Sie lesen diesen Artikel kostenlos

Vielen Dank für Ihr Interesse! Sie rufen diesen Beitrag über einen Link auf, der Ihnen einen freien Zugang ermöglicht. Sonst sind die Beiträge auf changeX unseren Abonnenten vorbehalten, die mit ihrem Abo zur Finanzierung unserer Arbeit beitragen.
Wie Sie changeX nutzen können, erfahren Sie hier: Über uns
Wir wünschen viel Spaß beim Lesen!

Wenn die Probleme nicht mehr passen

Wie Unternehmen lernen, sich wieder auf ihre eigentliche Arbeit zu konzentrieren - ein Gespräch mit Lars Vollmer
Interview: Winfried Kretschmer

Unternehmen waren höchst erfolgreich darin, externe Probleme in interne Routinen zu verwandeln. Die aber entwickelten ihr Eigenleben. Als Kennzahlen, Checklisten, Prozesse, Methoden, Ziele, Anweisungen, Hierarchien, Stellenbeschreibungen. Doch in einem volatilen Umfeld passen plötzlich die Probleme nicht mehr zu den Routinen. Die externen nicht zu den internen Referenzen, wie Lars Vollmer das nennt. Im Interview erläutert er, wie Unternehmen eine Organisationsform finden, die zu den Problemen passt, die sie zu lösen haben. Den Kundenproblemen.

p_vollmer_620.jpg

"Businesstheater" nennt Lars Vollmer das ganze Bohai, das Unternehmen um ihre internen Richtlinien, Verfahrensweisen, Methoden und Strukturen veranstalten. Nun hat der Unternehmer, Vortragsredner und Wirtschaftsbuchautor eine treffende Unterscheidung eingeführt: Interne Referenzen nennt er die Versatzstücke des Managementtheaters - in Abgrenzung zu der externen Referenz als der eigentlichen Aufgabenstellung jedes Unternehmens: den Kundenproblemen, die es zu lösen hat. Das war der Kern seines Impulses im Musterbrecher-Express 2018. Danach haben wir das Thema im Interview eingefangen: im Obergeschoss eines Doppelstockwagens auf der Fahrt durch die bayerisch-schwäbische Herbstlandschaft. Gefehlt hat nur ein guter Kaffee. 

Lars Vollmer ist Unternehmer und Mitbegründer von intrinsify.me, dem offenen Thinktank für die neue Arbeitswelt und moderne Unternehmensführung. Er lehrt an mehreren Universitäten und Instituten und ist gefragter Redner auf internationalen Kongressen und Unternehmensveranstaltungen. Er spielt Jazzpiano, liebt erstklassigen Kaffee und lebt in Barcelona.
 

Lars, bitte sag uns: Was ist los in Unternehmen? 

Kurios ist es (lacht). Mein Eindruck ist, dass sich zunehmend mehr Tätigkeiten, die in Unternehmen betrieben werden, nicht mehr um die eigentliche Wertschöpfung drehen, sondern vornehmlich dem Erhalt des Systems dienen und der Erfüllung selbst gesteckter Normative. Das ist aufseiten der althergebrachten Unternehmen aus dem Industriezeitalter die Erfüllung irgendwelcher Kennzahlenträume und in der schönen neuen Welt der New-Work-Betriebe die Erfüllung irgendwelcher Agilitäts- oder Augenhöhe-Normen. Damit beschäftigt man sich, anstatt zu arbeiten, und verliert dabei den Blick für die eigentlichen Probleme.
 

Das nennst du Businesstheater. Businesstheater ist das, was auf der Vorderbühne aufgeführt wird? 

Ja, und zwar immer dann, wenn die Organisation mit Problemen konfrontiert wird, die sie nicht kennt. Die neu für sie sind. Wenn die festgelegten Prozesse und Praktiken nicht zu den Problemen passen, dann wird Businesstheater aufgeführt. Dann sehen sich die Menschen in Organisationen regelrecht dazu genötigt, Konformitätsansprüchen zu genügen, sich also Regeln und Prozessen unterzuordnen und zu zeigen, dass sie gute, zuverlässige Mitarbeiter sind. Auf der anderen Seite aber spüren sie, dass so die Probleme nicht zu lösen sind. In solchen Situationen sind sie gezwungen, zu taktieren, und finden sich plötzlich in einer Art Schauspiel wieder. Indem sie zum Beispiel im formalen Meeting vorgeben, nach definierten Prozessen zu arbeiten, wenn das Meeting vorbei ist, aber eine andere Lösung suchen, um das Problem irgendwie vom Tisch zu kriegen. Wohlgemerkt im Sinne des Unternehmens. Das ist dann die Arbeit auf der Hinterbühne. Auf der Vorderbühne wird Konformität gespielt, auf der Hinterbühne wird versucht, das echte Problem zu lösen.
 

Wobei auf der Vorderbühne alles im Rahmen des Organigramms passiert … 

… ja …
 

… und auf der Hinterbühne dann die Beziehungen ins Spiel kommen? 

Genau, dann kommt die informelle Organisation, die immer besteht - auch in jeder traditionellen Organisation -, zum Tragen: Wer kennt wen? Wer ist anerkannt? Wer besitzt Ansehen, wer nicht? All das, was in Organigrammen nicht beschrieben werden kann, gewinnt dann an Bedeutung. Und dann gehen alle zu "Dieter" oder zu "Hannelore", die zumeist passende Ideen beisteuern können. Sie sind so etwas wie "Spinnen im Netz", informell sehr gut vernetzt. Dort geht man hin, wenn die Prozesse nicht zum Problem passen und man sich eine gute Idee erhofft. Die haben Dieter und Hannelore - nicht immer, aber häufiger als andere.
 

Es zählt also das interne Wissen: Wer hat schon mal ein ähnliches Problem gelöst, wer war schon mal mit so was konfrontiert? Und das läuft dann quer zu den Hierarchien. 

Genau. Wobei ich es nicht Wissen nennen möchte, denn das könnte man ja aufschreiben und in den zumeist albernen Talent-Management-Programmen verwerten. Es sind vielmehr Ideen, die sich nicht von den Akteuren trennen lassen. Und Ideen halten sich nicht an formalen Hierarchien, sie formen ein eigenes informelles Netzwerk. In Organisationen weiß meist fast jeder, wer wichtig ist für bestimmte Themengebiete. Das sind dann die Leute, die immer in allen Projekten mit drin sind. Jeder möchte die in seinen Projekten haben, weil er weiß: Der hat so viel Verständnis für unser Geschäft und so viel Gespür für die Technik, die IT oder den Markt, den muss ich in meinem Team haben. Diese Spinnen im Netz können selbstredend auch sehr introvertierte Menschen sein, die das ganze große Business-Tamtam in Meetings eher zurückhaltend über sich ergehen lassen, im dicht gefüllten Einzelbüro aber später viel Ansehen genießen.
 

Diese Konstellation, dass das, was an Prozessen oder an Routinen vorgesehen ist, nicht mehr zu den Problemen passt, tritt vermutlich umso häufiger auf, je komplexer und je volatiler das Umfeld wird? 

Das spüren natürlich auch die Unternehmen. Und das Management reagiert meist darauf, indem es noch mehr Prozesse ansetzt, weil es ja glaubt, dass sich Unternehmen über Prozesse und Routinen steuern lassen. Aus der Managementsicht sieht ein Problem häufig so aus: Etwas hat nicht funktioniert oder die Ergebnisse sind nicht so wie gehofft, eben weil wieder jemand etwas anders gemacht hat, als es aufgeschrieben war. Weil der seine Arbeit nicht richtig gemacht und sich nicht diszipliniert an die Prozesse gehalten hat! Dann heißt es: "Arbeite bitte sauberer, so wie wir es dir sagen, dann werden auch die Ergebnisse wieder besser!" Und gerne sattelt man noch ein System drauf, das den Mitarbeiter noch dichter am Zügel hält. Aus dessen Sicht sieht das aber so aus: "Jetzt kommt das Management schon wieder mit was Neuem, wo doch das Bisherige schon nicht zu dem Problem passt!" So entsteht gegenseitiges Misstrauen. Dann werden die Probleme personifiziert. Dann wird der Chef dafür verantwortlich gemacht, der blöde Mitarbeiter oder gar die angebliche Lähmschicht. Dabei liegt das Problem im Organisationssystem und fast nie in den handelnden Akteuren.
 

Dieses Businesstheater dreht sich also um Dinge, die die Organisation selbst hervorgebracht hat - Kennzahlen, Prozesse, Leitlinien, Ziele. Das nennst du interne Referenz in Abgrenzung zu externer Referenz. Kannst du diese Unterscheidung erläutern? Was ist interne Referenz, was ist externe Referenz? 

Um erst einmal den Begriff "Referenz" in Erinnerung zu rufen: Jeder Mensch referenziert sein Verhalten immer zu dem Kontext, in dem er sich bewegt. Er schaut also: Was wird gerade von mir erwartet? Wie verhalten sich andere? Was ist in einem bestimmten Kontext passend, was eher unanständig? So beobachten wir Menschen ständig, was sich gehört und was nicht. Das sind die Referenzen, nach denen wir agieren. Natürlich auch wenn wir rebellieren. 

Entsprechend gibt es in einem Unternehmen Referenzen, die von außen an die Organisation herangetragen werden. Die kann sich das Unternehmen nicht aussuchen. Es muss Probleme lösen, die von außen kommen, und das tun Unternehmen ja auch. Gleichzeitig haben sich im Verlauf der industriellen Entwicklung in den meisten Unternehmen interne Referenzen als Übersetzung der externen Referenzen herausgebildet. Die ganzen Kundenwünsche, Wettbewerbsentwicklungen, Marktentwicklungen, Gesetzesentwicklungen, diese ganzen externen Referenzen wurden übersetzt in interne Referenzen: in Checklisten, in Prozesse, in Methoden, Ziele, Kennzahlen, Anweisungen, in Hierarchien und Stellenbeschreibungen. Für die Mitarbeiter lautet die Ansage: Wenn du dich diszipliniert und sorgfältig an all das hältst, dann - und das ist die entscheidende und heute leider fehlleitende Kausalität -, dann werden wir genau das Richtige für den Kunden tun.
 

… fehlleitend weil? 

Weil das nur so lange funktioniert, wie sich die externen Referenzen nicht häufig oder sprungartig ändern, sondern nur langsam. Dann lässt sich dieser Übersetzungsprozess immer mal wieder abgleichen, und dann passen die internen Referenzen auch so einigermaßen gut zu den externen. Aber wenn das Umfeld auf einmal dynamisch wird, komplex wird und überraschungsreich, dann passen diese Referenzen nicht mehr zueinander. Dann muss man zum einen viel häufiger und viel mehr Übersetzungsarbeit leisten, was meist eine starke Überlastung der Führungskräfte nach sich zieht - deswegen hocken die ja auch ständig in Meetings und haben kilometerlange E-Mail-Eingangsfächer. Zum anderen sind die Mitarbeiter immer wieder Situationen ausgesetzt, wo die Anweisung, die Checkliste, das Ziel gar nicht zum Problem passt. Das bringt diese Schizophrenie hervor und zwingt alle Akteure in das Businesstheater, weil man ja das System erhalten will. 

Die Organisation muss sich immer wieder vorführen, wie sie eigentlich organisiert ist. Sie will sich immer vergewissern, wo die Macht ist. Früher konnte man das noch mit dem Chefparkplatz, drei Vorzimmerdamen und mit dem Eckbüro demonstrieren, heute geht das so nicht mehr. Heute braucht es andere Mechanismen, mit denen sich die Organisation vorführt, wo die Macht ist. So erkennt man die Chefs daran, dass sie zu spät zum Meeting kommen - weil nicht jeder zu spät zum Meeting kommen darf. So lobt der Chef den Mitarbeiter (manche behaupten: zu selten) - weil der Mitarbeiter nicht den Chef loben kann. So zeigt sich in der Organisation, wo oben und unten ist. Das ist ein ganz typischer systemerhaltender Mechanismus.
 

Aber im Grunde war es doch eine großartige Leistung in der Managemententwicklung, die Umwelt so berechenbar zu machen, dass sie sich in Checklisten abbilden ließ. 

Es ist eine große Leistung, allerdings war es schon immer eine Illusion. Die Illusion, dass die internen Referenzen sauber und präzise genug die externe Referenz abbilden können. Nur weil kein Wettbewerber da war, der es besser gemacht hat, haben die meisten überlebt. Jetzt aber, wo die Märkte enger und dichter werden, spürt man diese Illusion allerorten. Diese Unmöglichkeit der Übersetzung wird jetzt deutlich. Steuerung, um es auf die Spitze zu treiben, war schon immer eine Illusion im komplexen System. Aber erst jetzt wird sie zum Problem.
 

Es ging ja lange genug gut … 

… wenn die Welt auf Schienen fährt, um die Metapher des Zugs zu benutzen, dann funktioniert so was. Aber sobald wir die Schienen verlassen und uns frei bewegen können, und der Wettbewerber eben auch, dann wird es schwierig.
 

Man könnte sagen: Es hat funktioniert, solange das Auto jede Farbe haben konnte, Hauptsache, es war schwarz. Aber das erste Auto, das in einer anderen Farbe vom Band lief, war der Beginn der Ausdifferenzierung von Kundenwünschen, die zu der heute nicht mehr kalkulierbaren Situation geführt hat? 

Ja, sehr, sehr gut. Und da es mit den technischen Möglichkeiten heute immer leichter wird, bestehende Geschäftsmodelle anzugreifen, entstehen diese Überraschungen in viel, viel größerer Zahl. Es gibt die schöne Analogie mit dem Popcorn. Die Maiskörner liegen auf dem Boden der Pfanne alles ist stabil, alles ist ruhig. Die Temperatur steigt, und bei 84 Grad hört man ein einzelnes, kurzes "Plopp". Kurz danach noch eins. Erst eine Minute später rattert es überall. Es ist die große Gefahr, zu glauben, man habe alles unter Kontrolle. Ich behaupte: Nein, unter Kontrolle hat das keiner.
 

Hinzu kommt, dass die Ausdifferenzierung von Kundenwünschen ja nur ein Phänomen ist. Da ist die volatile Marktentwicklung insgesamt, da sind neue Technologien und neue Märkte, von den instabilen politischen Bedingungen in einer multipolaren Welt ganz zu schweigen … 

… die Globalisierung, die bewirkt, dass immer mehr Wettbewerber dazukommen. Es gibt also viele Faktoren. Abstrakt gesehen ist es die Anzahl der Überraschungen, und im Detail sind es die Punkte, die du gerade genannt hast.
 

"Anzahl der Überraschungen" ist ein schönes Bild. Was heißt das nun konkret? Wir haben interne Referenzen, um die sich das Businesstheater dreht. Wir haben externe Referenzen, die nicht mehr so richtig mit den vorgegebenen Mitteln bearbeitet werden können, weil die Referenzen nicht mehr so richtig zu den Problemen passen. Wie können Unternehmen damit umgehen? 

Vor Blaupausen sollten wir uns schützen. Aber wichtig ist erst mal die Erkenntnis dieser Zusammenhänge an sich. Die meisten Führungskräfte sind mit der klassischen Managementlehre aufgewachsen und haben damit Erfolg gehabt. Das heißt, sie trauen dieser Managementdenke sehr viel zu. Es muss also erst mal die Erkenntnis reifen, wie die Zusammenhänge sind. Aber es wäre der falsche Weg, irgendwelchen neuen Blaupausen auf den Leim zu gehen, die wieder nur zu einer neuen internen Referenz werden. Etwa: "Jetzt müssen wir ganz schnell agil werden! Dann sind wir gut."
 

Agil als neue Blaupause also nicht. Sondern? 

Ich glaube, der Schlüssel ist die Frage: Was hast du für ein Problem zu lösen? Das ist die externe Referenz. Welche Wettbewerbsbedingungen kommen auf dich zu? Sind die Wettbewerber einfach nur schneller oder sind sie kostengünstiger? Sind sie flexibler und nicht so statisch wie du oder einfach nur international aufgestellt? Also klären: Was genau ist das Problem auf der externen Seite, das es zu lösen gilt? Und dann die Frage stellen: Wie muss unsere Organisation aussehen, um dieses spezifische individuelle Problem zu lösen? Das Ergebnis von alldem können wir dann gerne "agil" nennen. Kurzum: den Blick auf die externen Referenzen richten. Und die internen Referenzen runterfahren: die alten - sowie die ganzen neuen Managementmoden erst gar nicht zu neuen internen Referenzen werden lassen …
 

… Working Out Loud, Feelgood und so weiter? 

Ja, auch diese und andere Praktiken tragen in sich die Gefahr, zu internen Referenzen zu werden. Alle geben sich dann große Mühe, einer neuen Norm gerecht zu werden, aber der Wettbewerber hat plötzlich die besseren Ideen und die Nase vorn.
 

Es heißt: "Profis trainieren, Amateure haben das nicht nötig." Muss man nicht auch eine gute Zusammenarbeit trainieren? 

Selbstverständlich. Hier herrscht sicherlich auch großer Nachholbedarf in vielen Unternehmen. Und wie im Sport ist die disziplinierte und reflexionsreiche Praxis, also das Punktspiel selbst und dessen Aufarbeitung, das beste Training.
 

Sieht man Unternehmen an, ob sie auf einem guten Weg sind? 

Ich glaube schon. Wenn man Unternehmen beobachtet, die sich mit den dynamischen Märkten ganz geschmeidig, fast lustvoll auseinandersetzen, dann erkennt man ein Muster: dass diese Unternehmen meist ihre funktionale Teilung weitestgehend aufheben und in Mannschaften denken - also in funktional integrierten Teams, die sich eben der Lösung von Kundenproblemen verschrieben haben. Und dass die Teams meistens ohne formale Macht agieren, was wiederum nur eine interne Referenz wäre. 

Das nächste Prinzip: Diese Unternehmen haben verstanden, dass in einem komplexen Umfeld Leistung nichts Additives ist, sondern nur durch Passung der Menschen zueinander entsteht. Deshalb sind solche Teams ganz fragile Gebilde, aus denen man nicht beliebig Mitarbeiter ein- oder auswechseln kann. 

Unternehmen, die das spüren, gibt es viele. Diese Unternehmen versuchen nicht, mit der bestehenden Organisationsform etwas anderes zu tun, sondern sie passen ihre Organisationsform an. Diese neue Organisationsform besteht dann eben aus Teams, die zuallererst dem Kunden verpflichtet sind und nicht irgendwelchen Kennzahlen. Die auf fast alle Planungsriten verzichten und darauf setzen, Praktiken einzuüben, sich zu trainieren, sich vorzubereiten auf die komplexe Umwelt, statt sich in Planungen zu verheddern. Daraus würde ich keine Regeln ableiten wollen, aber doch so etwas wie Gestaltungsprinzipien, an denen man sich orientieren kann. Die Maxime bleibt immer die Befriedigung der externen Referenz.
 

Wenn ein Unternehmen dem folgt, die alten internen Referenzen über Bord wirft und darauf achtet, keine neuen internen Referenzen aufzubauen, dann unterläuft es im Grunde die Arbeit derjenigen, die dafür zuständig sind, externe Referenzen in interne Referenzen zu verwandeln. 

Ja, ganz genau.
 

Das wäre das Ende von Management? 

Ja. Es gibt sogar Stimmen, die in dieser Radikalität propagieren, dass Management als Sozialmechanik vollständig aufgelöst werden müsse. De facto aber gibt es in solchen Unternehmen immer noch Personen, die sich der Aufgaben annehmen, die man typischerweise Managern zuschreibt. Menschen, die Ideen entwickeln, und diese Ideen - manche nennen die auch hochtrabend "Strategie" - versuchen, Realität werden zu lassen. Denen muss man nicht mehr den Namen Manager geben. Diese Rolle ist nicht mehr nötig. Die Menschen aber sehr wohl, denn sie sind meistens Ideenträger und sind sehr, sehr wichtig. Aber diese Funktion, die kann weg.
 

Aber wer kümmert sich dann um die externen Referenzen? 

Wenn Mannschaften entstehen, die keine internen Referenzen haben und Kundenprobleme lösen müssen, entwickeln sie automatisch den Blick auf die externe Referenz. Sonst kriegen sie keine Orientierung für ihre Zusammenarbeit. Wenn intern nichts mehr im Wege steht, was ihnen sagt, was sie tun sollen, dann richtet sich der Blick automatisch auf die Frage: Was müssen wir tun, um Kunden zufriedenzustellen? Denn die Aufgabe, wirtschaftlich zu agieren, den Kunden zufrieden zu machen, besser zu sein als der Wettbewerber, all das bleibt ja bestehen. Es braucht auch keine Manager, um den Menschen diese Ziele vorzugeben. Denn das ist trivial, das wissen alle. Genau das lässt sich wunderschön beobachten: Wenn für diese Teams die internen Referenzen wegfallen, dreht sich ihr Blick plötzlich nach außen. Das heißt keinesfalls, dass sie alles richtig machen und dass sie immer erfolgreich sind. Aber sie können sich jetzt wieder auf den Markt konzentrieren.
 

Man könnte sagen, die Kundenorientierung wird quasi ins Unternehmen hineingeholt? 

Es ist nicht mehr das Management, das steuert. Sondern der Markt steuert das Unternehmen. Übrigens ist Lean Management fälschlich so verstanden worden, dass es darum gehe, den Kunden in den Mittelpunkt des Denkens zu bringen. Aber das ist so unkonkret, so "fluffy", dass man damit nichts anfangen konnte. Gemeint ist: Richte deine Teams so aus, dass sie Kundenprobleme lösen. Und das muss man Menschen nicht beibringen, das können sie.
 

Das wäre dann das Bild eines kugelrunden Unternehmens, an dessen äußerem Rand die Menschen mit Kontakt zum Kunden agieren, wohingegen die internen Funktionen im Zentrum Dienstleister sind für diejenigen, die sich auf die externe Referenz konzentrieren. 

Perfekt ausgedrückt. Aber sie dürfen eben nicht intern steuern. Wenn ich im Gespräch mit einem klassischen Konzernvertreter so ein Bild entwerfe, dann erwidert der häufig: "Das kenne ich, das sind unsere Profitcenter!" Nein, nein, das ist vollkommen andersherum! Denn Profitcenter werden gesteuert von der Zentrale. Die kriegen Planzahlen, die kriegen Marketingpläne, die sie erfüllen müssen, die kriegen tausend Kennzahlen, die sie nach innen reporten müssen. Da steuert also das Zentrum die Marktzellen. Das Modell, das wir eben diskutiert haben, dreht das auf den Kopf: Gesteuert werden die Zellen nur vom Markt. Sie sind allein der Wirtschaftlichkeit und der Kundenzufriedenheit verpflichtet, nicht den Zahlenwünschen irgendeiner internen Stelle.
 

Ist das nicht doch eine Blaupause, nur eben kugelrund statt pyramidenförmig? 

Bitte nicht. Jedes Unternehmen hat auch Aufgaben zu lösen, die nicht dieser hohen Dynamik unterworfen sind. Die Regelbetriebe. Oft sind Probleme zu lösen, die bereits x-mal gelöst worden sind, für die es bereits Wissen gibt im Unternehmen. Solche Aufgaben kann man nach wie vor relativ traditionell organisieren. Wenn man schon weiß, wie der beste Prozess abläuft, und die Umgebungsbedingungen auch relativ konstant sind, warum sollte man dann einen Workshop machen, um Ideen zu kreieren? Das wäre unwirtschaftlich. 

Nehmen wir die Buchhaltung. Ein von jedem Unternehmen zwingend zu lösendes Problem, das zumeist nicht sehr stark von Überraschungen belästigt wird. Ab und zu gibt es Gesetzesänderungen oder besondere Abrechnungskonstellationen, aber zumeist nicht täglich. Es gibt Routinen, die man erlernen kann, und die sind immer wieder gleich. Ein Bewirtungsbeleg wird in Firma X eben auf ein ganz bestimmtes Konto gebucht. Und immer auf dieses. Das lässt sich tayloristisch organisieren. 

Und das wäre die Antwort auf die Frage: Meine Vorstellung von einer Organisation der Zukunft ist, dass die einer intelligenten Trennung dieser beiden Wertschöpfungsarten folgt. Es geht um ein Sowohl-als-auch. Nicht darum, das ganze Alte über Bord zu werfen und alles neu zu machen. Es geht um eine intelligente Trennung: Da, wo es behäbig, langsam, statisch zugeht und es in hohem Maße auf Effizienz ankommt, da hilft uns immer noch das Denken in traditionellen tayloristischen Strukturen. Aber in den Aufgabengebieten, die mit Überraschungen konfrontiert sind, wo es eben kein Wissen über die richtige Problemlösung gibt, da stört diese alte Organisationsform nur. Jetzt darf man nur nicht denken, dass diese organisatorische Trennung klassischen Abteilungsgrenzen folgt. Das tut sie leider nicht, sie durchkreuzt meistens quer die Abteilungen.
 

Die Organisation der Zukunft wäre also eine heterogene Struktur, von der nicht alle Aufgabengebiete gleich gestrickt sind? Weil, um beim Beispiel zu bleiben, eine agile Rechnungsprüfung relativ wenig Sinn macht? 

Ja, ganz genau. Es braucht eine Differenzierung, ein Sowohl-als-auch. Wir müssen uns klarmachen: Wir werden weiterhin auch tayloristische Strukturen haben, es wird Steuerung geben. Dann entstehen in Organisationen auch unterschiedliche Kulturen, was vollkommen okay ist, weil die zu lösenden Probleme auch unterschiedlich sind. Das führt auch mal zu Spannungen, die man aushalten und moderieren lernt. Aber dass unterschiedliche Kulturen je nach Aufgabenfeld entstehen, finde ich sogar erstrebenswert.
 

"Tayloristische Struktur" - betrifft das nicht nur die Form der Organisation, sondern auch den alten Modus von Command and Control? Das befehlsförmige Anweisen passt wohl kaum in eine Arbeitswelt mit eigenständigen, selbstbewussten Menschen. 

Vermutlich verbindest du mit Command and Control eher die Form, die Stilistik. Da bin ich bei dir, die möchte ich auch nicht wiedersehen. Aber wenn in einem Kraftwerk beispielsweise ein kritischer Maschinenwert auf 90 ist, und jemand muss einen Hebel umlegen, sonst geht das Ding hoch, dann kann es ja nicht heißen: "Mach das bitte, wenn du Lust dazu hast oder ich dich dazu inspirieren konnte." Sondern da braucht es formale Macht, damit der Chef den Mitarbeiter anweisen kann: "Leg bitte den Hebel um!" Das kann er nett sagen, die Form ist natürlich wichtig. Aber dieses: Ich befehle es - Command - und ich sorge für Einhaltung und justiere im Zweifelsfall nach - Control -, ist bei solchen Aufgaben immer noch die richtige Steuerungsidee. Aber vom Stil her, glaube ich, können wir hier schon große Fortschritte verzeichnen. Künftig gerne noch mehr.
 

Das Interview haben wir in einem persönlichen Gespräch im Musterbrecher-Express geführt. Foto unten: Lars Vollmer im Musterbrecher-Express

p_vollmer_mbe2_620.jpg


Zitate


"Mein Eindruck ist, dass sich zunehmend mehr Tätigkeiten, die in Unternehmen betrieben werden, nicht mehr um die eigentliche Wertschöpfung drehen, sondern vornehmlich dem Erhalt des Systems dienen und der Erfüllung selbst gesteckter Normative." Lars Vollmer: Wenn die Probleme nicht mehr passen

"Wenn die festgelegten Prozesse und Praktiken nicht zu den Problemen passen, dann wird Businesstheater aufgeführt." Lars Vollmer: Wenn die Probleme nicht mehr passen

"Auf der Vorderbühne wird Konformität gespielt, auf der Hinterbühne wird versucht, das echte Problem zu lösen." Lars Vollmer: Wenn die Probleme nicht mehr passen

"Ideen halten sich nicht an formalen Hierarchien, sie formen ein eigenes informelles Netzwerk." Lars Vollmer: Wenn die Probleme nicht mehr passen

"Die Organisation muss sich immer wieder vorführen, wie sie eigentlich organisiert ist." Lars Vollmer: Wenn die Probleme nicht mehr passen

"Steuerung war schon immer eine Illusion im komplexen System. Aber jetzt wird sie zum Problem." Lars Vollmer: Wenn die Probleme nicht mehr passen

"Die neue Organisationsform besteht aus Teams, die zuallererst dem Kunden verpflichtet sind und nicht irgendwelchen Kennzahlen. Die auf fast alle Planungsriten verzichten und darauf setzen, Praktiken einzuüben, sich zu trainieren, sich vorzubereiten auf die komplexe Umwelt, statt sich in Planungen zu verheddern." Lars Vollmer: Wenn die Probleme nicht mehr passen

"Die Maxime bleibt immer die Befriedigung der externen Referenz." Lars Vollmer: Wenn die Probleme nicht mehr passen

"Wenn Mannschaften entstehen, die keine internen Referenzen haben und Kundenprobleme lösen müssen, entwickeln sie automatisch den Blick auf die externe Referenz." Lars Vollmer: Wenn die Probleme nicht mehr passen

"Richte deine Teams so aus, dass sie Kundenprobleme lösen. Und das muss man Menschen nicht beibringen, das können sie." Lars Vollmer: Wenn die Probleme nicht mehr passen

"Es ist nicht mehr das Management, das steuert. Sondern der Markt steuert das Unternehmen." Lars Vollmer: Wenn die Probleme nicht mehr passen

"Es geht um eine intelligente Trennung: Da, wo es behäbig, langsam, statisch zugeht und es in hohem Maße auf Effizienz ankommt, da hilft uns immer noch das Denken in traditionellen tayloristischen Strukturen. Aber in den Aufgabengebieten, die mit Überraschungen konfrontiert sind, wo es eben kein Wissen über die richtige Problemlösung gibt, da stört diese alte Organisationsform nur." Lars Vollmer: Wenn die Probleme nicht mehr passen

"Meine Vorstellung von einer Organisation der Zukunft ist, dass die einer intelligenten Trennung der Wertschöpfungsarten folgt. Es geht um ein Sowohl-als-auch." Lars Vollmer: Wenn die Probleme nicht mehr passen

 

changeX 07.11.2018. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

Artikeltools

PDF öffnen

Ausgewählte Beiträge zum Thema

Lernen auf Rädern

Der Musterbrecher-Express fährt wieder zum Bericht

Ohne Regeln von oben

Wie es gelingt, dass Menschen freiheitlich zusammenarbeiten - ein Essay von Lars Vollmer zum Essay

Reiseziel agil

Mit dem Sonderzug nach Agilistan - auf Fahrt mit dem Musterbrecher-Express zum Report

Das vierte M

Zurück an die Arbeit! - das neue Buch von Lars Vollmer zur Rezension

Ausgewählte Links zum Thema

Quellenangaben

Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

weitere Artikel des Autors

nach oben