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Es ist kompliziert

Quergelesen - Buchkolumne der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen
Sammelrezension: Hans Holzinger, Katharina Kiening, Edgar Göll

"Es ist kompliziert." Mit diesem Zitat aus einem der vorgestellten Bücher ließe sich auch die JBZ-Buchkolumne auf den Punkt bringen. Denn darin geht es um Krisen - der Welt, des Kapitalismus und überhaupt. Es geht um Erklärungen, die mindestens so kompliziert sind wie das zu Erklärende. Und nicht zuletzt geht es auch um die Zukunft. Und wie sie riecht und schmeckt. Ein Buchstreifzug durch wichtige Titel zur Zukunft und zum Zukunftsdiskurs.

Aus der aktuellen Ausgabe von Pro Zukunft, dem von der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen herausgegebenen vierteljährlich erscheinenden "Navigator durch die Zukunftspublikationen", haben wir eine Auswahl von Rezensionen interessanter Titel zusammengestellt: Katharina Kiening stellt Gewalt und Mitgefühl, das Opus Magnum von Robert Sapolsky, vor; Hans Holzinger widmet sich den Krisen der Welt und gibt Einblick in zwei neue Berichte des Club of Rome sowie in das neue Buch von Fabian Scheidler; Edgar Göll schließlich rezensiert ein Buch, das sich mit neuen methodischen Instrumenten den Erwartungen der Menschen hinsichtlich der Zukunft widmet: der "Vermächtnisstudie" Das Land, in dem wir leben wollen von Jutta Allmendinger.


Es ist kompliziert


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Robert Sapolsky, hauptsächlich Primatologe und Neurobiologe, hat sich seit Langem schon auch außerhalb des Universitätsbereichs einen Namen als Wissenschaftsautor gemacht. Gewalt und Mitgefühl. Die Biologie des menschlichen Verhaltens ist nun seine neueste Publikation. Hier schreibt der amerikanische Universitätsprofessor über Gewalt, Aggression und Konkurrenz und schlüsselt die multiplen Bezüge der zugrunde liegenden Verhaltensweisen und Impulse auf. Und er zeigt auch, was die Biologie über Zugehörigkeit, Kooperation, Versöhnung, Empathie und Altruismus lehrt. Zehn Jahre forschte und schrieb er für dieses beeindruckende Werk, das auf gut 1.000 Seiten mit Fakten, Wissen und profunder Analyse überreich gefüllt ist. Gepaart mit dem ihm eigenen humoristischen Schreibstil liefert Sapolsky einen hochinteressanten, amüsanten Wälzer, den er selbst mit folgenden Worten zusammenfasst: "Es ist kompliziert." 

Um das Sozialverhalten der Menschen in seiner Komplexität zu fassen - "Und da stehen wir wirklich vor einem fürchterlichen Durcheinander aus Neurochemie, Hormonen, Sinnesreizen, pränataler Umgebung, Früherfahrung, Genen, biologischer und kultureller Evolution, Umweltdruck und vielem mehr" -, betont Sapolsky die Notwendigkeit der Interdisziplinarität, denn ein multifaktorielles Phänomen darf nicht nur aus einer bestimmten Perspektive betrachtet werden. Indem er strukturiert den zu einer Tat führenden Zeitstrang zurückgeht, entwickelt Sapolsky eine verhaltenstechnische Erklärungstheorie, die mit einem neurobiologischen Ansatz beginnt und mit der Evolution des Verhaltens schließt: Was war nur eine Sekunde vor einer Tat? Welche Umwelteinflüsse musste das Nervensystem Sekunden bis Minuten zuvor verarbeiten? Welchen Einfluss hatten Hormone in den Stunden und Tagen zuvor? Was passierte vor Wochen, Monaten, Jahren, Jahrzehnten, Jahrhunderten, Jahrmillionen? 

So durchschreitet Sapolsky alle sich bedingenden und durchdringenden Fachrichtungen und komponiert ein Gesamtbild, das unter anderem Wir/Sie-Dichotomien, hierarchische Strukturen, religiöse Empfindungen und Moralvorstellungen integriert. Auch auf politische Einstellungen wird verwiesen, als Manifestation des intellektuellen und emotionalen Stils: "Wenn Sie wirklich die politische Haltung eines Menschen verstehen wollen, dann setzen Sie sich mit seinen kognitiven Bedingungen auseinander - wie groß seine Neigung zu schnellen Urteilen ist, wie er neue Bewertungen vornimmt und kognitive Dissonanzen löst. Noch wichtiger: Welche Gefühle hegt er gegenüber Neuem, Uneindeutigkeit, Empathie, Hygiene, Krankheit und Unbehagen? Ist er der Meinung, dass früher alles besser war, und macht ihm die Zukunft Angst?" Immer betont der Autor dabei, dass seine Aussagen für den Durchschnitt gelten, immer weist er auf die Bedeutung von Kontext, Veränderungspotenzial und die Gefahr vorschnellen Urteilens hin. Jedem, der ein allumfassendes Verständnis für das Verhalten von Individuen, Gruppen oder Staaten entwickeln möchte, ist dieses Buch zu empfehlen.


Neue Aufklärung für eine volle Welt


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Wir sind dran lautet der doppeldeutige Titel des neuen Berichts des Club of Rome, der unter Federführung von Ernst Ulrich von Weizsäcker und Anders Wijkman gemeinsam mit 32 weiteren Mitgliedern der Organisation zu deren 45-jährigem Bestehen erstellt wurde. Es geht rasant bergab, wenn die planetarische Zerstörung nicht gestoppt wird, lautet die eine Botschaft von Wir sind dran. Und die andere: Es braucht Veränderungen an vielen Stellen und in vielen Bereichen. Was auch heißt: Der notwendige Wandel geht uns alle an. 

Im ersten Teil des Berichts werden einmal mehr die aktuellen Herausforderungen benannt: Klimawandel, Artensterben, Bevölkerungswachstum und Urbanisierung, Landwirtschaft und Ernährung, ungleicher Handel, Digitalisierung und ihre ambivalenten Folgen und anderes mehr. Auffallend an der Aufzählung ist, dass neben ökologischen auch ökonomischen, sozialen und politischen Krisen breiter Stellenwert eingeräumt wird. Gesprochen wird von einer "verwirrten Welt", einer "Krise des globalen Kapitalismus", von einem aufsteigenden Populismus und der Unterhöhlung demokratischer Institutionen sowie von einer gefährlichen "Finanzialisierung" der Wirtschaft. Mit einer Vielzahl an Studien werden Krisentrends illustriert und Warnungen wissenschaftlich untermauert. 

Teil zwei des Berichts widmet sich - und das mag für den Club of Rome überraschen - kulturellen und philosophischen Fragen. Ausgehend vom Bild einer "vollen Welt", das der Ökonom und Co-Autor Herman Daly geprägt hat, fordert der Bericht eine "zweite Aufklärung", die die reduktionistische Weltsicht überwindet, sich der Erforschung komplexer Systeme widmet und statt linearen Wachstums eine "Philosophie der Balance" fördert. Neue Gleichgewichte müssten gefunden werden: zwischen Menschen und Natur, zwischen Kurz- und Langfristigkeit, zwischen Geschwindigkeit und Stabilität, Privatem und Öffentlichem, Frauen und Männern, Gleichheit und Leistungsanreizen. Mit Anleihen bei Denkern wie Fritjof Capra (Wendezeit) oder der Anthropologin Riane Eisler (The Real Wealth of Nations) wird im - laut Weizsäcker und Wijkman - "revolutionärsten Teil des Berichts" für ein holistisches anstelle des dichotomistischen Weltbilds geworben. 

Der dritte und umfangreichste Abschnitt schildert gelingende Ansätze einer "regenerativen Wirtschaft", einer "Circular Economy", einer naturangepassten Landwirtschaft, einer nachhaltigen Agrarpolitik sowie einer neuen Beziehung zwischen Stadt und Land ("Ecopolis"). Vorgestellt werden neue Ansätze der Entwicklungszusammenarbeit, etwa der in Indien tätigen Organisation "Development Alternatives", ebenso wie neue Wege der Ressourcenproduktivität, der Unternehmensführung oder des Investments. Auch der von Österreich ausgehende Ansatz einer "Gemeinwohlökonomie" wird mit einem eigenen Kapitel bedacht. Selbstverständlich nehmen politische Neuansätze breiten Raum ein, etwa das von Ernst Ulrich von Weizsäcker seit Langem propagierte Modell einer stufenweise steigenden Ressourcenbesteuerung oder der vom WBGU weiterentwickelte "Budgetansatz", der eine faire Verteilung der Klimaschutzmaßnahmen zwischen reichen und nachholenden Volkswirtschaften ermöglichen soll. Vorgeschlagen werden auch Maßnahmen zur Regulierung der Finanzmärkte wie die Wiedereinführung des Trennbankensystems, die drastische Erhöhung der Eigenkapitalquoten der Banken zur Eindämmung der Geldschöpfung oder eine schrittweise Abschreibung von Schulden, wo dies erforderlich ist. Das Modell eines Vollgeldes wird zumindest diskutiert. 

Nicht zuletzt versammelt der Club of Rome neue Ansätze, die zu einer Verbesserung der öffentlichen Kommunikation, der Stärkung von Zivilgesellschaft und Sozialkapital und der Demokratie führen soll(t)en. Verfahren wie Planungszellen oder die in Irland umgesetzten Bürgerversammlungen, in denen Bürger per Losentscheid zu ausgewählten Themen arbeiten, werden dabei direktdemokratischen Instrumenten mit Verweis auf die Populismusfalle der Vorzug gegeben. Zudem stellt der Bericht Ansätze für eine andere globale Steuerung vor, wie etwa den Global-Policy-Aktionsplan des World Future Council von Jakob von Uexküll, der vorbildhafte Gesetzgebungen auszeichnet, das Great-Transition-Modell von Paul Raskin oder das "Zusammenlebensmodell der Nationalstaaten" des Desertec-Initiators Gerhard Knies. 

Resümee: Wie schon der letzte Bericht von Jörgen Randers und dem derzeitigen Club-of-Rome-Generalsekretär Graeme Maxton Ein Prozent ist genug fordert auch dieser "Geburtstagsband" klare systemische Weichenstellungen. Die Publikation zeigt einmal mehr die Krisenphänomene der gegenwärtigen Weltentwicklung auf, bietet aber auch eine Fülle an Anregungen, was dagegen und für eine lebenswerte Welt getan werden kann. Es ist das Verdienst der Hauptautoren, all das gesammelt und geordnet zu haben. Dabei stehen wir mit den Veränderungen erst am Anfang. Folgerichtig endet das Buch mit einer Aufforderung an uns alle, weitere Ideen, aber auch kritische Einwände zu übermitteln. Hier die E-Mail-Adresse: comeonauthors@clubofrome.org. 


Resilienz und Tipping Points


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Ugo Bardi ist Chemiker und hat als Mitglied des Club of Rome mit seinem Bericht Der geplünderte Planet weit über seine Disziplin hinaus Aufmerksamkeit erlangt. In seiner neuen Publikation wendet auch er sich den Systemwissenschaften zu und erforscht an unterschiedlichen Beispielen den Zusammenbruch von komplexen Systemen. Genauer gesagt den Umstand, dass kontinuierlichem Wachstum bei Erreichen einer kritischen Grenze ein rascher Kollaps folgen könne. Was bereits der griechische Philosoph Seneca mit den Worten ausdrückte: "Das Wachstum schreitet langsam voran, während der Weg zum Ruin schnell verläuft." Daher der Titel Seneca-Effekt. 

Bardi geht diesem Prinzip des überraschenden Kollapses, wissenschaftlich erforscht im Konzept der "Tipping Points" und gut illustrierbar mit dem Bild der Lawine oder eines Bergsturzes, anhand unterschiedlicher Phänomene nach. Was aus der Physik bekannt sei, etwa das Platzen des Luftballons bei Erreichen einer bestimmten Größe oder - schlimmer - das Bersten eines Flugzeugs mit einem Materialfehler bei einer bestimmten Belastungsgrenze, das sei auch auf gesellschaftliche Systeme sowie das Ökosystem anzuwenden, so die Ausgangsthese des Autors. Dabei seien es nicht immer vordergründige Dinge, die zum Kollaps führten, erklärt der Autor an Beispielen aus der Geschichte. Das römische Imperium etwa ist an seiner ökonomischen und militärischen Überdehnung zugrunde gegangen. Der Auslöser könnte aber, so Bardi, in der Verknappung von Edelmetallen für die Münzgeldproduktion und in der Folge der nicht mehr gewährleisteten Bezahlung der Söldner gelegen haben, mit dem Effekt, dass deren Kampfmoral geschwächt wurde. Die große irische Hungersnot im 19. Jahrhundert wird mit der Ausbreitung der Kartoffelfäule begründet, doch gab es trotz Ernteausfällen genügend Kartoffeln, nur konnten sich die betroffenen Bauern diese nicht leisten, und es fehlte an Transportkapazitäten, die Lebensmittel dorthin zu bringen, wo sie benötigt wurden. Ein Beispiel, das auf die Hungerprobleme heute verweist, die nicht mit zu geringer Nahrungsmittelproduktion, sondern mit Marktversagen zusammenhängen. 

Am Beispiel der Leerfischung der Meere, der Zerstörung der Bienenpopulationen durch Pestizide mit dem Effekt, dass diese dann nicht mehr als Pflanzenbestäuber zur Verfügung stehen, sowie am Klimawandel mit seinen lauernden Tipping Points zeigt der Autor, wie komplexe Ökosysteme irreversibel zerstört und chaotische Wirkungen ausgelöst werden können. Die Verknappung der Ressourcen werde, so ein weiterer Befund von Bardi, nicht erst mit dem Versiegen der Vorkommen zum Problem, sondern mit der zunehmend teuren Förderung von Rohstoffen schlechterer Qualität. Die ökonomische Grenze zum möglichen Kollaps liege daher im sogenannten EROI, dem "Energy Return on Investment". 

Was ist zu tun? Bardi sieht mehrere Strategien. Eine liegt für ihn in der Erhöhung der Resilienz, also der Verringerung der Abhängigkeit von nicht beeinflussbaren Faktoren durch Autonomie und Vielfalt. Transition Towns nennt der Autor dabei als Beispiel. Ein anderer Weg liege jedoch darin, "kreativ zu kollabieren". Das bedeute, nicht mehr leistungsfähige Systeme, etwa die privat organisierte Automobilität in Städten, zusammenbrechen zu lassen und durch innovativere Ansätze zu ersetzen. Bardi denkt auch an einen "Seneca-Kollaps der Fossilindustrie" - die er als Segen für die Menschheit sieht. Doch der Übergang müsse gesteuert werden. Der Autor plädiert dafür, Restmengen fossiler Rohstoffe für nicht oder schwer substituierbare Prozesse zu horten. Ähnlich sei dies bei der Abkehr vom Wachstumsdenken. Resilienzstrukturen beziehungsweise Hebelwirkungen in der Wirtschaft sieht Bardi etwa in der Einführung von Regionalwährungen, in der Rückkehr zu periodischen Entschuldungen oder in der steuerlichen Abschöpfung überdimensionierter Vermögen. 

"Systeme neigen dazu, Potenziale mit höchstmöglicher Geschwindigkeit zu zerstreuen. Wenn das System einen Weg findet zu kollabieren, wird es das tun - auch mit der Folge eines (Seneca-)Ruins." Das schreibt der Autor auf einer der letzten Seiten des Buches. Und lässt die Leserin und den Leser mit einer umstrittenen und auch fatalistischen Sichtweise zurück, nicht zuletzt, wenn er folgende "Regeln" zum Besten gibt: "Meide Extreme" (Weg des Buddhisten), "Verzehre nicht dein Saatgut" (Weg des Sämanns) und "Mache Gebrauch von dem, was in deiner Macht liegt, und nimm den Rest gelassen hin" (Weg des Stoikers).


Chaos oder Zeitenwende?


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In Das Ende der Megamaschine hat Fabian Scheidler die 500-jährige Geschichte des Kapitalismus als Zusammenwirken von ökonomischer, politischer und militärischer Macht auf Kosten der Ausgeschlossenen aus einem nichteurozentristischen Blickwinkel beschrieben. In seinem neuen Buch Chaos. Das neue Zeitalter der Revolutionen widmet sich der Historiker, Autor, Theater- und Fernsehmacher den aktuellen Weltkrisen, und - was ihm nicht weniger gelingt - er zeigt Alternativen auf. Eine Zeit von Krisen kann Neuanfänge hervorbringen, eine Zeit von Umbrüchen kann zu einer von Aufbrüchen werden, so die Ausgangsthese von Scheidler. Die kapitalistische Wirtschaftsweise macht er dabei an zwei Dingen fest: dem permanenten Drang zur Expansion auf der Suche nach neuen Rohstoff-, Arbeits- und Absatzmärkten sowie - damit zusammenhängend - dem alleinigen Ziel, aus Geld noch mehr Geld zu machen. 

Scheidler registriert eine bedenkliche Ignoranz gegenüber den sich zuspitzenden Krisenphänomenen, allen voran dem Klimawandel und seinen Folgen sowie den Instabilitäten des Wirtschaftssystems. Den Hauptgrund sieht er in Lobbyinteressen der Reichen und ihrem zunehmenden Zugriff auf die Staatsapparate, was den notwendigen Wandel unterbinde. Krisen und Zusammenbrüche habe es immer gegeben, neu sei heute jedoch, dass die Entwicklung an planetare Grenzen stoße. Scheidler zufolge leben wir am Anfang "einer chaotischen Übergangsphase, die mindestens einige Jahrzehnte dauern wird und deren Ausgang völlig ungewiss ist". 

Ursachen für die "kollektive Realitätsverweigerung" sieht der Autor in der Entfremdung und Entwurzelung von immer mehr Menschen, in den "Grenzen der Lernfähigkeit", der Zunahme von Verschwörungstheorien und einer geschickten Ablenkung etwa durch das Hochspielen des Terrorismus. Die "globale Apartheid" werde hingenommen, weil ein allgemeiner Zukunftspessimismus Ressentiments und Nationalismus schüre. Scheidlers zentrale These lautet, dass die Wachstumskrise des globalen Kapitalismus nur mehr durch gigantische staatliche Förderungen ("Konzerne am Tropf") hinausgeschoben werde: "Subventionen, leistungslose Einkommen aus Eigentumsrechten und Aneignung durch Schulden. Diese Dreifaltigkeit der Tributökonomie wird immer wichtiger, je instabiler die Weltwirtschaft wird." 

Diese Tributzahlungen und die leistungslosen Einkommen zu stoppen, sei der entscheidende Hebel für den Systemwechsel, so Scheidler, weil über die Verwendung von Steuergeldern - zumindest theoretisch - die Bürger bestimmen. Die De-Konzentration von Vermögen durch ein anderes Steuersystem, die Neuordnung von Wohneigentum sowie die Weigerung, weiterhin Finanzinstitute zu retten, wären für Scheidler weitere Schritte, sich dem Tributsystem zu entziehen. Seine Überzeugung: "Eine wirksame Trennung von Staat und Kapital würde enorme Freiräume für andere, zukunftsfähigere Wirtschaftsformen schaffen." 

Wie diese aussehen könnten, beschreibt Scheidler im zweiten Teil des Buches, der mit "Reorganisation" überschrieben ist. Neue Unternehmensformen, eine Adaptierung des Eigentumsbegriffs, Ansätze wie die Gemeinwohlökonomie, eine Agrar- und Energiewende, aber auch Reformen in den Schulen, Universitäten und Medien werden dabei angesprochen. Mit "Gatekeepern" benennt der Autor schließlich jene Institutionen, die unser Denken und Wahrnehmen prägen. Sie zu verändern, der "Ausfilterung systemischer Fragen" entgegenzuwirken, unsere Vorstellungskraft zu erweitern und auch neue Formen der Demokratie und Beteiligung zu schaffen, werden ebenfalls zum Wandel beitragen, so der Autor. 

Wie andere auch spricht Scheidler von resilienten Strukturen, die sukzessive aufgebaut werden sollten, um den großen Crash zu verhindern. Denn: "Wenn der Ausstieg aus der Megamaschine bereits begonnen wird, während sie noch läuft, gibt es weit bessere Chancen für einen positiven Übergang." 

Zur globalen Dimension kehrt der Autor im abschließenden dritten Teil über "Chinas (Wieder-)Aufstieg und die Chancen einer neuen Friedensordnung" zurück. Scheidler beschreibt darin die nicht auf Expansion ausgerichtete Geschichte des chinesischen Reiches und die Hoffnung auf eine neue "euro-asiatische Sicherheitsarchitektur", die gemeinsam mit einer gewandelten USA zu einem kooperativen Weltsystem führen könnte. Auch wenn die Chancen darauf bisher nicht zum Besten stünden.


Wie ist es heute? Wie soll es werden?


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In diesem Buch geht es um "das Vermächtnis, das Heute und das Morgen", und zwar um die jeweiligen Befindlichkeiten und Vorstellungen in der Bevölkerung Deutschlands zu diesen drei Kategorien. Konzipiert und durchgeführt wurde die zugrunde liegende Studie vom Wissenschaftszentrum Berlin WZB, dem Meinungsforschungsinstitut infas und der Wochenzeitung Zeit im Jahr 2015. Befragt wurden 3.100 Menschen im Alter zwischen 14 und 80 Jahren in Deutschland. Das Buch beinhaltet auch die Ergebnisse einer 2016 erfolgten Wiederholungsbefragung. Es stellt eine vereinfachte Zusammenfassung der Gesamtstudie durch deren Leiterin, Jutta Allmendinger, dar (vom WZB separat veröffentlicht). Die Autorin bezeichnet es als "Lesebuch" sowie als "Vermächtnisstudie", weil es unter anderem darum geht, zu erfahren, welche Werte den Menschen wichtig sind, wie sie diese selbst leben und welche sie davon an die nächste Generation weitergeben möchten. 

Kurz gefasst lauten die gestellten Fragen: "Wie ist es heute?", "Wie soll es werden?", "Wie wird es sein?" Dieser zeitlich-subjektive Dreiklang wurde in durchschnittlich einstündigen Interviews erforscht. Und diese traditionelle Forschungsmethode wurde ergänzt durch Reaktionen und Erläuterungen der Menschen zu drei Arten von "Sinneseindrücken", denen sie ausgesetzt wurden: Riechen (vier Düfte), Fühlen (anfassen von Materialien) und Hören (Rhythmen). Dahinter stand die Erwartung, dass die Befragten ihre derzeitige Befindlichkeit/Lage sowie künftige Entwicklungen anders als nur kognitiv wahrnehmen und artikulieren würden. Dies scheint allerdings nur unzureichend gelungen, da es sich um äußerst subjektive Phänomene handelt, eben um Geschmackssachen, und um vage Interpretationen, wie zum Beispiel die Fragen "Was bedeutet es, wenn man den nachfolgenden Generationen einen ‚rosigen Duft‘ wünscht? Welche Zukunft erwartet man, wenn man glaubt, dass sie von einem ‚wechselhaften Rhythmus‘ geprägt sein wird?". 

Gleichwohl sollte in der Zukunftsforschung experimentiert werden und ist es legitim, derartige Sinnesangebote auch zu nutzen. Denn über die von den Menschen erwartete Zukunft heißt es etwa: "Hier hat der Duft die größte Aussagekraft" - und wenn man ihre Auswahl von Sinnesreizen für bestimmte Bereiche kenne, ließen sich deren Einstellungen voraussagen. Allerdings erfordert dies ein hohes Maß an Sensitivität und Klärung und dürfte mit knappen Dialogen - wie in dieser Studie - nicht angemessen zu bearbeiten sein. 

Mit dieser sehr aufwendigen Vermächtnisstudie werden Ergebnisse vorgelegt, mit denen frühere Studien zu Teilaspekten weitgehend bestätigt werden, hier aber in thematischen und zeitlichen Beziehungen beschreibbar und interpretierbar sind. So unterstreicht Allmendinger, dass künftig Bildung noch viel stärker zu fördern sei, fordert eine "Kultur der Weiterbildung" und schlägt "eine vorausschauende, strategische Qualifizierungspolitik" vor. Festgestellt wird, dass durch die Ereignisse der jüngsten Zeit (Flüchtlinge, Brexit et cetera) die der Politik zugesprochene Relevanz gestiegen sei. Es werde mehr erwartet, wenngleich nicht erhofft. Leider wird die Kluft zwischen geäußerten Idealen und Vermächtnissen sowie der gelebten beziehungsweise erwarteten Realität nur am Rande thematisiert. Denn das zugespitzte Fazit lautet: Wir Heutigen sind überfordert, wir schaffen es nicht, gemäß unseren Idealen zu leben, daher sollen künftige Generationen es machen. Hier wäre die Wechselwirkung mit gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen ein Fokus, der künftig intensiviert werden sollte - inklusive der erforderlichen Transformation zu Nachhaltigkeit. 


Zitate


"Wenn Sie wirklich die politische Haltung eines Menschen verstehen wollen, dann setzen Sie sich mit seinen kognitiven Bedingungen auseinander - wie groß seine Neigung zu schnellen Urteilen ist, wie er neue Bewertungen vornimmt und kognitive Dissonanzen löst. Noch wichtiger: Welche Gefühle hegt er gegenüber Neuem, Uneindeutigkeit, Empathie, Hygiene, Krankheit und Unbehagen? Ist er der Meinung, dass früher alles besser war, und macht ihm die Zukunft Angst?" Robert Sapolsky: Gewalt und Mitgefühl

"Das Wachstum schreitet langsam voran, während der Weg zum Ruin schnell verläuft." Seneca

"Systeme neigen dazu, Potenziale mit höchstmöglicher Geschwindigkeit zu zerstreuen. Wenn das System einen Weg findet zu kollabieren, wird es das tun." Udo Bardi: Der Seneca-Effekt

 

changeX 19.01.2018. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Zu den Büchern

: Das Land, in dem wir leben wollen. Wie die Deutschen sich ihre Zukunft vorstellen. Pantheon Verlag, München 2017, 272 Seiten, 16.99 Euro (D), ISBN 978-3-570-55347-3

Das Land, in dem wir leben wollen

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: Chaos. Chaos Das neue Zeitalter der Revolutionen. Promedia Verlag, Wien 2017, 238 Seiten, 17.90 Euro (D), ISBN 978-3-85371-426-3

Chaos

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: Der Seneca-Effekt. Warum Systeme kollabieren und wie wir damit umgehen können. oekom Verlag, München 2017, 312 Seiten, 25 Euro (D), ISBN 978-3-96060-010-9

Der Seneca-Effekt

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: Wir sind dran. Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen. Club of Rome: Der große Bericht. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2017, 394 Seiten, 24.99 Euro (D), ISBN 978-3-579-08693-4

Wir sind dran

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: Gewalt und Mitgefühl. Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Carl Hanser Verlag, München 2017, 1021 Seiten, 38 Euro (D), ISBN 978-3-446-25672-9

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Autor

Katharina Kiening, Hans Holzinger, Edgar Göll
Katharina Kiening, Hans Holzinger, Edgar Göll

Katharina Kiening ist freie Mitarbeiterin der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen in Salzburg, Hans Holzinger arbeitet dort als fester Mitarbeiter. Dr. Edgar Göll ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT) in Berlin. Die Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen (JBZ) in Salzburg versteht sich als Einrichtung einer kritischen und kreativen Zukunftsforschung. Nach der Stiftungserklärung Robert Jungks ist es ihr Auftrag, "mögliche, wahrscheinliche, gewünschte oder unerwünschte Zukünfte" in den Blick zu nehmen und der interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Engagiert in den Bereichen Bildung, Wissenschaft und Kultur und dabei regional, national und international aktiv, sind Zukunftsorientierung, Interdisziplinarität und Unabhängigkeit im Sinne der Prinzipien Robert Jungks für sie von zentraler Bedeutung. Die JBZ publiziert das vierteljährlich erscheinende Magazin Pro Zukunft, das sich als Radar für zukunftsrelevante Publikationen versteht, und organisiert Veranstaltungen und Tagungen.

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