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Zusammenleben

Kooperation, nicht Konkurrenz ist das Prinzip des Lebens - ein Gespräch mit dem Biologen Josef H. Reichholf
Interview: Winfried Kretschmer

Es schien so einfach, so klar: Die am besten angepassten Individuen - oft verstanden als die stärkeren - überleben im Kampf ums Dasein. Darwins Formel der Evolution als Grundprinzip des Lebens: Konkurrenz. Doch zunehmend etabliert sich eine andere Sicht auf die Dinge. Nicht Konkurrenz, sondern Kooperation ist die Grundlage des Zusammenlebens. Vom Einzeller bis zum Menschen und den von ihm geschaffenen Systemen.

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In neuerer Zeit erst ist klar geworden, dass es ein verbindendes Prinzip zwischen der Sphäre der Natur und der vom Menschen geprägten Sphäre von Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur gibt. Ein Prinzip, das den darwinschen "Kampf ums Dasein", die Konkurrenz, relativiert: die Kooperation. Sagt der Biologe Josef H. Reichholf.
Josef H. Reichholf, geboren 1945 in Aigen am Inn, ist einer der bekanntesten Biologen im deutschsprachigen Raum, lehrte über viele Jahre an beiden Münchner Universitäten und ist Autor zahlreicher Bücher, von denen etliche zu Bestsellern wurden. Seine neueste Veröffentlichung Symbiosen ist selbst Ergebnis einer symbiotischen Zusammenarbeit: mit dem Künstler und Illustrator Johann Brandstetter.
 

Herr Reichholf, Symbiosen galten lange als mehr oder weniger exotische Randerscheinungen im Reich der Biologie. Sie rücken sie nun in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Erklären Sie uns doch bitte kurz: Was sind Symbiosen?  

Symbiosen lassen sich als das konstruktive Miteinander unterschiedlicher Lebewesen beschreiben. Wobei konstruktiv bedeutet, dass die Partner daraus beiderseitig Vorteile oder zumindest einseitig keinen Nachteil schöpfen. Wenn einseitig ein Nachteil gegeben ist, dann sprechen wir von einem Räuber-Beute-System oder einem Parasit-Wirt-System. Wenn eine Kohlmeise eine Raupe frisst, dann ist die Raupe Futter. Das ist natürlich keine Symbiose, obgleich die Kohlmeisen von den Raupen leben. Auch wenn der Parasit den Wirt nicht gleich umbringt, sondern ihn möglichst lange am Leben erhält, ist das keine Symbiose, wenn das aus der Sicht der Parasiten durchaus, vermenschlicht ausgedrückt, vernünftig ist, weil es sein eigenes Überleben fördert. Die echte Symbiose - oder wissenschaftlich, der Mutualismus - bedeutet, dass beide Partner besser leben können, wenn sie das Leben gemeinsam, wie wir wiederum vermenschlicht sagen würden, zu meistern versuchen.
 

Symbiosen sind eine Form des Zusammenlebens? 

Symbiose bezeichnet das Zusammenleben verschiedener Arten von Lebewesen. Dieses Prinzip, das Zusammenleben unterschiedlicher Organismen zu beiderseitigem Nutzen, durchzieht das ganze Leben bis zum Menschen. Leben lebt nicht allein durch Konkurrenz, sondern auch - und oft viel besser - durch Kooperation. Erst in neuerer Zeit ist klar geworden, dass die Kooperation ein verbindendes Prinzip ist, das den darwinschen "Kampf ums Dasein", die Konkurrenz, relativiert.
 

Wie sind Sie persönlich zu dieser Einsicht gelangt? 

Das hängt mit meiner eigenen Forschungstätigkeit zusammen. Wenn man überwiegend im Freiland die Abläufe in der Natur untersucht, dann erkennt man beinahe unausweichlich, dass die Arten nicht isoliert existieren, sondern dass es vielfältige Beziehungen gibt. Und schaut man gezielt danach, wird deutlich, wie viele von diesen mutualistischen, also symbiotischen Beziehungen es gibt.
 

Haben Sie ein Beispiel für solche Beobachtungen? 

Wenn Rehrudel draußen in der freien Landschaft stehen, kann man beobachten, dass sich Gänse oder Kraniche dazugesellen. Werden die Gänse oder Kraniche unruhig, etwa weil sich Menschen nähern, dann reagieren die Rehe, die davon noch nichts mitbekommen haben, auf das Verhalten der Vögel. Werden umgekehrt die Rehe unruhig, weil sie Witterung bekommen von einer Gefahr, dann reagieren auch die Vögel. So kann man sehen, wie ein einfaches Miteinander, das auf keinen besonderen Beziehungen beruht, sich einspielt und eine bestimmte Zeit im Herbst und Winter wirksam wird, während die Partner den großen Rest des Jahres über wieder völlig getrennt leben.
 

Das deckt sich mit einer anderen Beobachtung: Die Vögel im Garten tun sich in aller Regel gegenseitig nichts, da herrscht eine friedliche Koexistenz. Das liegt noch unterhalb der Ebene der Kooperation, steht aber in ebenso klarem Kontrast zur Vorstellung eines Kampfes ums Dasein. Fressen und Gefressenwerden erscheint eher als Ausnahme … 

… diese Beobachtung kann man wirklich überall machen. Sie wurde bisher recht einseitig nach dem Prinzip der sogenannten Nischentrennung interpretiert: Die Arten nischen sich demnach ein im Haushalt der Natur, sie nehmen gleichsam in diesem großen Gebäude ganz bestimmte Zimmer ein, in denen sie ihr eigenes Leben führen und ansonsten kaum Bezug aufeinander nehmen. Das ist aber eine sehr statische Vorstellung, die letztlich auf dem formalistischen Kenntnisstand des späten 19. Jahrhunderts beruht.  

Um es etwas plakativ und provokativ auszudrücken: Das war die Sicht des Hausvaters, der sein Haus mitsamt dem Gesinde in Ordnung hat. Doch diesen Hausvater findet man in der Natur nirgends. In keinem Ökosystem gibt es so etwas wie eine übergeordnete Instanz. Also bedarf es eines Arrangements der Beteiligten, damit dieses Miteinander funktioniert. Letztlich ist das nichts weiter als eine Konzentration darauf, worin die eigene Art am besten ist. Zum Beispiel brauchen die Kohlmeisen, die im Winter am Futterhaus dieselben Sonnenblumenkerne verzehren wie die Finken oder Spatzen, zur Fortpflanzungszeit, in der kleine Junge großzuziehen sind, bestimmte Insekten, die sie dank ihrer Technik von Blättern und Zweigen holen können, wozu die Spatzen oder Finken nicht in der Lage sind. Auf diese Weise - und das ist nur ein kleiner Einblick in die Komplexität der Verhältnisse - kommt eine Vielfalt zustande, die koexistieren, aber auch kooperieren kann. So haben viele dieser kleinen Vögel einen Warnruf, den andere Arten auch verstehen. Ihre Warnung kommt dann allen im Garten oder draußen im Wald zugute. Das sind Anfangsstadien einer Kooperation, die sich zu geradezu fantastischen Formen weiterentwickeln können wie bei den Honiganzeigern, die Menschen oder Honigdachse zu den Nestern der Bienen führen.
 

Erzählen Sie bitte! 

Diese Symbiose zwischen einem Vogel und Säugetieren - der Mensch hier als Säugetier mit eingeschlossen - möchte man auf den ersten Blick gar nicht glauben. Da ist irgendwo im afrikanischen Busch ein Mensch unterwegs oder ein Honigdachs, und plötzlich kommt ein unscheinbarer grauer Vogel und fliegt ganz auffällig vor dem Dachs, vor dem Menschen her. Er versucht offensichtlich, diese viel größeren, völlig andersgearteten Lebewesen in eine bestimmte Richtung zu leiten. Wir kennen das in anderer Weise vom sogenannten "Verleiten", wenn Vögel sich krank oder flügellahm stellen, um einen Fuchs, eine Katze oder einen Menschen von ihren Nestern oder Jungen wegzulocken. Honiganzeiger aber führen aktiv zu einem bestimmten Ort: dorthin nämlich, wo ein Bienenschwarm ein Nest mit einer Wabe voller Honig und Wachs angelegt hat. Für Menschen, für den Honigdachs ist das eine attraktive Beute, und für den Vogel bleiben am Ende die Bienenlarven und das Wachs, das er verdauen kann. Das heißt also: Das Ergebnis ist für alle Beteiligten attraktiv. Solche Symbiosen sind für Biologen eine Herausforderung: Wie kann so etwas zustande kommen? Wie ist es möglich, dass so unterschiedliche Lebewesen wie ein Honigdachs oder Menschen darauf reagieren?
 

Wie erklären Sie das? Entwickelt sich diese Kooperation vielleicht durch Selektion von Verhaltensweisen über die Zeit hinweg? 

Zweifellos. Honiganzeiger versuchen durchaus auch selbst, an das Wachs und die Bienenlarven zu kommen, und provozieren damit natürlich einen Angriff des Bienenschwarms. Man kann sich vorstellen, dass Honiganzeiger die Vorgehensweise von Honigdachsen beobachtet haben, die sehr rigoros die Nester zerstören und sich wenig um die Bienen scheren, oder das ähnliche Tun von Menschen - und dann angefangen haben, diese zu Bienennestern zu leiten.  

Hier kommt ein ganz wichtiger Punkt ins Spiel: Wir Menschen glauben, nur wir könnten aufgrund unserer Einsicht und der Kraft unseres Intellekts ein solches Geschehen nachvollziehen. Das ist aber eine überhebliche Einstellung. Sehr wohl können auch andere Lebewesen aus solchen Situationen die richtigen Schlüsse ziehen. Zum Beispiel: Man erntet im Garten Früchte, einige davon fallen runter, und schon sind Amseln zur Stelle, um daran teilzuhaben. Hat ein Jäger im Gebirge ein Reh oder eine Gämse erlegt, kommen sofort die Krähen oder die Kolkraben und sehen zu, ob etwas für sie abfällt.  

Es gibt ein breites Spektrum von Verhaltensweisen, die zeigen, dass viele Tiere sehr wohl beobachten, was andere Lebewesen tun, und daraus Schlüsse ziehen, ob dabei für sie etwas Positives entstehen könnte. Wie beim Honiganzeiger, der irgendwann begonnen hat, Dachs oder Mensch zu leiten. Sicher zunächst nur auf kurze Distanzen, dann aber über immer weitere Strecken.
 

Sind Honiganzeiger auf Dachs respektive Mensch angewiesen? 

Man kann die Frage auch umdrehen: Was würde passieren, wenn es keine Honigdachse und keine Menschen mehr gäbe? Würden dann die Honiganzeiger verhungern? Das führt zu einer wichtigen Schlussfolgerung: Je enger die Symbiosen sind, desto wirkungsvoller sind sie für die Partner, aber auch umso gefährlicher für beide Beteiligten. Denn fällt einer von ihnen aus, wird der andere mitgerissen. Es gilt also, sich ein gewisses Maß an Selbständigkeit zu erhalten, damit im Notfall beide Partner ohne einander weiterleben können. Honiganzeiger können das. 

So ist es bei vielen Symbiosen: Beide Partner können auch allein weiterleben, aber nicht so gut. Das gilt für Pilze, die in Symbiose mit Baumwurzeln oder mit anderen Pflanzen leben, ebenso wie für die Algen und Pilze, die zusammen die Flechten bilden: Im Prinzip sind sie noch eigenständig in der Lage, zu leben - aber dieses noch ist wichtig. Denn ihr eigenständiges Leben ist nicht so gesichert, nicht so günstig wie das partnerschaftliche. Wie wir sehen, sind Symbiosen komplizierte und prekäre Konstellationen.
 

Es fällt auf, dass Sie in Ihrem Buch oft Formulierungen benutzen wie: "erst in neuerer Zeit", "erst durch neuere Forschungen" oder "die Indizien verdichten sich". Es sind aktuelle Forschungen, die den Lichtkegel von der Konkurrenz auf die Kooperation lenken? 

Was wir über Symbiosen wissen, schöpft sich vor allem aus den Erkenntnissen der letzten Jahrzehnte. Wir verfügen heute über Forschungsmethoden, die ein tieferes Eindringen in die wechselseitigen Beziehungen möglich machen. Zum Beispiel können wir heute mit unschädlichen radioaktiven Substanzen verhältnismäßig einfach nachweisen, dass Pflanzen, die mit Pilzen in Symbiose stehen, nicht nur bloß bestimmte Stoffe austauschen, wie man sich das früher vorgestellt hat, sondern gegenseitig auch ihr Wachsen und Gedeihen beeinflussen. Auch in der Beobachtung des Verhaltens eröffnen moderne optische Möglichkeiten neue Einsichten, weil man aus der Distanz beobachten kann, wo man früher zu nah hätte herangehen müssen und selbst als Störenfried wirksam geworden wäre.
 

Sie schreiben, dass diese neueren Erkenntnisse der biologischen Forschung unsere Vorstellungen vom Leben selbst revolutioniert haben. Sie sprechen von Symbiose als "Lebensprinzip". Welche Bedeutung haben Symbiosen in der Natur? 

Symbiosen haben in der Natur eine viel, viel größere Bedeutung, als uns bislang bewusst gewesen ist. Die Evolutionsbiologen sind inzwischen ziemlich sicher, dass die Zellen aller sogenannten höheren Organismen - also alle Pflanzen, alle Tiere und natürlich auch der Mensch - ein komplexes Gebilde aus symbiotischen Bestandteilen darstellen. Nehmen wir die Mitochondrien, die die Zellen komplexer Lebewesen mit Energie versorgen: Viele Forscher sind heute der Ansicht, und die Indizien verdichten sich zunehmend, dass die Mitochondrien einst frei lebende Bakterien waren. Ohne Mitochondrien aber könnten wir nicht existieren. Oder grüne Pflanzen: Deren grüne Körperchen, in denen das Chlorophyll steckt, sind mikroskopisch kleine Abkömmlinge von Algen, genauer von Cyanobakterien, die in der Lage sind, die Fotosynthese durchzuführen. Mit der Einbeziehung dieser Fähigkeit in eine Zelle entwickelten sich die Pflanzen. Mithilfe dieser Symbionten konnten sie sich eigenständig mit Nahrung versorgen, mit Licht, Wasser und Kohlendioxid Zucker aufbauen, also organische Substanz herstellen.  

Die ganze Pflanzenwelt ist, um das in einem Satz zu fassen, eine Symbiose. Die ganze Tierwelt einschließlich des Menschen ist eine Symbiose. Und manches deutet darauf hin, dass auch unsere Fortpflanzung auf einem symbiotischen Organismus, der vor Urzeiten in unsere Zellen eingedrungen ist, gründet: die beweglichen Schwanzfäden unserer Samenzellen. Das sind wohl ebenfalls Bakterienabkömmlinge, die mit ihren beweglichen Geißeln den Kern, in dem die männliche Erbsubstanz steckt, zur weiblichen Eizelle und diese zur Verschmelzung zu bringen. Also ist das ganze höhere Leben eine Symbiose.
 

Und Symbiosen sind wie gesagt Kooperationen? 

Das sind Kooperationen in bestem Sinne. All diese eingeschlossenen, früher selbständigen Organismen haben durch die Kooperation eine ungleich größere Vielfalt an Lebensmöglichkeiten und eine viel größere Dauerhaftigkeit ihrer Existenz erreicht, als das im eigenständigen Zustand möglich gewesen wäre. Die Kooperation bietet für alle Beteiligten einen immensen Vorteil. Um es zusammenzufassen: Ohne Symbiose gäbe es kein höheres, kein komplexes Leben.
 

Wie entwickeln sich Symbiosen? Sie schreiben am Beispiel der Entwicklung vom Wolf zum Hund, dass kein teleologisches Prinzip wirksam sein konnte, da das Ziel nicht bekannt war, nicht bekannt sein konnte. 

Die Vorstellung, dass Menschen bei der Züchtung des Hundes oder anderer Haustiere gezielt vorgegangen seien, schmeichelt zwar unserem eigenen Selbstbild, ist aber höchstwahrscheinlich völlig falsch. Denn erst wenn man das Ergebnis kennt oder diesem schon hinreichend nahe ist, kann man gezielt darauf hinzüchten. Zum Beginn der Wolf-Mensch-Partnerschaft in der Steinzeit konnte kein Mensch ahnen, was daraus Jahrtausende später in Gestalt des Hundes entstehen würde.
 

Welche Erklärung haben Sie? 

Sehr viel wahrscheinlicher ist, dass Wolfsrudel oder Gruppen von Wölfen allmählich anfingen, sich den Menschengruppen zu nähern, dann sich ihnen anzuschließen, weil es da immer was zu holen gab. Weil dort immer wieder Reste des Wildes, das die Steinzeitmenschen erlegt hatten, abfielen. Nach einigen Jahrtausenden engen Kontakts mit Menschengruppen begannen sich die Wölfe vielleicht an der Führung seitens der Menschen zu orientieren, wanderten mit ihnen mit, verteidigten ihr Menschenrudel dann auch gegen fremde Wölfe, wie das bei Wolfsrudeln untereinander üblich ist.  

Auf diese Weise kam eine immer engere Kooperation zustande, die - und das ist der entscheidende Punkt - dazu führte, dass Wölfe das Verhalten der Menschen immer besser, immer genauer zu beobachten und einzuschätzen lernten. Nicht die Menschen das der Wölfe, sondern die Wölfe das der Menschen! Sie erkannten die Absichten der Menschen und konnten sich damit so weit nähern, dass irgendwann im Laufe der sich entwickelnden Partnerschaft eine gezielte Züchtung möglich wurde. Das setzte die absolute Trennung von den wilden Artgenossen voraus; diese aber war erst möglich, als die Menschen sesshaft geworden waren und so etwas wie abgegrenztes Gebiet schaffen konnten.
 

Trennung, Abgrenzung, darum ging es auch vorhin bei der ökologischen Nische. Mir scheint dahinter ein grundlegenderes Prinzip zu stehen: Insofern als unsere Wissenschaften immer auf das Trennende schauen und versuchen, analytisch zu trennen, und weniger auf den Gesamtzusammenhang. Teilen Sie diese Beobachtung? 

Da haben Sie völlig recht. Die Analyse gilt als das Wesensmerkmal der Naturforschung. Durch die Zerlegung in Teile, die dann gezielt behandelt werden können, ist die Komplexität beherrschbar gemacht worden. Nach jeder Analyse muss man aber zur Synthese kommen. Es reicht nicht aus, Konzepte zu entwickeln, die trennen, die analysieren. Sondern wir müssen im Zusammenfügen die Aussagekraft der eigenen Analyse überprüfbar machen, um so unsere Schlussfolgerungen bestätigen zu können, oder aber, um sie zu korrigieren.  

Bei diesem Stand ist ein großer Teil der ökologischen Forschung angelangt, aber nicht unbedingt sehr weit fortgeschritten. Um es vorsichtig und zurückhaltend auszudrücken: Wir fangen an, zu verstehen, was die Analyseergebnisse bedeuten.
 

Dem läuft ja auch das Prinzip der Entwicklung von Wissenschaften zuwider: Je mehr ich spezialisiere, je mehr ich Fachbereiche habe, die ihr ganz spezifisches Wissen pflegen, desto weniger sind solche Synthesen über die Fachbereiche hinweg möglich. 

Es ist tatsächlich eine zentrale Krux dieser Spezialisierung, dass aufgrund allzu großen Detailwissens der Überblick nicht mehr herstellbar ist. Ein Beispiel: Das von Newton gefundene Gravitationsgesetz ist zweifellos richtig. Aber wie etwas genau fällt, ist in ungeheuer vielfältiger Weise von Außeneinflüssen abhängig. So lässt sich nicht voraussagen, wo exakt welche Regenmenge niedergehen wird, wenn sich Gewitterwolken aufbauen. Dabei ist das ein einfaches System, verglichen mit der lebendigen Natur, wo pausenlos vielfältige Rückkoppelungen stattfinden. Das Resultat ist, dass die Vorhersagequalität von hochgradig spezialisierten Einzeluntersuchungen in dem Maße abnimmt, in dem die Spezialisierung vorangetrieben wird. Manches, was unschärfer ermittelt wurde, hat eine bessere Anwendungsqualität als das, was äußerst genau ins Detail getrieben worden ist, dann aber in der Verallgemeinerung nicht funktioniert. Wir müssen den Mut haben, zu sagen: Das ist eine sinnvolle Verallgemeinerung, auch wenn sie im Detail falsch sein kann. Aber dann schauen wir nach, warum sie falsch ist, und können entsprechend korrigieren.
 

Über alle Spezialisierung hinweg halten sich in den Wissenschaften oftmals sehr langlebige und robuste Grundannahmen. Das Prinzip der Konkurrenz gehört dazu. Es dominierte ja nicht nur in der Biologie, sondern auch in der Ökonomie, Stichwort Homo oeconomicus. Sehen Sie diese Gemeinsamkeiten? 

Sie haben historisch eine gemeinsame Quelle: Als der Begriff der Ökologie definiert wurde, war damit gemeint - Ernst Haeckel hat das so ausgedrückt - "die Ökonomie der Natur". Es war dasselbe Denken: Alles hat ökonomisch abzulaufen. Nur so hat sich die Vorstellung eines gut funktionierenden Hauses der Natur als Metapher für das Naturgeschehen durchsetzen können. Tatsächlich ist das Haus der Natur aber ein Gebilde ohne Räume, ohne Wände, ohne Dach, ohne Fundament. Es ist ein völlig offenes Gebilde. Die Natur ist offen. Deswegen funktionieren im Haushalt der Natur keine deterministischen Programme. Und in der Ökonomie auch nicht.
 

Wobei sich die Ökonomie in ihrer Entstehung wiederum an der Physik orientiert hat.  

Die voreinsteinsche Physik verfolgte dasselbe Ziel: alles sauber, geschlossen, rational, absolutistisch erklären zu können. Mit der Einführung der Relativität in die Physik ist diese starre Haltung grundsätzlich infrage gestellt worden. Doch dem hinken alle übrigen Wissenschaften immer noch hinterher.  

So sind zum Beispiel viele Naturschützer und Ökologen der Meinung, der Naturhaushalt wäre von Natur aus stabil und müsse stabilisiert werden, wo er von den Menschen gestört wurde. Das ist eine absolut falsche Vorstellung! Es gibt keinen stabilen Zustand des Naturhaushaltes. Alles Leben lebt von Ungleichgewichten. Sobald das Leben ins Gleichgewicht mit der Natur kommt, ist es tot.
 

Was bedeutet das für das Verhältnis von Mensch und Natur? 

Die Vorstellung, dass wir scharf zwischen Mensch und Natur zu trennen haben, wird durchbrochen. Und damit auch dieses schreckliche Bild, das viele Naturschützer immer wieder zeichnen: dass der Mensch der Störenfried in der Natur sei. Ganz offensichtlich betrachten eine erstaunlich große Zahl von Tieren den Menschen nicht als den bösen Feind, sondern als eine attraktive Lebensform, die genauer zu beobachten, sich ihr anzunähern oder sich ihr anzuschließen lohnen könnte. Viele Vögel begreifen offenbar, dass der Mensch ihnen nichts antut und mit seinem Tun Nahrung schaffen kann. Eines der schönsten Ergebnisse dieser Koexistenz besteht darin, dass es nirgendwo eine so vielfältige Vogelwelt gibt wie in den Städten. Das zeigt, dass die Scheu vor dem Menschen nicht naturgegeben ist. Im Gegenteil: Wir sind attraktiv für andere Lebewesen! 

Würde man das in den Vordergrund rücken, dann wären auch die Aussichten auf ein Miteinander mit der lebendigen Vielfalt der Natur sehr viel besser, als dies in den düsteren Szenarien vieler Naturschützer zum Ausdruck kommt.
 

Das hieße, das Denken dieser Naturschützer wurzelt im Grunde in diesem überholten Konkurrenzprinzip? 

Es ist der Ausfluss dieses alten Konkurrenzprinzips, das der Geisteshaltung des späten 19. Jahrhunderts entstammt. Damals waren die eben entstandenen Nationalstaaten globale Konkurrenten, die ihre Überlegenheit gegenüber den anderen Staaten und gegenüber den unterentwickelten Völkern darstellen wollten. Dieses Konkurrenzdenken war die Grundlage für die Kolonialpolitik. In ähnlicher Weise wirkte die Phase des Kalten Krieges mit dem Gleichgewicht des Schreckens auf die Ökologie: Genau in dieser Zeit erlangte die Vorstellung vom Gleichgewicht im Naturhaushalt eine zentrale Position. Inzwischen wissen wir, dass beides zeitbedingte Denkmodelle sind, die wir relativieren müssen.  

Heute ist der Begriff des Anthropozäns ins Zentrum gerückt: die Menschenzeit. Anthropozän heißt aber nicht nur, dass der Mensch unauslöschliche Fußabdrücke hinterlässt und erdgeschichtlich damit ein neues Zeitalter einläutet. Es heißt auch, dass die Menschenwelt eine neue Form des Lebens auch für viele andere Lebewesen darstellt und erzeugen wird.
 


Das Interview haben wir telefonisch geführt.
 


Zitate


"Leben lebt nicht allein durch Konkurrenz, sondern auch - und oft viel besser - durch Kooperation." Josef H. Reichholf: Zusammenleben

"Erst in neuerer Zeit ist klar geworden, dass die Kooperation ein verbindendes Prinzip ist, das den darwinschen "Kampf ums Dasein", die Konkurrenz, relativiert." Josef H. Reichholf: Zusammenleben

"In keinem Ökosystem gibt es so etwas wie eine übergeordnete Instanz. Also bedarf es eines Arrangements der Beteiligten, damit dieses Miteinander funktioniert." Josef H. Reichholf: Zusammenleben

"Symbiosen haben in der Natur eine viel, viel größere Bedeutung, als uns bislang bewusst gewesen ist." Josef H. Reichholf: Zusammenleben

"Die ganze Pflanzenwelt ist eine Symbiose. Die ganze Tierwelt einschließlich des Menschen ist eine Symbiose. Das ganze höhere Leben ist eine Symbiose." Josef H. Reichholf: Zusammenleben

"Ohne Symbiose gäbe es kein höheres, kein komplexes Leben." Josef H. Reichholf: Zusammenleben

"Es gibt keinen stabilen Zustand des Naturhaushaltes. Alles Leben lebt von Ungleichgewichten. Sobald das Leben ins Gleichgewicht mit der Natur kommt, ist es tot." Josef H. Reichholf: Zusammenleben

"Die Scheu der Tiere vor dem Menschen ist nicht naturgegeben. Im Gegenteil: Wir sind attraktiv für andere Lebewesen!" Josef H. Reichholf: Zusammenleben

 

changeX 28.04.2017. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Zum Buch

: Symbiosen. Das erstaunliche Miteinander in der Natur. Verlag Matthes & Seitz, Reihe Naturkunden 35, Berlin 2017, 298 Seiten, mit zahlreichen farbigen Abbildungen, 38 Euro (D), ISBN 978-3-95757-366-7

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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