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Automobilität 2.0

Die Elektrorevolution gibt es nur, wenn das Auto neu definiert wird - fünf Thesen
Essay: Weert Canzler und Andreas Knie

Alles redet von "grünen Autos", die mit Strom fahren und die Umwelt schonen. Doch ohne den Abschied von der Rennreiselimousine, dem großen, teuren, schweren Auto mit Megareichweite, wird die Elektromobilität nicht funktionieren. Gefragt sind nicht nur innovative Antriebe, sondern umfassende Mobilitätskonzepte für urbane Regionen. Das Elektroauto als vernetztes Auto: So könnte E-Mobilität funktionieren!

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Elektromobilität ist in aller Munde. Die Zeitungen berichten ständig, auf den Automobilausstellungen finden sich Prototypen und Zukunftsstudien von Interessierten umringt. Die von Bundeskanzlerin Merkel eingerichtete "Nationale Plattform Elektromobilität" fordert große Schaufensterprojekte zu E-Mobility und verspricht Forschungsförderung sowie bessere Abschreibungsregeln. Das Ziel der Bundesregierung lautet nach wie vor: eine Million E-Fahrzeuge auf deutschen Straßen bis 2020. Angetrieben werden die Forschungs- und Entwicklungsarbeiten dadurch, dass die USA, Japan, China und auch Frankreich Milliardenbeträge für die Elektrifizierung des Automobils ausgeben. Die ersten E-Autos aus französischer und japanischer Produktion sind bereits auf den Straßen.  

Auf der anderen Seite jubeln gerade die deutschen Autohersteller über das Ende der Krise. Hochgezüchtete und konventionell betriebene Autos verkaufen sich vor allem in Asien und Nordamerika bestens. Die Branche macht glänzende Gewinne mit ihren bewährten Benzin- und Diesel-Fahrzeugen. Manche in der wieder erfolgsverwöhnten Autoindustrie erwarten, dass der E-Mobility-Hype bald vorbei ist. So wie mehrere euphorische Phasen über alternative Antriebs- und Fahrzeugkonzepte in den letzten Jahrzehnten zu Ende gingen, während die bewährte Rennreiselimousine so stark blieb wie ehedem.


Die selbstverständliche Automobilität


Bisher waren Abgesänge auf das Auto also von nur kurzer Dauer. Regelmäßig folgte die Erholung auf dem Fuße. Vielleicht aber steckt diesmal mehr dahinter.  

Was ist anders? Wir müssen von einer selbstverständlichen Automobilität ausgehen, die gleichwohl an Faszination eingebüßt hat. Die Motorisierungsraten in den Ländern der OECD sind seit Langem so hoch, dass bis auf wenige (Rand-)Gruppen beinahe die gesamte Bevölkerung Zugang zu einem Auto hat oder gar zu mehreren. Unterschiede zwischen den Geschlechtern und Generationen beim Führerscheinbesitz verschwinden zunehmend. Bei den über 21-Jährigen gehört die Fahrerlaubnis zum Ausweis einer qualifikatorischen Grundausstattung wie das Mobiltelefon oder die Lesefähigkeit.  

Kurzum: Autofahren ist selbstverständlich geworden, der frühere Nimbus des Exklusiven längst verflogen. Zwar dienen Luxusautos und Dienstwagen vielfach noch als Prestigeobjekte, ihre Nutzer setzen nach wie vor auf demonstrativen Konsum. Aber mittlerweile hat das Auto gerade in seiner Funktion als Statussymbol viel Konkurrenz bekommen. Vor allem in jüngeren Generationen und in urbanen Mittelschichten hat das Auto signifikant sowohl an Symbolkraft wie auch an tatsächlicher Bedeutung für die Alltagsmobilität eingebüßt. Hier stehen vielmehr Konsumstile, Freizeitverhalten und mobile Gerätschaften als Ausdruck eines besonderen Lebensstils im Vordergrund. Aufmerksame Beobachter bestätigen, dass in den Metropolen seit Jahren die "intelligente" Nutzung des Verkehrs, also die Verknüpfung aller Verkehrsarten aus ganz pragmatischen Motiven, deutlich zunimmt. Dies galt schon immer für hoch verdichtete Metropolen wie Tokio und New York, es gilt heute mehr und mehr aber auch für Paris, London oder Berlin. In Metropolen und Ballungsräumen ist das Auto seit jeher weniger wichtig als in den Suburbs. Hier spielt das Auto bei Weitem nicht die Rolle wie in Wolfsburg, Detroit oder Zuffenhausen.  

In den modernen Gesellschaften haben sich also Formen der Mobilität herausgebildet, die - bewusst oder meistens unbewusst - zu intermodalem Verkehrsverhalten, also zu einem pragmatischen Mix verschiedener Verkehrsmittel führen. Das geht angesichts der weiteren Urbanisierung auch gar nicht anders. Denn der Platz in den Städten ist begrenzt, die Konkurrenz um wertvollen städtischen Raum nimmt zu. Das ist besonders in den schnell wachsenden Megastädten Asiens und Südamerikas der Fall. Hier deutet sich ein Wandel an. Sind wir auf dem Weg in eine elektromobile Gesellschaft? 

Aber:


Vorsicht! E-Mobility-Hype!


These 1: Es werden Erwartungen an Elektroautos geweckt, die nicht erfüllt werden können. Damit droht E-Mobility (erneut) an unerfüllten Erwartungen zu scheitern.  

Wenn Städte wie Paris, Peking, Schanghai, Los Angeles und London ankündigen, ihre Innenstadtzonen zukünftig nur noch für Zero-Emission-Fahrzeuge zu öffnen, erhält auch die Idee der deutschen Bundesregierung, mit Milliardenmitteln einen "Leitmarkt für Elektromobilität" zu bilden, eine gewisse Plausibilität. Der elektrische Antrieb hat eben große Vorteile, er ist am Ort der Nutzung abgasfrei, erzeugt kaum Lärm und erlaubt ein wirklich neues Fahrvergnügen. 

Doch Vorsicht: E-Mobilität kann nicht bedeuten, einfach das Antriebsaggregat auszutauschen - also Elektromotor anstelle von Benziner oder Diesel. Das ist auf absehbare Zeit weder technisch noch wirtschaftlich auch nur annäherungsweise zu verwirklichen. Reichweiten von 500, 600 oder gar 800 Kilometern sind mit einem Elektroauto schlichtweg nicht zu erreichen. Und Ladezeiten von wenigen Minuten, wie wir es vom Tanken her kennen, sind ebenfalls reines Wunschdenken. Beides wird zu akzeptablen Kosten in den nächsten Jahren nicht möglich sein, darin sind sich alle einig - selbst die Freunde alternativer Antriebe.  

Unsere Kernbotschaft lautet daher: Akzeptieren wir die Leistungseinschränkungen der Elektromobile! Es geht nicht ohne ein Downsizing in den Ansprüchen, Erwartungen und Anforderungen an E-Mobile. E-Mobilität hat nur eine Chance, wenn sie vernetzt gedacht wird. Ihr enormer Charme liegt darin, wenn das Elektroauto zum integralen Element eines umfassenden öffentlichen Verkehrsangebotes wird. Damit wäre das Auto nicht mehr das autistische Artefakt, das es über Jahrzehnte war, sondern würde zum Teil einer neuen Vernetzungsstruktur. Ob aber diese Innovationsoption genutzt wird und die Krise somit auch als Chance wirken kann, bleibt ungewiss, solange das Verständnis des Autos als "Rennreiselimousine" dominant bleibt.  

Gern wird von "grünen Autos" geschwärmt, die mit Strom fahren und die Umwelt schonen. Elektroautos sollen die Welt und die Industrie gleichermaßen retten. Die Autohersteller erwecken den Eindruck, als hinge es allein von besseren Batterien ab, dass es eigentlich weitergehen könne wie bisher. Die Strombranche ist ebenfalls mit von der Partie. Sie erhofft sich neue Absatzmöglichkeiten im stagnierenden Strommarkt. Kein Versorgungsunternehmen, das nicht den Betrieb von kleinen Testflotten angekündigt hätte - auch wenn bisher die Autos fehlen. Große Unternehmensberatungen erwarten einen Boom. Ein historischer Wendepunkt? Doch Vorsicht!


Den Vergleich mit der Rennreiselimousine muss das E-Mobil verlieren


These 2: E-Mobility ist nicht neu. Die Lehre aus der Vergangenheit lautet: Den Vergleich mit der Rennreiselimousine muss das E-Mobil verlieren. 

So nähren die Erfahrungen mit radikalen Innovationen im Automobilbau vor allem Skepsis. Die Endlichkeit von Öl und Gas ist nicht erst seit der Hochpreisphase im Sommer 2008 bekannt. Schon der Club of Rome machte zu Beginn der 1970er-Jahre eindringlich darauf aufmerksam. Nach der sogenannten Ölkrise 1973 schoben die Autoproduzenten hektisch Projekte in Forschung und Entwicklung an. Daimler und Volkswagen gründeten mit der Deutschen Automobilgesellschaft ein Gemeinschaftsunternehmen zur Entwicklung und Produktion von elektrischen Straßenfahrzeugen. Doch blieben alle Prototypen streng bewacht in den Hallen der Entwicklungsabteilungen versteckt. In die Massenfertigung gelangte keines der neuen Gefährte. Der automobile Innovationsfrühling war nur sehr kurz. 

Eine Renaissance erlebte der Gedanke des Elektroautos nochmals Ende der 1980er-Jahre, als das smoggeplagte Kalifornien nach vielen folgenlosen Ankündigungen und Versprechungen der Industrie anordnete, dass bis zum Jahr 1998 von sämtlichen, im größten US-Bundesstaat zugelassenen Fahrzeugen drei Prozent mit Elektroantrieb auszustatten seien. Ausgelöst wurde damit ein langjähriger Kampf zwischen der Regierung in Sacramento und den Interessenvertretern der Autoindustrie um eine Abschaffung oder doch mindestens aber eine Verzögerung dieser Verordnung. Immerhin löste der Clean Air Act bei General Motors eine technische Innovation aus, die bis heute ihresgleichen sucht. Man entwickelte mit dem EV1 ein futuristisch anmutendes Auto im Converse Design, das im Süden Kaliforniens bei ausgewählten Händlern teuer zu leasen war. An dem Anspruch, schneller und sauberer zu fahren als die konventionellen Fahrzeuge, scheiterte die kleine Revolution allerdings rasch. Ohne ein entsprechend dichtes Versorgungsnetz mit Elektrotankstellen wirkte der EV1 wie ein Fisch auf dem Trockenen und konnte aus Kundensicht nicht das Versprechen einlösen, besser als ein Verbrennungsauto zu sein. 

In Europa war es in dieser Zeit der Schweizer Erfinder der Swatch-Uhr, Nicolas Hayek, der den führenden Fahrzeugherstellern die Idee eines elektrisch betriebenen Stadtautos antrug. Seine Kurzformel lautete: Platz für zwei Personen und eine Getränkekiste, billig, bunt und mit anderen Verkehrsmitteln in einem Mobilitätskonzept verbunden. Er wollte das Erfolgsrezept der Swatch-Uhr - billig, einfach, auffällig - auf die Mobilität übertragen. Das Feedback war gemischt. Volkswagen wollte nach ersten Sympathien doch nicht den ersten Schritt weg von der Rennreiselimousine wagen. Daimler war erst überzeugt, als aus dem Swatch-Car der Smart wurde, ein Kleinstauto mit einem ordentlichen Verbrennungsmotor, der üblichen Reichweite und immerhin 135 Stundenkilometern Spitzengeschwindigkeit. Von alternativen Antrieben war in der Daimler-Tochter Micro Compact Car (MCC), von der der Smart in einer eigenen Fabrik im elsässischen Hambach seit 1997 produziert wird, auch nicht mehr viel zu hören. Mit der Einführung elektrischer Fahrzeuge war damit Schluss. 

Und heute? Derzeit ist das Innovationsfenster bei den Antriebstechniken so weit geöffnet wie seit Jahrzehnten nicht. Nach einer langen Phase der puren Optimierung des Verbrennungsmotors hat ein enormer Schub bei der Forschung und Entwicklung alternativer Antriebe eingesetzt. Seit ein paar Jahren wird der Elektroantrieb in fast allen Autounternehmen mit Hochdruck weiterentwickelt und bereits in kleineren Praxistests auf seine Alltagstauglichkeit und Zuverlässigkeit getestet. Daimler hat mit einigen Dutzend elektrisch betriebener Smarts Erfahrungen gesammelt und entschieden, ab 2012 den Smart ED in kleinen Serien zu produzieren. Die Reaktionen der Nutzerinnen und Nutzer waren durchweg ermutigend. Mit dem gleichen Ziel hatte BMW mehr als 100 umgebaute Minis in Kalifornien und an der amerikanischen Ostküste an aufgeschlossene Kunden vermietet. Mittlerweile ist BMW mit seinem Megacity Vehicle in Deutschland eindeutig in der Vorderhand. Ab 2013 soll das komplett neu konstruierte Auto als i3 für 45.000 Euro zu kaufen sein. Schneller sind einige französische und japanische Hersteller: Renault arbeitet für die amerikanisch-israelische Firma Better Place an einer Kleinserie für ein Elektroauto, dessen Batterien schnell ausgetauscht werden können. Der Aufbau von Wechselstationen für Batteriesätze hat zaghaft begonnen. Los gehen soll es in Israel und Dänemark, wo man aus Sonne und Wind Strom gewinnen will, um sich aus der Abhängigkeit von fossilen Energieträgern zu lösen. Auf dem Markt erhältlich sind einige zum Teil baugleiche elektrische Kleinwagen wie der i MiEV und der C-Zero. 

Erstmalig gelingt nach Jahrzehnten sogar wieder Newcomern der Einstieg in den Automobilmarkt. Dazu gehören auch die Sportwagen des kalifornischen Autobauers Tesla, die in kleiner Stückzahl in den USA vor allem an VIPs und an einige ausgesuchte Technikenthusiasten verkauft werden. Dieser Zweisitzer weist imposante Beschleunigungswerte auf und hat schon nach kurzer Zeit den Status eines Kultobjekts erreicht. Wie langlebig der Tesla und vor allem wie ausdauernd seine Lithium-Ionen-Batteriepakete tatsächlich sind, ist noch offen. Sie müssen erst noch zeigen, ob sie auch über einen längeren Zeitraum funktionsfähig bleiben. 

Kurzum, es ist eine Geschäftigkeit in Sachen Elektroauto im Gange, wie sie noch vor wenigen Jahren kaum möglich schien. Doch die Lehre aus der Vergangenheit lautet, skeptisch zu sein. Der Vergleichsmaßstab war und ist die Rennreiselimousine. Diesen Vergleich kann kein Elektroauto bestehen.


Das vernetzte öffentliche Auto in urbanen Räumen


These 3: Das realistische Gegenkonzept zur Rennreiselimousine heißt: das vernetzte öffentliche Auto in urbanen Räumen. Bisher war das Auto das private Individualverkehrsmittel, geeignet sowohl, Brötchen um die Ecke zu holen, als auch mit der Kleinfamilie ans Mittelmeer zu fahren. Historisch an Schnelligkeit und an der Überwindung auch langer Distanzen orientiert, wird es seit mehr als 100 Jahren nach dem Lasten- und Pflichtenheft einer "Rennreiselimousine" gebaut. An diesen Anforderungen wurden alle potenziellen Antriebsvarianten gemessen. Viele alternative Antriebe, bisher auch alle Elektroaggregate, scheiterten aber, weil die Mindestreichweite nicht zu schaffen war.  

Wenn man aber das eingeschliffene Leitbild der Rennreiselimousine einmal hintanstellt und sich ein Auto als Teil einer integrierten Verkehrslandschaft vorstellt, dann öffnet sich plötzlich der Optionsraum und es ergeben sich ungeahnte Einsatzmöglichkeiten für ein Elektrofahrzeug. Dann zeigt sich: Die nach Stand der Technik derzeit problemlos zu erreichenden 50 bis 100 Kilometer Reichweite sind völlig ausreichend; die Leistung der Batterietechnik muss dafür nicht in künstliche, kostenträchtige Höhen getrieben werden. Denn sein vermeintliches technisches Handicap macht, umgekehrt betrachtet, das Elektromobil vielmehr zum Integrationsbaustein: Das Elektroauto wird zum vernetzten Auto, es ergänzt den öffentlichen Verkehr. Wo Busse und Bahnen nicht fahren, kann ein Elektrofahrzeug gute Dienste leisten. Mit regenerativem Strom betrieben fahren diese Fahrzeuge leise, bequem und schadstofffrei in die Ecken und Winkel, in die kein takt- und spurgeführter Verkehr mehr kommt. 

Das Elektroauto als vernetztes Auto: So könnte E-Mobilität funktionieren: Öffentliche Elektroautos stehen wie Busse und Bahnen praktisch jedem zur Verfügung. Sie stehen auf öffentlichen Parkplätzen und überall an den Knotenpunkten des öffentlichen Verkehrs bereit. Moderne Carsharing-Technologie erlaubt einen einfachen Zugang mit Handy oder Karte, die Autos können ohne Vorbuchung direkt genutzt und an jedem freien Parkplatz wieder abgestellt werden. Ist der Ladezustand der Batterie kritisch, bleibt das Fahrzeug gesperrt, die maximale Buchungszeit ist auf 48 Stunden begrenzt. So ist eine breite Verfügbarkeit gegeben.  

Ein Elektroauto mit 100 Kilometern Reichweite bietet die Chance für die Lösung gravierender Probleme des öffentlichen Verkehrs. Es hilft, ein wirklich umfassendes Kundenangebot zu entwickeln. Mit einer Karte lassen sich nunmehr alle mit Strom betriebenen Verkehrsmittel gleichberechtigt zugänglich machen, nutzen und abrechnen. Gleichzeitig kann so der Wunsch nach einem modernen und leistungsfähigen Individualfahrzeug befriedigt werden. Es wundert daher ein wenig, dass die öffentlichen Verkehrsanbieter nicht schon früher die Einführung solcher Fahrzeuge vorangetrieben haben. Ein Elektroauto ist so gesehen die domestizierte Ausgabe moderner Automobilität - eine attraktive Ergänzung, keine Konkurrenz (oder gar Kannibale) gegenüber den anderen Verkehrsmitteln.  

Aus dieser Perspektive sieht die Verkehrswelt ganz anders aus, als wir sie kennen: Wenn sich Stromkonzerne und öffentliche Verkehrsunternehmen zusammentun und den Autoherstellern den Stress der hohen Reichweiten nehmen, dann eröffnen sich ganz neue Optionen. Verkehrsdienstleistungen unter Einschluss des Elektroautos werden möglich, die bislang noch nicht einmal in Nischen vorhanden waren. Doch setzt dies einen Perspektivwechsel voraus: Nicht allein der innovative Antrieb, sondern umfassende Mobilitätskonzepte für urbane Regionen stehen im Vordergrund. Technisch und produktseitig ist eine Fülle von Innovationen denkbar, neben technischen Neuerungen auch lukrative zusätzliche Dienstleistungen und wirkliche Nutzungsinnovationen. E-Mobility ist mehr als die Formel "schicke, elektrisch betriebene Automobile plus genug saubere Ladestationen". Die Wertschöpfung der intermodalen urbanen E-Mobility umfasst sowohl die Hardware der Fahrzeuge, die erforderliche Infrastruktur mit entsprechender Integration in die Stadtlandschaft wie auch Verkehrsdienstleistungen und die Lieferung und Speicherung der notwendigen Energie. 


E-Mobility: eine kulturelle Frage


These 4: E-Mobility ist nicht primär eine technische, sondern eine kulturelle Frage.  

Die Autohersteller indes drohen am alten Paradigma kleben zu bleiben. Die Substitution des Verbrennungsmotors durch einen elektrischen Antrieb ist nicht nur technisch höchst ambitioniert, sondern auch wirtschaftlich wenig attraktiv und ökologisch wohl kein Fortschritt, solange der Strom zu erheblichen Anteilen aus den fossilen Energieträgern Kohle, Erdöl und Gas gewonnen wird.  

Bei aller Euphorie über mögliche alternative Antriebe darf auch nicht vergessen werden, dass auf mittlere und längere Frist das mit fossilen Energieträgern betriebene Auto weiter dominant sein wird. Selbst wenn es gelingt, in eine Massenproduktion von postfossil angetriebenen Automobilen einzusteigen und eine Green-Car-Nische zu etablieren, wird das Auto mit Verbrennungsmotor weiterhin vorherrschen. Es kommt daher weiterhin darauf an, über strenge Emissions- und Verbrauchswerte den Druck für Optimierungen in der Antriebs- und Fahrzeugtechnik hoch zu halten, indem Emissionsgrenzwerte weiter verschärft werden. Ehrgeizige Umweltziele und ein verlässlicher, zumindest mittelfristiger Zeitrahmen sorgen für eine notwendige Planungssicherheit bei Herstellern und Nutzern sowie für Anpassungen der Strategien in Forschung und Entwicklung wie in der Produktentwicklung bei den Herstellern. 

Für das hier vorgeschlagene intermodale E-Mobility-Konzept gibt es pragmatische und zugleich historische Gründe. Doch ist dieser komplexe Innovationspfad alles andere als ein Selbstläufer. Denn sehr unterschiedliche Kulturen müssen eng zusammenarbeiten. Kooperationen sind nötig, für die es keine Vorbilder gibt. Die höchsten Hürden für die Realisierung des hier skizzierten Mobilitätskonzeptes unter Einschluss des Elektroautos sind weniger technischer als vielmehr organisationssoziologischer und innovationskultureller Art. Und die Konsequenzen sind - darüber sollte Klarheit herrschen - gravierend. Die involvierten Branchen und ihre nach wirtschaftlicher Rationalität agierenden Unternehmen müssen sich auf vollkommen neue und noch nicht eingespielte Kooperationen einlassen. Die Autoindustrie muss Abschied nehmen vom Konzept des Universalautomobils: "beyond Rennreiselimousine". Und ihre Wertschöpfung wird sich von der Produktion von Automobilen und ihrer Finanzierung für Kunden hin zu umfassenden Mobilitätsdienstleistungen verlagern.  

Auch im öffentlichen Verkehr werden die Umstellungen erheblich sein: Öffentliche Verkehrsunternehmen müssen ihre klassischen Verkehrsträger um neue Angebotsbausteine ergänzen. Sie betreiben neben Bahnen und Bussen dann künftig auch Autoflotten und Fahrradverleihsysteme. Gleichzeitig bedeutet das notwendigerweise mehr Orientierung an den Kunden und ihren sich weiter ausdifferenzierenden Ansprüchen. Ein solcher Wandel im Angebot und in der Kundenorientierung ist nicht ohne eine enge Zusammenarbeit mit dem langjährigen Konkurrenten Autoindustrie sowie mit Energieversorgern und IT-Unternehmen möglich. Damit verlässt der öffentliche Verkehr mit großen Schritten den Sektor der öffentlichen Daseinsvorsorge und wird zu einer an der privaten Nachfrage orientierten Branche. 

Weiterhin ist zu beachten: Das skizzierte E-Mobility-Konzept für intermodale Verkehrsangebote ist ein Konzept für Städte und verdichtete Regionen. Gänzlich anders sieht die Mobilität in ländlichen, dünn besiedelten Räumen aus. Dort sind nicht nur die Entfernungen in aller Regel weiter als in verdichteten städtischen Räumen. Versorgungseinrichtungen von der Arztpraxis bis zum Fachhandel sind auf dem Land oft nur mit längeren Anfahrtswegen zu erreichen. Auch ist der öffentliche Verkehr meistens äußerst dürftig. Die wenigen Bus- und Bahnangebote bedienen oft allein den Schüler- und Ausbildungsverkehr. Angesichts von Abwanderung und sinkender Schülerzahlen erodiert der öffentliche Verkehr in vielen ländlichen Regionen zudem. Wo öffentliche Verkehrsmittel fehlen, ist natürlich auch kein intermodales Verkehrsangebot möglich.


Autounternehmen müssen sich zum Mobilitätsanbieter wandeln


These 5: Wollen Autounternehmen an der postfossilen Mobilität teilhaben, müssen sie sich zum Mobilitätsanbieter wandeln. Nur dann werden sie zum Partner in einem "Bündnis der Willigen". 

Nachdem die klassischen Schadstoffe seit den 1980er-Jahren aufgrund scharfer Grenzwerte weitgehend zurückgedrängt werden konnten, sind es aktuell und für die nächsten Jahre primär der Feinstaub, der Lärm und die Kohlendioxidemissionen, die weiterer Regulierung bedürfen. Sowohl aus umwelt- und gesundheitspolitischen Gründen als auch aus innovationspolitischem Interesse heraus sind auf EU-Ebene über die bereits beschlossenen Grenzwerte hinaus sukzessive Verschärfungen zu fixieren. Die Umweltpolitik der letzten Jahrzehnte hat gezeigt, dass die nachhaltige industrielle Wettbewerbsfähigkeit dort am stärksten ist, wo die Grenzwerte und Umweltauflagen am schärfsten waren. Das gilt umso mehr, je konsequenter die Internalisierung externer Kosten von Umwelt- und Ressourcenverbrauch vorangetrieben wird. Daher sind strenge Umweltregime in aller Regel zugleich erfolgreiche Innovationsregime. 

Nachdem auch China mit ambitionierten nationalen Grenzwerten diesem globalen Effizienz- und damit Innovationswettbewerb beigetreten ist, ist es umso wichtiger, auf europäischer Ebene eine Führungsrolle zu behaupten. Entscheidend ist deshalb, dem Lobbydruck europäischer Autohersteller standzuhalten, die Grenzwerte aufweichen oder zeitlich strecken wollen. Die Verschiebung der Kohlendioxidobergrenze von 120 Gramm je Kilometer bis zum Jahr 2015 aufgrund der massiven Lobbyarbeit der Vereinigung der europäischen Autohersteller, getrieben in erster Linie von der deutschen Autoindustrie und unterstützt von der deutschen Bundesregierung, ist ein abschreckendes Beispiel für vergebene Innovationschancen zugunsten sektoraler und nationaler Kurzfristinteressen. 

Zugegeben: Für die Autoindustrie weltweit sind diese Trends kompliziert. Die Signale sind widersprüchlich. Sie steht vor einer doppelten Aufgabe: einer Wende in der Modellpolitik einerseits und dem Einstieg in eine intermodale E-Mobility andererseits. Aber die Autobranche kann nicht weitermachen wie bisher, sie braucht neue Orientierungen und Kooperationen, die sie bisher nicht gelernt hat. Die Modellpolitik wird trotz aller aktuellen Verkaufsrekorde auf Dauer nicht dem Muster "schneller, größer, schwerer, teurer" folgen. Für die deutsche Autoindustrie wird es besonders schwer, weil sie eine einzigartige Erfolgsgeschichte hinter sich hat. Sie konnte ihre Stellung auf den Automobilmärkten der Welt in den letzten Jahrzehnten stetig ausbauen und profitierte vom klassischen Image der Rennreiselimousine. Deutsche Autos gelten als technisch hochwertige und ausgereifte Fahrzeuge. 

Die Autounternehmen werden - obwohl sie (mehr im Verborgenen) schon lange keine reinen Produktionsfirmen mehr sind, sondern bereits zu großen Finanzdienstleistern mutierten - sich sukzessive zu Dienstleistungsunternehmen wandeln: zu umfassenden Mobilitätsdienstleistern nämlich. Wachsende Anteile an der Wertschöpfung werden in der Realisierung von Mobilität erzielt, in welcher technischen Umsetzung auch immer. Damit erweitert sich nicht nur ihr technisches Portfolio, sondern auch Selbstverständnis und Unternehmenskultur ändern sich fundamental. Wahrscheinlich müssen hierzu neue Kooperationen mit Energieversorgungsunternehmen oder gar mit öffentlichen Verkehrsbetrieben geschmiedet werden. Vermutlich geschieht dies nicht unter dem klassischen Markendach, sondern durch die Bildung neuer intermodaler Angebotsmarken. BMW hat mit seiner neuen Submarke BMW i einen großen Schritt getan. Mit BMW i sind ehrgeizige neue Fahrzeugkonzepte in konsequenter Leichtbauweise auf Basis des Verbundstoffes Karbon und neue Nutzungsangebote wie Carsharing verbunden.  

Dieser Wandel wird nicht ohne Brüche verlaufen. Es wird dabei auch Verlierer geben. Dennoch ist die Krise eine Chance für das Entstehen einer "Automobilität 2.0". Dafür braucht es eine Abkehr vom alten Autoleitbild und nicht zuletzt neue Bündnisse. Es bedarf der Bereitschaft, die derzeitige Krise nicht als kurzfristige Konjunkturdelle kleinzureden, sondern sie zum Anlass zu nehmen, bisherige Produkte und Geschäftsfelder infrage zu stellen und damit die Voraussetzungen zu schaffen, zukunftsträchtige Mobilitätsdienstleistungen für morgen zu entwickeln. Nur wer diese dann auch beherrscht, kann mittel- und langfristig auf den Zukunftsmärkten Asiens, Amerikas und Europas erfolgreich sein. 


Literatur


Canzler, W. / Knie, A. (2011): Einfach aufladen. Mit Elektromobilität in eine neue Zukunft, oekom Verlag, München 2011 

Deutsche Bank Research (2009): "Autoindustrie am Beginn einer Zeitenwende" (PDF, Link siehe rechte Spalte) 

Jänicke, M. (2008): Megatrend Umweltinnovation. Zur ökologischen Modernisierung von Wirtschaft und Staat, München 

Knie, A. / Berthold, O. / Harms, S. / Truffer, B. (1999): Die Neuerfindung urbaner Mobilität. Elektroautos und ihr Gebrauch in den USA und Europa, Berlin 

Nationale Plattform Elektromobilität (2011): Zweiter Bericht, Berlin, (PDF, Link siehe rechte Spalte)  

Projektgruppe Mobilität (2004): Die Mobilitätsmaschine. Versuche zur Umdeutung des Autos, Berlin 

Sperling, D. / Gordon, D. (2009): Two Billion Cars. Driving Toward Sustainability, Oxford 


Mit einer Illustration von Limo Lechner


Zitate


"E-Mobility ist mehr als die Formel ‚schicke, elektrisch betriebene Automobile plus genug saubere Ladestationen‘. Sie setzt einen Perspektivwechsel voraus: Nicht allein der innovative Antrieb, sondern umfassende Mobilitätskonzepte für urbane Regionen stehen im Vordergrund." Weert Canzler, Andreas Knie: Automobilität 2.0

"Akzeptieren wir die Leistungseinschränkungen der Elektromobile! Es geht nicht ohne ein Downsizing in den Ansprüchen, Erwartungen und Anforderungen." Weert Canzler, Andreas Knie: Automobilität 2.0

"Die nach Stand der Technik derzeit problemlos zu erreichenden 50 bis 100 Kilometer Reichweite sind völlig ausreichend. Sein vermeintliches technisches Handicap macht, umgekehrt betrachtet, das Elektromobil vielmehr zum Integrationsbaustein: Das Elektroauto wird zum vernetzten Auto, es ergänzt den öffentlichen Verkehr." Weert Canzler, Andreas Knie: Automobilität 2.0

"E-Mobilität hat nur eine Chance, wenn sie vernetzt gedacht wird. Sein enormer Charme liegt darin, wenn das Elektroauto zum integralen Element eines umfassenden öffentlichen Verkehrsangebotes wird." Weert Canzler, Andreas Knie: Automobilität 2.0

"Das Elektroauto als vernetztes Auto: So könnte E-Mobilität funktionieren!" Weert Canzler, Andreas Knie: Automobilität 2.0

"Die Autobranche kann nicht weitermachen wie bisher, sie braucht neue Orientierungen und Kooperationen, die sie bisher nicht gelernt hat." Weert Canzler, Andreas Knie: Automobilität 2.0

 

changeX 29.11.2011. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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: Einfach aufladen. Mit Elektromobilität in eine neue Zukunft. oekom Verlag, München 2011, 128 Seiten, 9.95 Euro, ISBN 978-3-86581-270-4

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Weert Canzler
Canzler

Dr. Weert Canzler arbeitet als Mobilitätsforscher am Wissenschafts-zentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Als Politikwissenschaftler forscht er vor allem zur Energie- und Verkehrswende.

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Andreas Knie
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Andreas Knie Leiter der Forschungsgruppe Wissenschaftspolitik am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Der Politologe ist zusammen mit Weert Canzler Gründer der Projektgruppe Mobilität am WZB.

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