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Alle Zukunft offen

Komplexität, Kontingenz und Wahrscheinlichkeit - ein Interview mit der Soziologin Elena Esposito.
Interview: Winfried Kretschmer

Die Zukunft ist unbestimmt. Daran haben wir uns gewöhnt. Was wir noch lernen müssen: dass sie darauf reagiert, wie wir sie zu gestalten versuchen. Je komplexer wir für die Zukunft rechnen und planen, desto unberechenbarer wird sie. Alles ist anders, als wir voraussehen können.

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Dr. Elena Esposito studierte Philosophie bei Umberto Eco und Soziologie in Bologna. Sie promovierte bei Niklas Luhmann in Bielefeld. Seit 2001 ist sie Professorin für Kommunikationssoziologie an der Facoltà di Scienze della Comunicazione e dell'Economia der Universität Modena und Reggio Emilia.  

"Die Fiktion wirkt also wie ein Spiegel, in dem die Gesellschaft ihre eigene Kontingenz reflektiert", schrieb Elena Esposito in ihrem Essay "Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität". Und Fiktion, so ihre These, ist nicht nur der Roman, sondern auch das historisch zur selben Zeit entstandene Wahrscheinlichkeitskalkül. Wahrscheinlichkeit ist eine Antwort auf die grundsätzliche Unbestimmtheit der Zukunft. Doch bleibt sie für diese nicht folgenlos. Denn wie wir versuchen, die Zukunft zu planen, hat einen Einfluss darauf, wie sie wird. Diese zirkuläre Vorstellung ist zentral für das Denken von Elena Esposito. In ihrem neuen Buch Die Zukunft der Futures bezieht sie diesen Gedanken auf die Finanzmärkte und die Entstehung der Wirtschafts- und Finanzkrise. Die Finanzmärkte nämlich handeln in der Gegenwart mit etwas, das erst in einer ungewissen Zukunft stattfinden wird. Und das kann natürlich schiefgehen. Alles kann anders sein als gedacht. Systemtheorie at its best.
 

Frau Esposito, wie sind Sie denn darauf gekommen, das Entstehen der Wahrscheinlichkeitstheorie und des Romans miteinander in Beziehung zu bringen? 

Neugierig auf dieses Thema hat mich gemacht, dass das Wahrscheinlichkeitskalkül und der moderne Roman praktisch gleichzeitig entstanden sind. Beide entstanden Ende des 17. Jahrhunderts und haben sich im 18. Jahrhundert entwickelt. Ich dachte, das kann kein Zufall sein! Ich habe mich gefragt, welche gesellschaftlichen Voraussetzungen dazu geführt haben könnten, dass man gleichzeitig einen Bedarf spürte, in unterschiedlichen alternativen Welten Realitätsbezüge zu suchen: in der Welt der Fiktion und in der Welt der Wahrscheinlichkeiten.
 

Was war das für eine Zeit damals? 

Das war die Zeit, über die Soziologen und Historiker immer gerne nachdenken: der Anfang der Moderne, als das alte, vormoderne Bild der Welt, wo alles eine Ordnung hatte, weil es kosmologisch organisiert war, zusammenbrach und man sich mit neuen Problemen konfrontiert fand: mit einer Realität, die viel komplexer, viel polyzentrischer war, in der die Unsicherheit eine viel größere Rolle spielte und wo man neue Orientierungspunkte finden musste, die notwendigerweise flexibler sein mussten als jene, die vorher galten.
 

Die Erklärung, die Sie liefern, überrascht: Sie sagen, Wahrscheinlichkeit ist selbst eine Fiktion. Welches Bedürfnis kam darin zum Ausdruck? 

Man suchte eine Realität, die fiktiver war, von der man wusste, dass sie nicht existierte, die aber nicht medial war, wie der Roman. Wir wissen, dass Romane fiktiv sind, dass die Romanhelden nicht existieren - und man deklariert sogar, dass sie von Autoren erfunden worden sind. Dennoch beeinflussen die Erfahrungen, die wir im Fiktiven gemacht haben, deutlich unsere reale Erfahrung. Das heißt, sie sind reale Wirklichkeiten - sie sind fiktiv, aber real, denn die Erfahrungen, die wir mit der Fiktion machen, haben sehr deutliche und konkrete Folgen für die Art und Weise, mit der Welt und mit anderen Personen umzugehen. Und Ähnliches war mit der Wahrscheinlichkeit der Fall. Man dachte: Wir brauchen Orientierungspunkte, die uns Kriterien geben, um Entscheidungen zu treffen - obwohl wir nicht sicher sein können, dass diese richtig sein werden.
 

Aber der Unterschied ist doch: Den Roman hält jeder für fiktiv, die Wahrscheinlichkeit aber für real. 

Aber am Anfang war es nicht so. Am Anfang wurde das Wahrscheinlichkeitskalkül auch als Fiktion dargestellt - und gerade deshalb war es real: eine reale Fiktion. Wenn man das pointieren möchte, kann man sagen, dass die Fiktion eigentlich viel weniger fiktiv ist, als wir denken - und die Wahrscheinlichkeit viel weniger real, als wir denken. Die Fiktion ist real in ihren Folgen und die Wahrscheinlichkeit ist viel fiktiver, als wir normalerweise annehmen.
 

Gibt es da eine Parallele zur heutigen Zeit? Ist es die Erfahrung einer Umbruchsituation, die die Zeit damals, am Entstehen der Moderne, und die heutige Zeit verbindet? 

Unsere Gesellschaft hat die Erfahrung des Umbruchs, der Unsicherheit und der Unberechenbarkeit schon mal erlebt: in der barocken Zeit. Danach kam die Aufklärung und all das, was wir kennen. Die Barockzeit war eine faszinierende Zeit, wo man sich unmittelbar mit dieser Unsicherheit konfrontiert fand - und als Reaktion darauf sind viele moderne Phänomene entstanden: das Wahrscheinlichkeitskalkül und die Fiktion ebenso wie die Mode. Heute gibt es Überlegungen, dass wir uns in einer neubarocken Phase befinden - in einem Umbruch in eine neue Welt, eine neue Art der gesellschaftlichen Organisation. Ich bin jedoch immer etwas skeptisch gegenüber solchen Thesen, denn wenn etwas wirklich Neues käme, dann sollte es überraschend kommen. Das heißt nicht, dass wir uns nicht in einer Umbruchphase befinden. Das kann man nicht wissen. Doch die Tatsache, dass wir uns so sehr, so stark und so dramatisch dessen bewusst sind, ist soziologisch kein gutes Zeichen dafür, dass es tatsächlich eine Umbruchphase ist.
 

Woher rührt dann die Erfahrung, dass Unsicherheit, Risiko, Unbestimmtheit in unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft zunehmen? 

Man spürt in vielen Bereichen: Die Unsicherheit, die wir seit ein paar Jahrzehnten erfahren, hat etwas Neues. Es ist diese Vermutung des Risikos, die eigentlich mit einer neuen Zeiterfahrung verbunden ist: mit dem Bewusstsein, dass die Zeit, die seit der Moderne offen ist, viel deutlicher zirkulär geworden ist. Wir wissen, dass die Zeit offen ist, wir wissen, dass wir nicht wissen können, was morgen passieren wird, aber wir wissen zudem, dass dies von unserem Verhalten produziert wird. Das schafft eine zirkuläre Unsicherheit, ein zirkuläres Risikobewusstsein, das in diesem Umfang neu ist. Deshalb finde ich schon, dass der etwas in Mode gekommene Begriff der Risikogesellschaft trifft.
 

Was genau heißt Risikogesellschaft? Dass sich in einer Gesellschaft das Verhältnis zum und der Umgang mit Risiko verändert? 

Ja, man kann es so formulieren. Vor allem aber bedeutet Risikogesellschaft: eine Gesellschaft, die keine Sicherheit mehr hat. Die Systemtheorie arbeitet mit der Unterscheidung zwischen Sicherheit, Risiko und Gefahr. Früher war die Vorstellung: Man kann Risiken eingehen, aber man kann auch Risiken vermeiden. Es gibt Sicherheiten: Wenn man keine Risiken eingeht, kann man relativ sicher sein. Jetzt aber wissen wir, dass wir immer Risiken eingehen. Deshalb Risikogesellschaft: eine Gesellschaft, in der jede Entscheidung riskant ist. Auch eine Entscheidung, nichts zu riskieren, ist riskant, weil wir nie ausschließen können, dass in der Zukunft Schaden entstehen könnte, den wir hätten vermeiden können. Deshalb Risikogesellschaft. Jede Entscheidung ist von dem Bewusstsein sozusagen belastet, dass wir die heutige Entscheidung in Zukunft bereuen könnten. Wir hätten es immer anders machen können, und das wissen wir. Wir müssen heute in dem Bewusstsein entscheiden, dass das, was uns morgen erwartet, auch davon abhängig ist, was wir heute entscheiden. Aber wir können nicht wissen, was wir morgen wollen werden.
 

Verändert sich da die Wahrnehmung von Risiko oder gehen tatsächlich Sicherheiten verloren? 

Feste Bezugspunkte sind fast nicht mehr da. Das heißt, die Unsicherheit - oder wenn man so will, das Bewusstsein der Kontingenz - ist in unserer Gesellschaft viel breiter verteilt als zuvor. In einzelnen Bereichen haben wir gelernt, damit umzugehen, in anderen weniger. So gibt es auch Bereiche, wo man versucht, wieder Sicherheit zu schaffen, wie heute in den Finanzmärkten. Anderswo dagegen versucht man, diese Tatsache der Kontingenz zu akzeptieren und Kontingenz mit anderen Kontingenzformen zu bewältigen.
 

Die Finanzkrise, und da sind wir bei Ihrem neuen Buch, wurde verursacht dadurch, dass man glaubte, alle Risiken berechnen und kalkulieren zu können? 

Das kann man so sagen. Auf den ersten Blick erscheint das zwar nicht zutreffend, denn die Finanzmärkte benutzten sehr raffinierte und sehr komplexe Techniken der Risikoabschätzung. Sie gehen schon davon aus, dass die Zukunft unbestimmt ist. Sie konfrontieren ständig mit Risiken, mit der Unsicherheit der Zukunft. Aber wenn man genauer hinsieht, stellt man fest, dass die Techniken, die die Finanzmärkte benutzen, um sich mit Risiko auseinanderzusetzen, im Grunde auf sehr komplexe Weise immer noch eine Suche nach Sicherheit, nach Risikoschutz sind.
 

Man glaubt, die Risiken kontrollieren zu können? 

Das aber ist eine Illusion. Denn es gibt immer Aspekte, die im Risikokalkül nicht berücksichtigt werden können - dies sind typischerweise die Zirkuläraspekte. Gerade der Versuch, Sicherheiten zu schaffen, produziert weitere Risiken, und diese Risiken können nicht im Voraus geplant werden.
 

Was ist daraus zu lernen? 

Wir müssen lernen, dass die Zukunft, egal wie komplex wir damit umgehen, sowieso offenbleibt. Dass, auch wenn wir versuchen, keine einzige Zukunft zu planen, sondern mehrere unterschiedliche Szenarien miteinander kombinieren, die Zukunft, wie sie sich dann tatsächlich realisiert, immer anders ist. Alles ist anders, als wir es im Moment voraussehen können - weil die Zukunft eben gerade darauf reagiert, wie wir versuchen, die Zukunft zu planen. Und das ist ein Gedanke, der, soweit ich weiß, in den Mainstream-Techniken der Risikoverwalter und Finanzmärkte kaum berücksichtigt wird.
 

Dadurch, dass wir versuchen, Zukunft zu planen, beeinflussen wir sie? 

Ja. Oder machen sie auf jeden Fall komplexer und unberechenbar. Je komplexer wir rechnen, desto unberechenbarer wird die Zukunft.
 

Der Quantenphysiker Anton Zeilinger hat einmal gesagt, die größte Leistung der Naturwissenschaften in den letzten hundert Jahren sei die Entdeckung des Zufalls. Stimmen Sie zu? 

Da würde ich schon zustimmen. Für die Sozialwissenschaften ist diese Art zirkulärer Unsicherheit auch wieder keine Neuigkeit. Aber eine große Neuigkeit ist, dass dieselbe Struktur, dass dieselben Phänomene in allen Bereichen der Wissenschaften beobachtet werden können - nicht nur in den Sozialwissenschaften, auch in der Biologie, in der Physik und so weiter. Und das ist schon ein neuer Gedanke - jedenfalls seit fast einem Jahrhundert neu.
 

Wenn Sie dieselbe Frage für die Sozialwissenschaften beantworten müssten, was würden Sie sagen? Kontingenz? 

Ich würde schon sagen, Kontingenz. Der Gedanke, dass alles anders sein kann oder auch nicht sein kann. Das ist das Schöne an dem systemtheoretischen Kontingenzbegriff: Alles kann anders sein, aber wenn es einmal entstanden ist, kann man es nicht mehr ändern, obwohl es kontingent ist und bleibt. Es hätte anders sein können, aber es ist im Moment da. Das ist für mich einer der faszinierendsten Gedanken der Systemtheorie.
 

Ist Kontingenz eine Folge von Komplexität? 

Beide Begriffe hängen sehr eng zusammen. Denn Kontingenz heißt, es könnte immer anders sein. Das heißt, es gibt mehrere Möglichkeiten - das, was aktuell geworden ist, ist nur eine Möglichkeit unter vielen. Und Komplexität heißt genau, dass es viele Möglichkeiten gibt. Es ist dasselbe. Es sind zwei Begriffe, die aus verschiedenen Perspektiven dasselbe Phänomen beschreiben.
 


Zitate


"Wir wissen, dass die Zukunft offen ist, wir wissen, dass wir nicht wissen können, was morgen passieren wird, aber wir wissen zudem, dass dies von unserem Verhalten produziert wird." Elena Esposito: Alle Zukunft offen

"Kontingenz heißt, es könnte immer anders sein. Das heißt, es gibt mehrere Möglichkeiten – das, was aktuell geworden ist, nur eine Möglichkeit unter vielen. Und Komplexität heißt genau, dass es viele Möglichkeiten gibt. Es sind zwei Begriffe, die aus verschiedenen Perspektiven dasselbe Phänomen beschreiben.“ Elena Esposito: Alle Zukunft offen

 

changeX 12.05.2010. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Zu den Büchern

: Die Zukunft der Futures. Die Zeit des Geldes in Finanzwelt und Gesellschaft. Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2010, 296 Seiten, ISBN 978-3-89670-725-3

Die Zukunft der Futures

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: Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität. Suhrkamp Verlag, edition suhrkamp 2485, Frankfurt am Main 2007, 127 Seiten, ISBN 978-3-518-12485-7

Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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