Im Land der Low-Road-Rider

Ein Interview mit Erich Latniak über den deutschen Verschlankungswahn.

Von Rainer Spies

Deutsche Unternehmen leiden unter Magersucht. Anstatt neue Nischen zu besetzen, stromern Controller durch die Abteilungen. Ihr Auftrag: Alles streichen, was nicht zum Kerngeschäft gehört. Ihre Opfer: Querdenker und innovative Produktideen. Dabei wäre genau die Gegenstrategie gefragt: Mitarbeiter fördern, Verantwortung übertragen und mutig investieren.

Dr. Erich Latniak, seit 1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Arbeit und Technik (IAT), Gelsenkirchen, beschäftigt sich seit acht Jahren mit Fragen der Organisations- und Personalentwicklung. Sein Beitrag "Der lange Weg zur High Road - neue Untersuchungsergebnisse zu organisatorischen Veränderungen in Unternehmen" ist im aktuellen Jahrbuch des IAT erschienen.

Herr Latniak, trotz der umfassenden Literatur zu "Lean Management", "Total Quality Management" und zur "Fraktalen Organisation" hat sich Ihrer Meinung nach wenig verändert. Was hätte sich denn in den Unternehmen aus arbeitsorganisatorischer Sicht bewegen müssen?
Wenn man in die Management-Literatur der vergangenen Jahre blickt, entsteht schnell der Eindruck, dass sich die Unternehmen in puncto Arbeitsorganisation ernorm verändert hätten. Doch dieser Eindruck täuscht. Teilautonome Arbeitsgruppen, Aufgabenintegration und die Dezentralisierung von planenden und steuernden Aufgaben auf operativer Ebene werden weit weniger häufig genutzt, als zu vermuten wäre. Die Unternehmen versuchen eher durch den Abbau von Hierarchie und die Auflösung zentraler Bereiche schlanker und kostengünstiger zu werden. Die Konsequenz: Die Arbeit wird dichter, die Arbeitsorganisation jedoch nicht verändert.

Was sind denn die Vorteile von arbeitsorganisatorischer Dezentralisierung und hoher Autonomie der Beschäftigten?
Es kann nicht darum gehen, allein durch Kostenreduktion Vorteile auf dem Markt erreichen zu wollen. Vielmehr ist es wichtig, den Ertrag langfristig zu steigern. Und zwar indem man die Potenziale der Mitarbeiter nutzt und neue Geschäftsfelder erschließt. Denn letztlich geht es darum, kundenorientierte Leistungen effizient zu erstellen. Und zwar gerade dann, wenn Qualität zum entscheidenden Konkurrenzfaktor wird. Dazu brauchen sie aber Mitarbeiter, die entsprechend handeln können und dürfen. Mit fertigungsnahen Steuerungsteams beispielsweise, die die Planung und Steuerung der Fertigung übernehmen, können sie schneller auf Kundenwünsche und turbulente Märkte reagieren als mit einer zentralen, hierarchischen Planung.

Ihrer Untersuchung nach existieren in Deutschland zwei Typen von Unternehmen: Die "High-Road"-Unternehmen und die "Low-Road"-Unternehmen. Erklären Sie uns den Unterschied.
Wie Sie bereits sagten: Es handelt sich um eine Typisierung. Das "High-Road"-Unternehmen findet man in der Praxis also ebenso wenig wie das "Low-Road"-Unternehmen. Man kann die Unternehmen zwar anhand von äußerlichen Organisationsmerkmalen wie Gruppenarbeit, ganzheitliche Aufgabengestaltung, integrierte Produktentwicklung und kooperative Innovationsansätze in Netzwerken zuordnen. Aber das sind letztlich nur Anhaltspunkte. Entscheidend sind vielmehr die unterschiedlichen Unternehmenskulturen. "High-Road"-Unternehmen sind eher prozess-, team- und lösungsorientiert und dadurch beweglicher. "Low-Road"-Unternehmen setzen dagegen stärker auf Hierarchie, Anweisung und Kontrolle. Die Aufgaben sind funktional und in Abteilungen gegliedert.

Wie gehen "High-Road"-Unternehmen mit dem Wissen und den Kompetenzen ihrer Mitarbeiter um?
Der Umgang mit dem Wissen der Mitarbeiter und deren Kooperation sind wesentliche Teile einer "High-Road"-Strategie. Wissen entsteht in Arbeitsprozessen. Ein wichtiger Aspekt ist dabei, wie das erworbene Wissen des Einzelnen mit anderen geteilt und in unterschiedlichen Arbeitszusammenhängen genutzt werden kann. Zur Lösung komplexer Probleme brauchen Sie heute Kompetenzen aus unterschiedlichen Wissensbereichen, die bewusst zusammengebracht und genutzt werden müssen. Deswegen zielt die "High-Road"-Strategie darauf ab, die funktionale Arbeitsteilung aufzulösen und die verschiedenen Wissensbereiche miteinander zu vernetzen. Nur so können die Kompetenzen der Beschäftigten bestmöglich genutzt werden.

Wie erklären Sie sich, dass Ihren Untersuchungen zufolge vergleichsweise wenige Unternehmen nachhaltig auf "High-Road"-Strategien setzen?
Die Umstrukturierung einer Organisation ist ein langwieriger Prozess. Er erfordert Ressourcen, Zeit und Wissen. Das ganze System muss auf den Prüfstand - vom Lohn- beziehungsweise Anreizsystem bis zum Controlling. Haben Unternehmen, wie zur Zeit häufig, Liquiditätsprobleme, dann sind solche umfassenden Reorganisationen sehr schwer zu bewerkstelligen.

Lässt sich das "High-Road"-Konzept als Erfolgsstrategie auf alle Unternehmen übertragen? Ich denke dabei an Organisationen und Bereiche, in denen die Mitarbeiter vergleichsweise gering qualifiziert sind.
Es gibt auch im Management Beharrungsvermögen und die Tendenz, an früher erfolgreichen Mustern festzuhalten. Bei der Einführung teilautonomer Arbeitsgruppen etwa, mit einer Integration von planenden und steuernden Aufgaben, müssen alle Beteiligten umlernen, egal ob das ein Manager, Meister oder ein Mitarbeiter ist. Die Aufgaben und die Kommunikation miteinander wandeln sich mit so einer Veränderung fundamental. Auf dem Weg dahin gibt es zudem viel Unsicherheit, und gerade der Umgang damit muss erst mal gelernt werden. Dezentralisierung und Autonomie umzusetzen erfordert Vertrauen in die Potenziale der Mitarbeiter. Wenn das wirklich ernst gemeint ist, dann entwickeln die Mitarbeiter Kreativität und setzen Leistungen frei, die ihnen vorher nicht zugetraut wurden. Wichtig bei solchen Veränderungen ist jedoch, dass die Mitarbeiter wissen, was sie davon haben. Das können interessantere Tätigkeiten, Qualifizierung und nicht zuletzt mehr Arbeitsplatzsicherheit sein.

Rainer Spies schreibt als freier Journalist für diverse Wirtschaftsmagazine.

www.iatge.de

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