Eine Branche der Extreme

50 Jahre Halbleiterproduktion in Deutschland - eine Bestandsaufnahme.

Von Dr. Ulrich Schumacher

Chiphersteller haben es nicht leicht. Ihr Markt unterliegt extremen Schwankungen, der Preis für ihre Produkte sinkt ständig, und trotzdem müssen sie Jahr für Jahr 35 Prozent des Umsatzes in neue Anlagen und Forschung investieren. Dennoch, so ist Infineon-Chef Ulrich Schumacher überzeugt, ist die junge Halbleiterbranche weiterhin eine der wesentlichen Zukunftsindustrien für den Standort Deutschland.

Rückblick.


Mit einem kurzen Rundschreiben kündete Ernst von Siemens am 4. April 1952 an, dass erstmals eine Fabrik für Halbleiter errichtet würde. Mit knappen zwölf Zeilen wurde damals nichts weniger als die industrielle Halbleiter-Ära in Deutschland eingeläutet. Nur vier Jahre nach der Erfindung des Transistors im Dezember 1947 begann im Siemens-Röhrenwerk in München die Produktion von Transistoren. In wenigen Jahren wuchs in Deutschland, Europa und den USA eine neue Industrie heran, deren Produkte wie nur wenige andere das Leben von vielen Millionen Menschen nachhaltig beeinflusst haben.
Bereits nach dem Ersten Weltkrieg begann die damalige Siemens & Halske AG Halbleiter bei der Herstellung von Gleichrichtern einzusetzen. Solche Dioden wurden bei der drahtlosen Telegraphie, beim Rundfunk, bei der Elektrifizierung von Eisenbahnen und später bei der Radartechnik verwendet. 1939, nach über 20 Jahren Forschung vor allem in den Laboren von Siemens, gelang es Walter Schottky und Eberhard Spenke in einem dramatischen Wettlauf mit englischen Wissenschaftlern, eine umfassende "Halbleitertheorie der Sperrschicht- und Spitzengleichrichter" zu veröffentlichen. Die Gruppe um Eberhard Spenke nahm nach dem Zweiten Weltkrieg die früheren Arbeiten wieder auf und stellte 1948 - nur ein Jahr nach den amerikanischen Forschern - den ersten Siemens-Transistor her. Damit waren die Weichen für die Produktionsaufnahme von Halbleitern in München im Jahre 1952 gestellt. Danach konnte das Unternehmen rasch in die Führungsriege der Halbleiter- und Computerhersteller aufsteigen.

Auf dem Weg zur Zukunftsindustrie.


Einige Faktoren beschleunigten das beispiellose Wachstum der Halbleiterindustrie, vor allem natürlich die ab 1958 aufkommenden integrierten Schaltungen. Sie wurden die Grundlage für die moderne Datenverarbeitung, militärische Anwendungen, Raumfahrtprogramme mit für damalige Zeiten ungeheurem Rechenbedarf, das TV-Zeitalter und später die Personal Computer. Heute ermöglichen sie die rasant voranschreitende weltweite Vernetzung von Wirtschaft und Gesellschaft durch neue Informations- und Kommunikationsanwendungen. Mit dem schnell steigenden Bedarf an Halbleitern ging die Entwicklung neuer, immer kostengünstigerer Silizium-Herstellungsverfahren einher. Rein rechnerisch werden derzeit für jeden einzelnen Menschen auf diesem Globus pro Jahr durchschnittlich 60 Millionen Transistoren hergestellt, eine Zahl, die bis 2008 voraussichtlich auf etwa eine Milliarde Transistoren pro Person wachsen wird.
Rund 500.000 Menschen arbeiten heute direkt in der Halbleiterindustrie, davon in den USA etwa 280.000 und in Deutschland rund 28.000. Von anfänglichen 5 Millionen US-$ im Jahre 1954 wuchs der Weltmarkt für Halbleiterprodukte bis 2000 auf über 200 Milliarden US-$. Dies ergibt eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate von 14 Prozent. Keine andere Industrie kann über mehr als vier Jahrzehnte eine ähnlich stürmische Entwicklung aufweisen.
Leistungsfähigkeit und Innovationsfreudigkeit machen diese Industrie so einzigartig. Andererseits unterliegt sie aber auch ständigen Herausforderungen, wie ich im nächsten Abschnitt schildere.

Immer kleinere Chips.


1965 formulierte Gordon Moore, einer der Mitbegründer von Intel, seine später als Moore'sches Gesetzt bekannt gewordene These: Die Zahl der Transistoren in einer integrierten Schaltung werde sich etwa alle zwölf Monate verdoppeln. Später korrigierte er seine Prognose und ging von einer Verdoppelung alle zwei Jahre aus. Vereinfacht gesprochen verdoppelt sich damit aber auch die Leistungsfähigkeit der Schaltungen, und damit der Computer und großen Rechenanlagen, etwa alle zwei Jahre. Beispielhaft ausgedrückt: Die gesamte Rechenleistung, die für die amerikanische Mondlandung notwendig war und für die damals schrankgroße Computer gebraucht wurden, würde heute bequem in einen PC hineinpassen, so wie er in der Mehrzahl der deutschen Haushalte steht. Nun können aber die Preise für Halbleiterbauteile nicht im selben Verhältnis steigen und an die Käufer weitergegeben werden, wie sich ihre Leistungsfähigkeit entwickelt. Wäre dies geschehen, hätte sich die Halbleiterindustrie selbst in kürzester Zeit ihr eigenes Grab geschaufelt, denn niemand hätte eine Preisverdoppelung alle zwei Jahre akzeptiert.
Eine andere Daumenregel der Halbleiterindustrie lautet leider auch, dass mit jeder neuen Generation von Mikrochips die Investitionskosten zunehmen. Die Antwort auf diese Herausforderungen ist anhaltende Innovationsdynamik durch weiteren wissenschaftlich-technischen Fortschritt. Nur er erlaubt es auf absehbare Zeit, das Beziehungsdreieck aus Verkleinerung der Bauelemente (Miniaturisierung), Produktivitätssteigerung und damit einhergehender Preisreduktion aufrechtzuerhalten. Er führt durch Strukturverkleinerungen von Chips zur Senkung der Herstellungskosten und damit zu Produktivitätssteigerungen von bis zu 30 Prozent pro Jahr.
Die Verkleinerung der Halbleiterbauelemente auf nur mit Elektronenmikroskopen sichtbare Strukturen hat ihre Verbreitung in viele Bereiche des heutigen Lebens überhaupt erst möglich gemacht. War noch die erste integrierte Schaltung des Jahres 1958 einige Quadratzentimeter groß, finden sich heute weit über 20 Millionen Bauelemente auf wenigen Quadratmillimetern. Immer kleinere, aber eben auch immer leistungsfähigere Schaltungen und Speicherbausteine erschließen neue, wachsende Märkte. Viele Techniken und Geräte gibt es heute überhaupt erst, weil die Chips so klein und dabei so leistungsfähig geworden sind. Das gilt für tragbare Computer, Mobiltelefone und Scheckkarten. Neue Märkte bedeuten aber auch größere Stückzahlen, die wiederum mit verbesserten Anlagen produktiver hergestellt werden können. Die damit parallel sinkenden Stückkosten erlauben eine weitere Anwendungsverbreitung. Ein Beispiel: Die Speicherkapazität von einer Million Bit, der kleinsten Recheneinheit, hätte 1972 etwa 80.000 Euro gekostet, damals der Preis eines Einfamilienhauses. Heute kostet ein 1-Megabit-Speicher umgerechnet sechs Cent, so viel wie ein Kaugummi. Kein anderes Industrieerzeugnis kann über viele Jahre hinweg eine solche Preiserosion aufweisen. Übersetzt heißt dies nichts anderes, als dass die Halbleiterindustrie jährliche durchschnittliche Produktivitätszuwächse von 20 Prozent und mehr erreichen muss, sonst finden ihre Erzeugnisse keine Abnehmer mehr.
Über die letzten Jahrzehnte ist dies der gesamten Industrie gelungen, wenn auch zu immensen Kosten. Ein typisches Unternehmen in der Halbleiterindustrie investiert jährlich etwa 20 Prozent seines Umsatzes in neue Anlagen und weitere 17 Prozent in Forschung und Entwicklung. Insgesamt werden damit über 35 Prozent des Umsatzes für die Zukunftssicherung ausgegeben - Jahr für Jahr. Die Infineon Technologies, der zweitgrößte europäische Halbleiterhersteller, gab im letzten Geschäftsjahr 1,2 Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung aus. Das entspricht dem Haushalt zweier großer deutscher Universitäten. Daneben haben wir weitere 1,1 Milliarden Euro in ein neues Werk in Dresden investiert, das zu den modernsten und produktivsten Halbleiterfabriken der Welt zählt.

Zyklen von Investition und Marktflaute.


Eine weitere besondere Herausforderung für die Halbleiterindustrie liegt darin, dass ihr Geschäft extremen Zyklen unterworfen ist. Einem Auf und Ab von Nachfrage, Hoch-Preis-Phase, Investitionen in Produktionskapazitäten, Überangebot und Preisverfall und wieder neuer Nachfrage bei kontinuierlicher Leistungssteigerung der Produkte. Etwa alle drei bis vier Jahre beginnt der Kreislauf aufs Neue. Besonders dramatisch war die Entwicklung der letzten zwei Jahre. Wuchs der Markt im Jahr 2000 noch um 37 Prozent gegenüber 1999, brach er im Jahr 2001 um 32 Prozent ein. In den 40 Jahren der Geschichte der Halbleiterindustrie war dies das größte Krisenjahr, da niemand eine Kontraktion des Marktes in dieser Größenordnung erwartet hatte. Vergegenwärtigt man sich die hohen Kapitalanforderungen der Industrie und stellt sie den enormen Marktschwankungen gegenüber, wird deutlich, dass angesichts dieser wirtschaftlichen Risiken und der wissenschaftlich-technischen Herausforderungen viele Firmen Investitionen der genannten Größenordnungen nicht auf Dauer durchhalten können und die Industrie verlassen. Andererseits ist dies ein normaler Prozess einer einstmals jungen Industrie mit vielen Unternehmen weltweit, die zusätzlich von vielen Staaten aus militärisch-strategischen Gründen gefördert und am Leben gehalten wurde. Nach dem stärksten Markteinbruch ihrer Geschichte geht die Halbleiterindustrie zur Zeit durch eine Konsolidierungsphase. Selbst staatlich geförderte Unternehmen haben auf Dauer größte Schwierigkeiten, die gewaltigen Investitionen jedes Jahr erneut vorzunehmen, wenn sie nicht aus eigener Kraft wettbewerbsfähig sind.
Die Erfahrungen der vergangenen 50 Jahre haben gezeigt, dass eine wissenschaftsintensive Hochtechnologie in Deutschland Fuß fassen und höchst erfolgreich werden kann. Allerdings sind dazu ständige Investitionen unabdingbar: In Technologien und in Köpfe. Nur wer stets auf dem neuesten Stand von Wissenschaft und Technik ist, kann mitgestalten. Und nur wer es schafft, die fähigsten und motiviertesten Mitarbeiter für Forschung, Entwicklung, Produktion und Vertrieb zu gewinnen und zu halten, wird in dieser Industrie bestehen können. Bei allen positiven Aussichten, die die Halbleiterindustrie auch in den nächsten Jahren hat, liegt gerade hier eine ihrer größten Herausforderungen, vor allem für Deutschland. So hat sich zum Beispiel die Zahl der Physik-Studenten in unserem Land gegenüber 1990 fast halbiert, und die Zahl der Promotionen sinkt ebenso kontinuierlich. In vier Jahren werden voraussichtlich nur noch 750 Physiker in Deutschland promovieren. In den Technikwissenschaften wird in nächster Zeit die Zahl der Absolventen um mehr als ein Drittel abnehmen. Speziell für das Fach Elektrotechnik interessierten sich über die letzten zehn Jahre immer weniger Studenten. Dies ist ein alarmierender Indikator für die nachlassende Attraktivität der natur- und technikwissenschaftlichen Fächer und die vermeintlich ungünstigen Berufsaussichten.

Neue Chancen der Industrie.


Dabei bieten nur wenige Branchen so viele Herausforderungen und Chancen gerade in Wissenschaft und Technik wie die Halbleiterindustrie. Sie entwickelt und gestaltet aktiv Zukunftsmärkte für viele Bereiche des Lebens. So wäre zum Beispiel der Siegeszug des Internets ohne Halbleiter nicht möglich gewesen, und es ist noch nicht absehbar, welche neuen Möglichkeiten für Wirtschaft und Gesellschaft sich durch die Verschmelzung verschiedenster Lebensbereiche durch das Internet auftun werden. Ob wir in einigen Jahren mit Quantencomputern oder Biochips leben und arbeiten werden, vermag heute noch niemand zu sagen. Aber die Halbleiterindustrie wird künftig Erkenntnisse und Techniken aus Nachbardisziplinen wie Biologie, Chemie, Bio- und Gentechnologie verstärkt erfassen und nutzen. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass oftmals gerade an den Schnittstellen zwischen den verschiedenen Disziplinen die größten Potenziale für umfassende, radikale Innovationen stecken. In jedem Fall bleibt die Halbleiterindustrie eine der spannendsten und innovativsten Branchen und ist deswegen eine der wesentlichen Zukunftsindustrien für den Standort Deutschland.

Dr. Ulrich Schumacher ist Vorstandsvorsitzender der Infineon Technologies AG.

www.campeon.de
www.infineon.com

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Ulrich Schumacher

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