschen zu einer Gesellschaft verbindet.
Er bat zufällig ausgewählte Menschen von Nebraska bis Kansas, ein Schreiben an einen Börsenmakler in Boston weiterzuleiten. In einer Kette sollten sie den Brief jeweils an denjenigen ihrer Bekannten senden, von dem sie annahmen, dass er oder sie mit dem Makler - gesellschaftlich oder geografisch - enger verbunden war. Das Ergebnis war so überraschend, dass es in den Staaten berühmt wurde. Nicht nur weil die meisten Briefe den Adressaten an der Ostküste tatsächlich erreichten, sondern weil sie in der Mehrzahl nicht mehr als sechs Zwischenschritte gebraucht hatten - "six degrees of separation" war auch die Formel, mit der das Ergebnis in die amerikanische Umgangssprache einging. Später erweiterte man Milgrams Experiment auf andere Menschen rund um den Globus und fand das Ergebnis bestätigt: die überwiegende Mehrzahl ist nicht mehr als sechs Schritte voneinander entfernt - so klein ist die Welt.

Netzwerke: ähnlich und doch sehr verschieden.


Erst in den 90er Jahren begannen zwei Mathematiker sich für die Struktur der Netzwerke zu interessieren, die unsere Welt so klein machen. Und hier beginnt Buchanans Geschichte. Er führt diverse Untersuchungen aus Sozial- und Naturwissenschaften, aber auch Tests von Informatikern und Militärstrategen zusammen, die sich mit dem Aufbau komplexer Netzwerke beschäftigen. Haben sie Gemeinsamkeiten?
Ja und nein müsste die Antwort lauten, denn obwohl sich ähnliche Organisationstypen ausmachen lassen, unterscheiden sich Netzwerke auch gravierend voneinander. Eine allgemeine komplexe Struktur, die sich in jedem Netz einstellt und alle Funktionen optimal abdeckt, gibt es nicht. Wohl aber Strukturen, die sich für eine schnelle Informationsweiterleitung eignen, andere, die besonders stabil sind, und wieder andere, die sich auf die Koordination von Informationen spezialisiert haben. Sie verfügen, je nach Funktion, über einen flachen oder hierarchischen Aufbau; sie können eine hohe Clusterdichte aufweisen oder ihre geordnete Struktur mit Zufallsverbindungen kombinieren.
Das World Wide Web hat zum Beispiel einen hierarchischen Aufbau, in dem eine Vielzahl von Verbindungen in einigen Superknoten zusammenläuft. Unterhalb dieser Superknoten organisiert sich das Netz in feineren Verzweigungen mit nachgeordneten Schaltstellen bis zur untersten Ebene, auf der sich die meisten Computer mit den wenigsten Verbindungen befinden. Die Hierarchie in der Organisation ermöglicht es dem Web, sein schnelles Wachstum mit einer Small-World-Struktur zu verbinden, in der die Rechner immer noch über wenige Schritte miteinander in Verbindung treten können.

Trockene Theorie und faszinierende Spekulationen.


Buchanan sucht über die trockenen Fakten hinaus nach Zusammenhängen oder füllt Lücken in der Forschung durch Annahmen, um zu einem Ganzen zu kommen. Denn die Komplexitätstheorie verfügt zwar über plausible Hypothesen, stützt sich aber vor allem auf eine theoretische Vorgehensweise - wie die besagten Simulationsmodelle - und weist nur wenige praktische Bezüge auf. Spannend wird Buchanans Zusammenschau deshalb gerade dann, wenn er über mögliche Konsequenzen spekuliert oder neue Ansätze für ökologische oder technische Fragen skizziert.
Die einzelnen Arten auf der Erde, erläutert der Wissenschaftsjournalist beispielsweise, sind ebenfalls in einer Small-World-Struktur organisiert und durch nicht mehr als zehn Schritte voneinander getrennt. Nicht Nahrungsketten von Beutetieren und ihren natürlichen Gegnern bestimmen demnach das Ökosystem, sondern Jäger und Gejagte beziehen ihre Nahrung aus einer unterschiedlich großen Zahl anderer Tiere und Pflanzen. Die einzelnen Verbindungen in diesem Netz sind dabei umso stärker, je kleiner ihre Zahl ist. Wie sich die Reduktion einer Art auswirkt, hängt deshalb von den Alternativen für die "Nachbarn" im Nahrungsnetz ab. Sie können einen Verlust umso schlechter kompensieren, je stärker ihre Bindung zum betreffenden Nachbarn war. Für das gesamte Netz sind jedoch gerade die Arten wertvoll, die durch eine Vielzahl schwacher Bindungen Schlüsselpositionen einnehmen und es auf diese Weise zusammenhalten. Sie sind besonders wichtig für das Gleichgewicht und die Pufferfunktion im System. Der Verlust einiger dieser Schlüsselarten kann das Öko-Netzwerk sehr schnell in fragmentierte Welten zerfallen lassen - mit verheerenden Auswirkungen auf die Regenerationsfähigkeit und die Stabilität des gesamten Systems. Das Wichtigste für die Netzwerkforschung: Wer nach wie vor in Nahrungsketten denkt, wird die größten Gefahren, die der Autor im Verlust der Schlüsselarten sieht, gar nicht erfassen können.

Guter Überblick über das Thema.


Buchanan wirbt mit einer Vielzahl von Beispielen für die Bedeutung der Netzwerkforschung in der Praxis, ohne den betreffenden Bereichen immer gerecht werden zu können. Es gelingt ihm allerdings sehr gut, die Bedeutung des Paradigmas zu umreißen und es aus dem Schattendasein der Grundlagenforschung herauszuführen. Wer sich nicht mit reiner Theorie, aber mit einer gut recherchierten und ebenso gut erzählten Darstellung Einblicke in die Komplexitätstheorie verschaffen will, für den ist Buchanans Small Worlds ein Gewinn.

Mark Buchanan:
Small Worlds.
Spannende Einblicke in die Komplexitäts-Theorie,

Campus Verlag, Frankfurt/New York 2002,
272 Seiten, 21,50 Euro,
ISBN 3-593-36801-3
www.campus.de

Ute Hohmeier ist Redakteurin bei der Fachzeitschrift Orthopädieschuhtechnik. Sie absolvierte im Dezember ein Praktikum bei changeX.

© changeX Partnerforum [30.12.2002] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.


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: Small Worlds. . Spannende Einblicke in die Komplexitäts-Theorie.. Campus Verlag, Frankfurt/New York 1900, 272 Seiten, ISBN 3-593-36801-3

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