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Klein ist fein

"In komplexen Situationen sind es meist die kleinen Lösungen, die entscheiden" - ein Gespräch mit Klaus Henning
Interview: Anja Dilk

Beherrschen lässt sich Komplexität nicht. Meistern aber durchaus. Indem man Ruhe bewahrt und Dynamik und Komplexität heranlässt. Indem man beobachtet und sich langsam ein Bild macht, statt hektisch nach der großen Lösung zu suchen. Und indem man auf die kleinen Dinge achtet. Sagt unser Gesprächspartner: Denn in komplexen Situationen ist meist die kleine Lösung die bessere.

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"Beherrschen lässt sich Komplexität nicht, meistern aber durchaus." Sagt Klaus Henning, Ingenieur- und Informationswissenschaftler, bis 2008 Dekan und Lehrstuhlinhaber an der RWTH Aachen und heute Organisationsberater in Wirtschaft und Politik. Für ihn sind die kleinen Lösungen die entscheidenden.
 

Herr Henning, in Ihrem Buch haben Sie sich ein Problem vorgeknöpft, das vielen Unternehmen zu schaffen macht: Komplexität bewältigen. Aber geht das überhaupt? Wikipedia beispielsweise definiert Komplexität als "Eigenschaft eines Systems, dessen Gesamtverhalten man selbst dann nicht eindeutig beschreiben kann, wenn man vollständige Informationen über seine Einzelkomponenten und Wechselwirkungen besitzt".  

Wir müssen deshalb zweierlei klar unterscheiden: Komplexität beherrschen und Komplexität meistern. Eine komplexe Situation zeichnet sich in der Tat gerade dadurch aus, dass sich keine Voraussagen für das nächste Mal machen lassen - weil sich längst wieder vieles geändert hat. Ist eine Lage schwierig und verästelt, aber lassen sich dennoch zuverlässige Voraussagen machen, spricht man dagegen von einer "komplizierten" Situation. Beherrschen, da gebe ich Ihnen recht, lässt sich Komplexität daher nicht, auch wenn uns das noch so viele Berater vorgaukeln wollen. Meistern aber durchaus. Der Begriff "meistern" ist der Handwerkskunst entnommen und meint in etwa "geschickt sein", "angemessen handeln", "die Anzeichen einer Veränderung wahrnehmen". Und in diesem Sinne können wir Komplexität durchaus sinnvoll und angemessen meistern.
 

Wie?  

Indem wir erst mal begreifen, dass wir mit Planungen nicht alles lösen können. Wir sind erzogen, Probleme systematisch anzugehen: Problem definieren, einen Lösungsplan machen, umsetzen. Und das Problem ist erledigt. Doch diese Strategie funktioniert heute nicht mehr. Bis wir mit den Planungen durch sind, haben sich die Märkte, die Welt und meine Organisation schon wieder geändert.
 

Also in die Tonne mit Plänen?  

Nein, man braucht sie schon, aber noch wichtiger ist die Veränderungsfähigkeit. Ich nenne Ihnen ein Beispiel aus meinem Arbeitsalltag. Ich war 25 Jahre an der RWTH Aachen, unter anderem betrieben wir dort ein Verbundunternehmen mit voll automatisierten Lkw. Vier Lkw schickten wir regelmäßig zu Probefahrten auf die Straße, drei davon ohne Fahrereingriff. Das funktionierte lange reibungslos, bis eines Tages der ganze Vierer-Konvoi eine Vollbremsung am Berg hinlegte, ohne erkennbaren Grund. Von einem Moment auf den anderen hatte sich für uns damit alles geändert, wir konnten unsere Pläne vergessen. Die Verkehrszulassung war weg, die ganze Truppe stand plötzlich mit leeren Händen da. Wir wussten: Hier kommen wir nur raus, wenn wir die Wahrheit schonungslos auf dem Tisch legen. Wir haben damals alle Arbeitsprozesse auf den Kopf gestellt, haben nach dem Fehler gesucht - nach einer Woche hatten wir ihn: Die Toleranzvorgaben für den Mindestabstand von circa zehn Metern zwischen zwei Lkw war zu eng eingestellt gewesen. Wir mussten die Toleranz nur um zehn Millimeter ändern, aber dieser minimale Fehler hatte in unserem Projekt alles geändert. In komplexen Situationen sind es meist die kleinen Lösungen, die entscheiden.
 

Warum?  

Wenn Sie in einer komplexen Ausgangslage nach dem großen Wurf suchen, müssen Sie mit viel zu vielen Variablen spielen. Sie drehen an tausend Stellen und haben keine Chance, zu überblicken, welche Auswirkungen das an tausend anderen Ecken hat. Wenn Sie nur an einem Detail drehen, lassen sich die Folgen leichter überschauen. Doch viele Manager klammern sich an den großen Plan. Sie wollen es gründlich angehen. Es fehlt ihnen an einer gewissen Ehrfurcht vor dem System, dem Organismus Unternehmen. Sicher, oft gelingen Anpassungen an eine neue Situation intuitiv, Mittelständler sind darin geübt. Sie machen automatisch vieles anders als im Lehrbuch. Große Unternehmen dagegen steuern leicht in eine falsche Richtung. Es ist wie bei einem Tanker in großem Sturm - bis der Tanker auf den neuen Kurs reagiert, dauert es lange. Bis eine Veränderung in einer großen Organisation umgesetzt ist, ebenso. Wenn einem die Folgen einer Entscheidung aber erst zwei Jahre später um die Ohren fliegen, sind sie viel schwerer zu korrigieren.
 

Wie finde ich eine geeignete kleine Lösung? 

Zunächst: Die kleine Lösung ist nicht die einfache Lösung. Die "Man muss doch nur"-Haltung ist gefährlich. Vielmehr muss ich in komplexen Systemen diagnostizieren und aushalten lernen, die ganze Komplexität und Dynamik - Dynaxity - an mich heranlassen, sie wahrnehmen, zunächst, ohne einzugreifen. Und dann gilt es, alle möglichen Ansatzpunkte zu prüfen und die kleinste Lösung mit dem größten Effekt und den geringsten unerwünschten Nebenwirkungen zu wählen. Nicht selten hängt es ja an einem Detail. Eine Schraube, die neu justiert wird, ein Gespräch, das geführt werden sollte. Oft übersehen wir die Bedeutung von Details. Mir ist das selbst mal in den Bergen klar geworden.
 

Was war passiert?  

Ich war in den Schweizer Alpen unterwegs, wir hatten einen Viertausender bestiegen und waren auf dem Rückzug. Während des Abstiegs brach mein Steigeisen an einer Felskante. Es wäre lebensgefährlich gewesen, ohne weiterzugehen, wir mussten einige Gletscher und Eisplatten passieren. Zufällig hatte ich ein Stück Draht dabei, konnte das Steigeisen damit notdürftig reparieren und schaffte es irgendwie Schritt für Schritt wieder runter. Seitdem habe ich auf jeder Bergtour ein Stück Draht mit. Es ist in komplexen Systemen oft so ein Stück Draht, das fehlt. Und vom Stück Draht hängt häufig der Erfolg einer ganzen Tour ab.
 

Von der Bergtour zum Unternehmensalltag - wie kommen Führungskräfte den geeigneten kleinen Lösungen auf die Spur?  

Ein Unternehmen ist ein lebender Organismus. Es kommt darauf an, ihn genau unter die Lupe zu nehmen. Das heißt: beobachten, beobachten, beobachten: Was gibt es für Äußerungen und Verhaltenselemente in diesem Unternehmen? Warum? Wie laufen Prozesse ab? Wie kommunizieren die Abteilungen untereinander? Viele Firmen nehmen sich dafür nicht die Zeit. Sobald sie den ersten Fehler sehen, werden sie aktiv. Das wiederum ist ein gravierender Fehler, weil sie wahrscheinlich das Falsche tun. In komplexen Situationen kommt es darauf an, Ruhe zu bewahren - sich langsam ein Bild machen und Lösungsideen entwickeln. Es können durchaus 20 bis 30 Lösungsvorschläge sein, die ich mir genau anschaue, um einschätzen zu können, dass ich am richtigen Detail drehe. Manchmal verändert sich allein durch die Beobachtung selbst schon das System.
 

Weil man anfängt, über sich selbst nachzudenken? 

Genau. Wie effektiv das sein kann, haben wir mal in einer Beratung gemerkt. Wir sollten der Frage nachgehen, wieso das Essen auf den Stationen eines Klinikums stets kalt beim Patienten ankam. Zwei Drittel aller Speisen waren kalt, bei 600 Essen täglich. Woran lag das? Das Essen wird in der Küche gekocht, auf Teller, Schalen und Tabletts gelegt, diese kommen in Essenswagen, die im Haus verteilt werden. Aber die Wagen standen oft mehr als eine Stunde herum, niemand wusste, wieso. Der Vorstand wollte mit einer neuen, teuren Software die Logistik neu ordnen, ihr Beine machen. Doch vorab sollten wir die Situation analysieren. Wir befragten alle Beteiligten, doch jeder gab einem anderen Glied in der Logistikkette die Schuld. Um der Ursache auf die Spur zu kommen, versuchten wir also etwas anderes. Wir klebten einen Zettel an die Essenscontainer, schrieben drauf, wann diese die Küche verlassen hatten, und notierten daneben, dass sich das Essen 45 Minuten lang warm hält - und siehe da, plötzlich kam das Essen warm an. Der Grund: Alle in der Logistikkette wussten plötzlich, worum es geht, und gaben sich automatisch Mühe, die 45 Minuten einzuhalten. Vom Chefarzt bis zur Reinigungskraft fühlten sie sich plötzlich verantwortlich, organisierten sich um, schoben Wagen in die Aufzüge, verlegten die Visite oder Mittagspause und so weiter. Nur aufgrund des Zettels. Und dann hat der "Faktor Mensch" die Lösung erzeugt. Von selbst. Ohne zu fragen. Und allein die Suche nach einer Lösung führte zur Lösung. Zu einer kleinen Lösung, in diesem Fall für wenig Geld.
 

Sich selbst und das eigene Unternehmen sorgfältig zu beobachten, scheint der Schlüssel zu sein ...  

... ja. Und egal wie grausam die Lage ist, das erste Ziel muss immer die Wahrheitsfindung sein. Auch wenn es wehtut. Hochglanzbroschüren und Hochglanzanalysen bringen nichts. Im Gegenteil, sie legen sich wie ein Deckmantel über die wahren Probleme.
 

Aber die Wahrheit ehrlich auf den Tisch zu bringen, wird in vielen Unternehmen gerne verhindert ...  

Bewährt haben sich unternehmensweite Workshops mit fünf, zehn, 30 oder auch 100 Teilnehmern, bunt gemischt aus ganz unterschiedlichen Abteilungen, Fachbereichen und unterschiedlichen Hierarchiestufen. Die Menschen dürfen sich nicht in ihre gewohnten Kuschelgruppen zurückziehen können. Dann kommen die Mitarbeiter automatisch miteinander in ein offenes Gespräch, Konflikte brechen auf, langsam wird ein gemeinsames Bild erkennbar. Was ist uns wichtig, was nicht? Was ist wirklich wahr und was sind Scheingefechte und Sandkastenspiele? Wie seht ihr die Sachen, wie betrachten wir sie? Die unterschiedlichen Sichtweisen bergen immer einen Wahrheitsgehalt.
 

Was können Führungskräfte tun, um Rahmenbedingungen zu schaffen, um solchen Wahrheiten auf die Spur zu kommen? 

Sie sollten drei Strategien verfolgen: erstens für eine angemessene, funktionale Vertrautheit zwischen den Teams im Unternehmen sorgen. Die Mitarbeiter müssen sich sicher sein können, dass sie niemand über den Tisch ziehen will. Solche Organisationen sind sensibel, weil ihre Mitglieder emotionalen Zugang zueinander finden, Freund und Feind unterscheiden können, und wissen, dass sich die anderen mitfreuen, wenn ihnen etwas gelungen ist.  

Zweitens müssen Manager bürokratische Strukturen abschaffen und Hierarchien entschlacken. Andererseits sind sie mit wenigen Dingen so strukturiert, dass kein Chaos ausbricht. Solche Organisationen sind extrem schnell, flexibel und wendig, also turbulenztauglich.  

Drittens sollten Führungskräfte Achtsamkeit im Unternehmen kultivieren. Das heißt, eine Kultur pflegen, die davon geprägt ist, Mitarbeiter ernst zu nehmen, ihnen ehrliche Aufmerksamkeit zu schenken, statt scheinbar unwichtige Dinge einfach abzutun. Sie lassen provokativ "Faulheit" zu, denn das lässt Raum für entspannte Wahrnehmung der Umgebung, des Umfeldes. Sind wir alle noch mit Freude bei der Aufgabe? Wo liegt für uns der Sinn? Brauchen wir Distanz?  

In einem Klima, das von diesen Rahmenbedingungen geprägt ist, gedeihen auch eine offene Feedback- und Gesprächskultur sowie Vertrauen - all das ist so wichtig für das genaue Beobachten auf der Suche nach kleinen Lösungen, die komplexe Situationen meistern helfen.
 

Führungskräfte haben oft Angst, mit einer Lösungsstrategie zu scheitern. 

Komplexität zu meistern ist wie die Ausbildung zum Meister - nichts ersetzt die eigenen Erlebnisse und die daraus gezogenen Erfahrungen. Ich sage Führungskräften: Und wenn es eine große Veränderung ist, die viele Jahre braucht, dann bleiben Sie geduldig und beharrlich dran mit vielen kleinen Lösungen - tausend Schritte anstelle eines Big Bang.  

Scheitern gehört dazu. Wichtig ist, verantwortungsvoll und offen damit umzugehen. Ich erinnere mich an einen Vorstand, der die gesamte Belegschaft einlud, um von seinem gewaltigen Veränderungsprojekt zu erzählen. Als er auf die Bühne trat, beschwerten sich die Mitglieder des Betriebsrates empört, dass sie nicht zu den bisherigen Vorstandsrunden eingeladen gewesen seien. Die meisten Vorstände wären darüber hinweggegangen oder hätten anderen die Schuld in die Schuhe geschoben. Dieser Vorstand aber entschuldigte sich vor 100 Mitarbeitern: Er habe es schlicht vergessen, es täte ihm leid, das hätte nicht passieren dürfen. "Bitte vergeben Sie mir!" Er hat Haltung gezeigt, und sofort war die Luft bei den Kritikern raus. Was sollten sie noch sagen?  

Haltung und Verantwortung sind erfolgsentscheidend: Wenn Manager nicht bereit sind, das Risiko des Scheiterns in einer komplexen Veränderung einzugehen, sollten sie schnell ihren Job wechseln.
 


Zitate


"Beherrschen lässt sich Komplexität nicht, auch wenn uns das noch so viele Berater vorgaukeln wollen. Meistern aber durchaus." Klaus Henning: Klein ist fein

"In komplexen Situationen sind es meist die kleinen Lösungen, die entscheiden." Klaus Henning: Klein ist fein

"Die kleine Lösung ist nicht die einfache Lösung. Die ,Man muss doch nur‘-Haltung ist gefährlich." Klaus Henning: Klein ist fein

"Oft übersehen wir die Bedeutung von Details." Klaus Henning: Klein ist fein

"Ein Unternehmen ist ein lebender Organismus. Es kommt darauf an, ihn genau unter die Lupe zu nehmen. Das heißt: beobachten, beobachten, beobachten." Klaus Henning: Klein ist fein

"Manchmal verändert sich allein durch die Beobachtung selbst schon das System." Klaus Henning: Klein ist fein

"Wie seht ihr die Sachen, wie betrachten wir sie? Die unterschiedlichen Sichtweisen bergen immer einen Wahrheitsgehalt." Klaus Henning: Klein ist fein

"Wenn Manager nicht bereit sind, das Risiko des Scheiterns in einer komplexen Veränderung einzugehen, sollten sie schnell ihren Job wechseln." Klaus Henning: Klein ist fein

 

changeX 06.02.2015. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Zum Buch

: Die Kunst der kleinen Lösung. Wie Menschen und Unternehmen die Komplexität meistern. Murmann Verlag, Hamburg 2014, 254 Seiten, 24.99 Euro, ISBN 978-3-86774-382-2

Die Kunst der kleinen Lösung

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Autorin

Anja Dilk
Dilk

Anja Dilk ist Berliner Korrespondentin, Autorin und Redakteurin bei changeX.

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