Weg von der Vollkasko-Mentalität!

Das Infineon Future Forum in Berlin.

Im Herzen von Berlin, gleich neben dem Brandenburger Tor, diskutierten Spitzenmanager der deutschen Wirtschaft mit Infineon-Chef Ulrich Schumacher über die Zukunft des Standortes Deutschland.

Das Motto war brisant: "Die Zukunft des Technologiestandorts Deutschland". Vielleicht lud Infineon-Chef Ulrich Schumacher die Gäste des Future Forums 2003 deshalb in die sonnendurchfluteten Räume des Axica-Tagungszentrums neben dem Brandenburger Tor. Ein Steinwurf entfernt von hier liegen Reichstag und Kanzleramt, die Schaltstellen der Politik, an denen die Rahmenbedingungen für den Standort festgezurrt werden. Mit Prosecco oder frischer Maibowle in der Hand fanden sich die Gäste auf dem leuchtend roten Velours im Axica-Veranstaltungssaal zum lockeren Talk zusammen. Etwa 200 Gäste aus Politik, Wissenschaft und Industrie waren geladen, um über die Zukunft des Standortes zu debattieren.
Nach dem Erfrischungsdrink wurde es ernst. Die Teilnehmer versammelten sich im vorderen Teil des Axica-Innenhofes zur Podiumsdiskussion. Diskutanten der Gesprächsrunde waren: Professor Dr. Georg Milbardt, Ministerpräsident von Sachsen, Dr. Wolfgang Ziebart, stellvertretender Vorsitzender der Continental AG, Andreas Berner, Mitglied der Unternehmensleitung des Pharmaherstellers Boehringer Ingelheim GmbH und Dr. Ulrich Schumacher, Chef des Halbleiterherstellers Infineon Technologies. Moderiert wurde die Runde von dem stellvertretenden Chefredakteur der Berliner Zeitung, Dr. Hendrik Munsberg, der die Topmanager mit interessanten Thesen konfrontierte.

Ein Spitzenstandort für Hightech.


"Ist Deutschland wirklich ein Hochtechnologiestandort?", fragte Munsberg und lieferte mit seiner ersten These gleich eine mögliche Antwort mit. "Deutschland ist ein Spitzenstandort für Technologie, für Halbleiter und Biotech. In Deutschland werden 25 Prozent des Umsatzes mit Produkten gemacht, die jünger als zwei Jahre sind." Eine gute Ausgangsposition, die Gastgeber Schumacher bereitwillig aufgriff: "Wir haben ein solides technologisches Fundament in Deutschland und einen guten Ausbildungsstand. Als Unternehmen sind wir von Platz 19 auf Platz 6 aufgestiegen. Unsere Innovationsgeschwindigkeit ist mittlerweile so hoch, dass wir am Ende eines Tages noch keine Ahnung haben, wie wir die Innovationen der letzten Stunden umsetzen sollen." Allerdings: "Wir stehen unter einem ständigen Innovationsdruck und können einen Vorsprung genauso schnell wieder verlieren." Deshalb reinvestieren Infineon Technologies 15 bis 20 Prozent ihres Umsatzes in Innovation. Anders stellt sich die Situation für den Pharmahersteller Boehringer dar. Bei Produktzyklen von zehn bis zwölf Jahren ist der Vorlauf groß. "Aber es gibt zu wenig Akzeptanz von Neuem in Deutschland", kritisierte Andreas Berner. "Wir brauchen eine offenere Mentalität und mehr Bereitschaft, neue, sinnvolle Medikamente zuzulassen." Dr. Wolfgang Ziebart von der Continental AG brachte es auf den Punkt: "Wir müssen die Attraktivität des Standortes Deutschland erhalten, indem wir uns schneller verändern als alle anderen."

"Arbeit ist zu teuer in Deutschland."


Munsberg ließ die Diskutanten nicht ohne kritische Fragen gehen. "In Deutschland gibt es Entwicklungen, die einem erfolgreichen Technologiestandort entgegenstehen." So seine zweite These, die er eindrucksvoll unterfütterte: Eine Arbeitsstunde ist in Deutschland 14 Prozent teurer als in den USA und kostet sogar 30 Prozent mehr als in Großbritannien. Die Lohnnebenkosten sind enorm hoch, die Staatsverschuldung ist drückend. Wie geht die Industrie damit um? Gefährdet das nicht den Standort Deutschland?
Infineon-Vorstandsvorsitzender Schumacher ging kritisch mit der Entwicklung ins Gericht: Nach zehn Jahren Börsenboom und Wiedervereinigung habe 2001 auch der Hightechsektor Rückschläge erlitten. Auch er suche "Potentiale, um 16.000 Mitarbeiter in Deutschland zu halten." Es müsse sich etwas ändern am Standort Deutschland: "Wir brauchen eine flexiblere Bürokratie wie in Sachsen, einen flexibleren Arbeitsmarkt und eine gelockerte Tarifautonomie, wie das in unserem Österreicher Werk im Einverständnis mit dem Betriebsrat funktioniert. Und wir brauchen mehr Eigeninitiative", forderte Schumacher. "In Deutschland gibt es noch immer zu viel Vollkasko-Mentalität." Wie schwer es am Standort Deutschland manchmal für Unternehmen ist, zu bestehen, machte Wolfgang Ziebart von der Continental AG deutlich: "Arbeit ist zu teuer in Deutschland. Wenn wir vor zehn Jahren nicht einen großen Teil unserer Arbeitsplätze nach Tschechien verlagert hätten, gäbe es unser Unternehmen heute nicht mehr. Noch wandern nur die einfachen Leistungen ab ins Ausland. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch hoch qualifizierte Ingenieursleistungen an Niedriglohnstandorte abwandern werden." Denn auch wenn die Löhne nur 15 Prozent der Kosten ausmachen, sei das bei einer Lohndiskrepanz von 1:26 gravierend, gerade in Produktbereichen mit niedrigen Gewinnmargen.

Zu viele Studenten, zu wenig Mittel.


Brauchen wir bessere Qualifizierung und Ausbildung, damit der Standort Deutschland auch in Zukunft mit Wissensarbeitern punkten kann? Das Podium war sich einig: Es gibt ausgezeichnete Forschungsinstitutionen von den Max-Planck-Instituten bis zur Deutschen Forschungsgemeinschaft. Aber viele Universitäten seinen überfordert: zu viele Studenten, zu wenig Mittel. Der richtige Weg: Die Universitäten müssen sich dem föderalen Wettbewerb stellen, das Hochschulrahmengesetz muss gelockert werden. Einig war sich die Runde, dass die universitäre Ausbildung in Deutschland praxis- und anwendungsorientierter werden müsse. Denn wenn ein Maschinenbauer vier bis fünf Jahre braucht, bis er im Unternehmen vernünftig einsetzbar ist, fallen für die Wirtschaft enorme Kosten an.
Interessante Akzente setzte der sächsische Ministerpräsident Milbardt. "Wenn wir als Politiker nicht flexibel sind, dann wird uns die Ansiedlung von Zukunftsindustrien nicht gelingen." Doch Milbardt machte deutlich: Mit seiner Strategie kann sich Sachsen sehen lassen. Nach 1990 hatte der Freistaat eine neue Industriestruktur aufbauen müssen, 80 Prozent der alten Unternehmen waren zusammengebrochen. Die Regierung bewies hohe Flexibilität bis in die feinen Zweige der Verwaltung hinab. Das Genehmigungsverfahren für den Bau des internationalen Leipziger Flughafens etwa setzte sie in sechs Jahren durch, Flughäfen wie München oder Stuttgart hatten dafür 25 und 27 Jahre gebraucht. Außerdem hat Sachsen gut ausgebildete Facharbeiter zu bieten und fördert großzügig Unternehmen, die sich ansiedeln möchten. "Wir müssen bereit sein, für die Zukunft mehr zu tun. Wir können als Gesellschaft nicht immer auf Nummer sicher gehen, sondern müssen die eigenen Besitzstände in Frage stellen." Wenn der Staat Risikounternehmen wie Hightechfirmen ansiedeln wolle, müsse er bereit sein, gegebenenfalls auch die Verluste zu teilen - in Form von Steuererleichterungen. Milbardt: "In den neuen Bundesländern sind die Menschen eher bereit, Veränderung als Chance zu sehen, nicht als Bedrohung wie im Westen."

Deutschland braucht den Wandel.


Fazit: Deutschland braucht den Wandel, braucht einen "Ruck" wie es Boehringer-Chef Barner in Anlehnung an Roman Herzog formulierte. "Vielen ist die Problematik noch gar nicht bewusst", mahnte Schumacher. "Die Menschen sehen, dass Deutschland noch immer die viertgrößte Wirtschaftsnation ist. Wir haben kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem." Es muss sich etwas tun in Deutschland. Dazu brauchen alle Seiten Mut. "Die Unternehmen knicken oft im Kampf mit den Gewerkschaften zu schnell ein", kritisierte Ministerpräsident Milbardt, "weil das Management weiß, zur Not gehen wir halt doch ins Ausland." Der Druck auf die Politik reiche nicht aus. "Ein Konsens im kleinen Kreis reicht nicht. Wir müssen offen über die notwendigen Reformen sprechen", mahnte Ziebart.
Abschließend lobte Infineon-Chef Schumacher den konstruktiven Dialog der Diskussion. "Das war mehr, als ich in den letzten Wochen gewöhnt war." Danach blieb noch reichlich Zeit, diesen Dialog in kleiner Runde bei Wein und Häppchen fortzusetzen.

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Autorin

Anja Dilk
Dilk

Anja Dilk ist Berliner Korrespondentin, Autorin und Redakteurin bei changeX.

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