Seltsame Gebilde

Mirja Anderl und Uwe Reineck über Organisationen
Interview: Winfried Kretschmer

Organisationen sind Systeme, die nach eigenen Mustern und Regeln handeln. Organisationen haben Erwartungen an die Menschen, die in ihnen arbeiten. Und sie verkünden Ideale, an denen sie selbst nur zu oft scheitern. Das Ergebnis: Wunsch und Realität passen nicht mehr zusammen. Und wer in Organisationen arbeitet, ist oft von ihnen genervt. Ganz kurz gesagt: Organisationen sind nicht rational.

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Mirja Anderl ist als Organisationsberaterin, Coach und Trainerin, Uwe Reineck als Coach und Unternehmenskulturschaffender in der Managementberatung MAICONSULTING in Berlin tätig. Zusammen haben sie das Mini-Handbuch Organisationsentwicklung geschrieben, das bei Beltz erschienen ist.
 

Was kann ein Mini-Handbuch leisten, wenn es um ein so vielschichtiges Thema wie Organisationen und ihre Entwicklung geht? 

Mirja: Für Leserinnen und Leser mit wenig Erfahrung auf dem Gebiet gibt es einen Einblick und die Möglichkeit, sein Wissen zu vertiefen. Für Erfahrene ist das Mini-Handbuch eine Inspirationsquelle für anderes Denken und Handeln - wir beschreiben ja viele Methoden und Formate, die jeder ausprobieren kann. Und uns gerne anmailen, wenn’s Fragen gibt.
 

Manchmal schreiben Sie in Rätseln. "Ach, Organisationen sind eigentlich ganz anders, sie kommen nur nicht dazu." Was will uns dieser Satz sagen? 

Uwe: Finden Sie das rätselhaft? Wir fanden es ganz klar: Wer in Organisationen arbeitet, ist oft von ihnen genervt. 

Mirja: Die Vorwürfe an Organisationen sind oft ähnlich - sie sind ineffektiv, intransparent, entmündigend! Und dann verkünden die Organisationen noch Ideale, an denen sie selbst nur zu oft scheitern: gute Führung, agile Strukturen, kurze Entscheidungswege, passende Kultur, produktive Zusammenarbeit, attraktive Visionen …
 

… warum ist das so? 

Mirja: Wir haben es mit Menschen zu tun. Und die denken - wir sind auch so welche - sich die Organisationen schöner, als sie real daherkommen. Hinzu kommen die vielen inneren und äußeren Einflüsse - das Ergebnis: Realität und Gewünschtes passen nicht mehr. 

Uwe: Wir glauben, Organisationen müssen so sein. Sie folgen Idealen und erreichen sie hoffentlich nie. Eine perfekte Organisation wäre das Ende einer gut gelaunten Unzufriedenheit, die wach hält und nach Verbesserungen strebt. Man stelle sich Sisyphos’ Schock vor, wenn er mit dem Stein tatsächlich am Gipfel ankommen würde …
 

Was sind eigentlich Organisationen? 

Mirja: Systemisch und ganz kurz beantwortet, sind sie Systeme, die nach eigenen Mustern und Regeln handeln. Bei dieser Definition sind die Menschen keine Bestandteile der Organisation, sondern deren Umwelt. 

Uwe: Organisationen sind ein permanenter Versuch, Zusammenarbeit gut hinzubekommen? Ein großes Zusammenwirken von Rollenspielern, die mit fremden und ihren eigenen Rollenerwartungen klarkommen müssen? Ein großes Gespräch? Eine Geldmaschine? Hängt wohl von der Perspektive ab …
 

Und warum Organisationsentwicklung - und nicht Change? 

Mirja: Darüber gibt es immer wieder Diskussionen, was der richtige Begriff ist. Wir wissen, dass Kunden und Berater oft von Change reden, auch wenn sie Organisationsentwicklung meinen. 

Uwe: Nicht jede Organisationsentwicklung ist ein Change, aber jeder Change braucht Organisationsentwicklung. Organisationen sollen sich ihren Umwelten anpassen. Diese permanente Pflege und Anpassungsarbeit, das ist für uns Organisationsentwicklung. Manchmal ist das ein radikaler Wandel, manchmal nur ein Gespräch über das Gespräch. Wir erleben, dass große Change-Erzählungen nicht mehr passen, weil sie schon zu oft erzählt wurden. 

Mirja: Es braucht eher kleine Formate und kleine Gesprächsrunden, die allmählich in eine gewünschte Richtung gehen. Wir nennen es auch Gartenarbeit …
 

Gartenarbeit? Eher Richtung Unkrautjäten oder Hegen und Pflegen? 

Mirja: Wohl beides. Damit ist gemeint: Die Arbeit hört nie auf und sie ist nie fertig - es gibt immer was zu tun.
 

Was muss wissen, wer mit Organisationen arbeiten will? Was ist die wichtigste Erkenntnis? Unabhängig voneinander beantwortet? 

Mirja: So einfach kann man diese Frage nicht beantworten - vielleicht gelingt es meinem Kollegen ;-). Ich sehe immer wieder die Verführung, dass Formate oder Methoden vergangener Organisationsentwicklungsprozesse in der nächsten Organisation auch so funktionieren können - aber das stimmt so nicht. Denn wir haben es ja mit Menschen zu tun. Sich immer wieder frei zu machen von dem bisher Gelernten und Erfahrenen, das ist eine entscheidende Erkenntnis. Und ein weiteres Thema für mich ist: Geduld zu haben. Zu akzeptieren, dass jede Organisation ihre Geschwindigkeit braucht und diese vielleicht auch nicht ändern will. Beziehungsweise es Kräfte innerhalb von Organisationen gibt, die dies nicht ermöglichen wollen. Es gibt vom Kunden oft den Wunsch nach großen Veränderungen, und Berater sollen dabei helfen, aber das geht aus meiner Sicht nur in kleinen Schritten: ein Kartoffelkloß nach dem anderen Kartoffelkloß. Und diesen Spagat von großen Veränderungen denken und kleinen Umsetzungen tun ist nicht unbedingt neu, braucht aber im Prozess viel Reflexion und Geduld auf allen Seiten.
 

Zweite Antwort? 

Uwe: Organisationen sind nicht rational.
 

Das war nun eine lange und eine sehr kurze Antwort … 

Mirja: … und dennoch arbeiten wir sehr gut zusammen … 

Uwe: … und ich überlege, wer recht hat.
 

Und welches ist der größte Fehler, den man machen kann? 

Uwe: Keine Fehler machen zu wollen. 

Mirja: Den Auftrag nicht klären oder nicht verstehen. Zum Beispiel: Der Kunde möchte die Moderation eines Workshops plus Planung aller Details drum herum - aber ich komme in der Haltung einer Prozessberaterin mit der Vorstellung, dass die Beteiligten selber viel machen und von ihren Fehlern lernen. Wenn das im Vorfeld nicht ausgesprochen wurde, dann wird der Workshop mit Unzufriedenheit enden. Da passieren viele Fehler bei der Auftragsklärung.
 

Sie sehen sich als "Illusionenaufräumdienst", wenn Sie in Organisationen arbeiten. Welche Illusionen sind das, die Ihnen in Unternehmen begegnen? 

Mirja: Jede Organisation hat Erwartungen an ihre Menschen und umgekehrt genauso: Die Menschen haben die Erwartung, dass sie Geld für ihre Arbeit bekommen, dass Organisationen rational und gerecht sind, dass die Menschen Wertschätzung bekommen von ihren Führungskräften. Während wir bei der Erwartung Geld gegen Arbeit mitgehen, versuchen wir deutlich zu machen, dass die übrigen Erwartungen meist höher sind als das, was die Organisation einlösen kann. Schöne Beispiele sind auch: konsistentes Handeln - wer A sagt, muss auch B sagen -, keine widersprüchlichen Aussagen von Führungskräften, Fürsorgepflicht.
 

Sie schreiben, Störung habe Vorrang. Das heißt? 

Uwe: Das ist eine wichtige Idee aus der Prozessberatung - ich kann nicht mit einer Gruppe von Menschen an einem bestimmten Thema arbeiten, wenn die sich gestört fühlen: durch Konflikte innerhalb der Gruppe, durch die Atmosphäre im Raum (zu kalt, zu warm), durch Probleme mit dem Thema, durch die Sinnfrage: Warum machen wir den Workshop überhaupt? All solche Dinge und Themen beschäftigen die Menschen in der Gruppe. Und da, wo die Emotion ist, da geht’s erst mal lang.
 

Organisationen scheinen seltsame Gebilde zu sein. Sie beziehen sich auf Stefan Kühl, der davon spricht, dass Organisationen über "Tricks" zu verfügen scheinen, um die internen Kommunikationsprozesse handhabbar zu machen. Welche Tricks könnten das sein? 

Uwe: Stefan Kühl gebraucht dafür das Bild vom Trampelpfad im Park. Das städtische Gartenbauamt bemüht sich, im Park möglichst passende oder schöne Wege anzulegen. Es werden dennoch Trampelpfade entstehen mit der Begründung, sie seien passender oder schöner. Und wir dürfen vermuten: Würde das Gartenbauamt entlang der Trampelpfade neue Wege anlegen, gäbe es bald wieder neue Trampelpfade. Übrigens mit der gleichen Begründung.
 

Gibt es noch irgendwelche Seltsamkeiten bei Organisationen? 

Mirja: Das ist eine schwierige Frage für Berater, die ja grundsätzlich nichts so richtig seltsam finden und eher fasziniert sind von den Verrücktheiten, die in Organisationen stattfinden. Seltsam finde ich vielleicht, dass Hierarchien nach wie vor so wichtig genommen werden, selbst dann, wenn die Führungskräfte sich anders verhalten. Dieser Weg dauert viel länger, als ich erwartet hätte, und ist mit vielen seltsamen Verhaltensweisen geschmückt: Verdrängung von Gesagtem, Wunsch nach Schriftlichkeit - das Vertrauen fehlt oft. Aber so richtig seltsam ist das auch wieder nicht. 

Uwe: Eine Organisation ist an und für sich schon etwas sehr Seltsames.
 


Das Interview haben wir schriftlich geführt.
 


Zitate


"Wer in Organisationen arbeitet, ist oft von ihnen genervt." Mirja Anderl, Uwe Reineck: Seltsame Gebilde

"Nicht jede Organisationsentwicklung ist ein Change, aber jeder Change braucht Organisationsentwicklung." Mirja Anderl, Uwe Reineck: Seltsame Gebilde

"Organisationen sind nicht rational." Mirja Anderl, Uwe Reineck: Seltsame Gebilde

"Da, wo die Emotion ist, da geht’s erst mal lang." Mirja Anderl, Uwe Reineck: Seltsame Gebilde

"Eine Organisation ist an und für sich schon etwas sehr Seltsames." Mirja Anderl, Uwe Reineck: Seltsame Gebilde

 

changeX 18.01.2019. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Zum Buch

: Mini-Handbuch Organisationsentwicklung. Konzepte, Methoden, Praxistipps. Beltz Verlag, Weinheim 2018, 251 Seiten, 19.95 Euro (D), ISBN 978-3-407-36665-8

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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