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Nach der Hybris kommt hybrid

Erkenntnisse aus einer Entdeckungsreise
Report: Herbert Schober-Ehmer & Team

Ganz oben der Chef, der mehr weiß und deshalb bessere Entscheidungen trifft? Welche Anmaßung. In Unternehmen ist Wissen breit verteilt und nicht entlang der traditionellen Hierarchien. Innovative Unternehmen suchen deshalb nach einem neuen Verhältnis, nach einer neuen Verteilung von Rollen und Funktionen: Entscheiden, Organisieren, Steuern, Führen. Und kommen zu neuen, hybriden Modellen der Organisation. Sie nehmen, was passt. Und mixen nach Bedarf. Sowohl-als-auch statt "One size fits all".

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"Der Geschäftsführer kann bei uns natürlich überstimmt werden, er hat auch nur eine Stimme im Entscheidungsgremium." - "Wir haben die Abteilungen abgeschafft, denn die Wertschöpfung findet in Prozessteams statt." - "Dass sich die Teams in der Produktion selbst organisieren, ist selbstverständlich." - "Wir in der sogenannten Geschäftsführung tun gut daran, uns der Sicht der Mitarbeiter, die mit Kunden zu tun haben, schlicht zu unterwerfen - sonst wäre ja Kundenorientierung ein Quatsch." 

Diese Zitate stammen aus "stinknormalen", meist mittelständischen Unternehmen und nicht aus hippen Start-ups. Unternehmen, die grundlegende Dinge anders machen, sind keine verschwindende Minderheit mehr. Es sind nicht mehr nur ein paar Spinner (wie einige Pioniere genannt wurden) oder rein ethisch motivierte Unternehmer und Manager, die ihr Unternehmen anders führen und gestalten, als man es normalerweise erwartet. "Normal" bezieht sich hier auf das Vertraute und Gelernte, auf die Vorstellungen betriebswirtschaftlicher Organisationsmodelle des Scientific Management oder auf die so gut fundierte "heilige Ordnung" der Hierarchie. Die es anders machen, sind keine Aussteiger, sondern sie sind ökonomisch erfolgreich. Sie sind "Teil des Systems", mit zufriedenen Mitarbeitern und angstfreien Managern. Und sie sind meist recht innovativ - manche sind mit ihrem Portfolio Weltmarktführer.


Unternehmen, die es anders machen: Organisieren, Steuern, Führen


Solche neuen Wege, Unternehmen anders zu organisieren, führen bereits über das Experimentierstadium hinaus. Erste Konferenzen, Berichte in Medien, markante Buchtitel haben sie bekannt gemacht. Wir, eine Arbeitsgruppe um den Redmond Consulting Cluster in Kooperation mit changeX, wollten es genauer wissen und unmittelbar erfahren können. Genauer hieß für uns zu erkennen, zu verstehen, mit welchen neuen Annahmen und Prämissen in Unternehmen gesteuert, geführt, entschieden wird, die sich selbst als "strukturell innovativ" charakterisieren. Die als Pioniere neue Wege gehen. 

Es ging uns nicht darum, dem "alten" Paradigma der traditionellen Organisation das neue, bessere Paradigma der Selbstorganisation gegenüberzustellen. Sondern Voraussetzungen und Erfolge, aber auch Schwierigkeiten und Risiken dieser sozialen Innovationen zu erkunden. 15 Unternehmen, die sich schon öffentlich als anders "geoutet" hatten, konnten wir größtenteils besuchen und haben mit Geschäftsführern (denn diese muss es aus rechtlichen Gründen geben, auch wenn sie sich anders verstehen), mit Managern und Führungspersonen Interviews geführt (einige wenige telefonisch). Mit Menschen also, die für Steuerungsaufgaben oder Fachthemen verantwortlich sind. Auf dieser Grundlage haben wir versucht, Ähnlichkeiten, Muster und Unterschiede herauszuarbeiten. Auch wenn jedes dieser Unternehmen seine spezifischen Formen, seine Narrative entwickelt hat, konnten wir durchaus allgemeine Erkenntnisse ableiten. 

Es sind ganz unterschiedliche Unternehmen, die ihre Türen geöffnet und über ihre Erfahrungen reflektiert haben: vom Kleinbetrieb mit sieben Mitarbeitern bis zur etablierten Konzerntochter mit 5.900 Mitarbeitern, vom dreijährigen Newcomer auf dem Markt bis zum 50-jährigen Familienunternehmen. Verschiedenste Branchen sind vertreten: IT/Softwareerstellung, Einzelhandel, Maschinenbau, Technologie, Lebensmittelproduktion und -vertrieb, ein Reisebüro, ein Shared Service Center eines Global Player, eine städtische Kultur- und Sozialeinrichtung, das Werk eines Produktionsunternehmens. Etwa die Hälfte der beteiligten Unternehmen hat auch Standorte außerhalb des Heimatmarktes.  

So unterschiedlich diese Unternehmen auch sind, einige Entwicklungslinien haben sie alle gemeinsam.


Sowohl-als-auch: hybride Steuerung


Alle diese Unternehmen waren ursprünglich "klassisch" strukturiert. Sie unterschieden sich wahrscheinlich in Details, aber die Grundmuster waren ähnlich: Es gab funktionsbezogene Abteilungen, hierarchische Koordinationsmechanismen in Form der funktionalen Unterteilung nach Geschäftsführer, Abteilungsleiter, Teamleiter und Mitarbeiter, es gab mehr oder minder klare, auf Stellen bezogene Entscheidungskompetenzen, es gab zentrale Instanzen, die den dezentralen Einheiten erklärten, was deren Aufgaben sei. Das übliche - aus der funktionalen Gliederung abgeleitete - Silodenken; das Ober-sticht-Unter-Prinzip, Anweisungen, Appelle und eine Fülle von sogenannten Motivationstools fungierten als Elemente der Führung. Natürlich gab es Erfahrungen mit Change-Prozessen, mit Matrixstrukturen und Projektmanagement. Also alles, wie man es gelehrt bekam, wie man es verinnerlichte und nicht mehr hinterfragt in die Praxis umsetzte. Irgendwann jedoch stießen diese Unternehmen an diverse - auch ökonomische - Grenzen, die zwar von Unternehmen zu Unternehmen verschieden waren, die aber die Verantwortlichen veranlassten, das sichere BWL-Paradigma zu hinterfragen und mit neuen Strukturen und Prinzipien zu experimentieren, statt das Bestehende weiter zu optimieren. 

Wir charakterisieren das neue Muster, das sich zumindest bei diesen 15 Unternehmen als erfolgreich erwiesen hat, mit dem Begriff "Hybrid-Steuerung". Hybrid meint nichts anderes als etwas Gebündeltes, Gekreuztes oder Vermischtes. Das ist der Weg vom Entweder-oder zum Sowohl-als-auch, als Ausweg aus einem Dilemma. Die "Erfindung" der Matrixorganisation oder die Einführung von Projektstrukturen in die strikten Hierarchien der 1970er-Jahre waren solche Versuche und Konzepte, die aber letztlich das Primat hierarchischer Organisation mit von oben definierten Vorgaben nicht infrage gestellt haben. Das könnte heute anders sein. 

Die Unternehmenspioniere von heute entwickelten andere Gestaltungsprinzipien: ein gleichberechtigtes und gleichzeitiges Nebeneinander unterschiedlicher Strukturen und Formate der Steuerung, eine Mischung von Pragmatismus, engagierter Werteorientierung und Experimentierfreude. So entstanden und entstehen in den unterschiedlichen Unternehmen unterschiedliche Verknüpfungen von Bekanntem und Neuem: funktionale Hierarchie, Matrixstrukturen, Teamsteuerung, Varianten von Holacracy und soziokratischer Entscheidungsverfahren, Scrum, eine strikte Ausrichtung auf Prozesse oder die Koordination über "Kreise" bis hin zu radikaler Heterarchie. Aus diesen "Elementen" haben sich die Unternehmen ihre hybriden Strukturen individuell "gebastelt". Dabei ist "basteln" nicht abwertend gemeint, diese Unternehmen plagen sich nicht mit Scheinrationalitäten und den neuesten Modellen aus der Beratung ab, sondern kombinieren ebenso selbstbewusst wie pragmatisch, was zur jeweils eigenen Organisation passt. Sie folgen eher dem Muster eines "Daniel Düsentrieb für Organisationen", dem bastelnden, stets experimentierenden Erfinder mehr als dem klassischen Ingenieur. 

Hybride Formate garantieren Agilität, erleichtern das Experimentieren und erlauben es, Konzepte und Methoden, die nicht die gewünschten Erwartungen erfüllen, wieder zu verwerfen. 

Ein Charakteristikum von Hybridstrukturen ist, dass die Zusammenstellung und Balance der Elemente in jedem Unternehmen, in jeder Situation immer wieder anders abgewogen wird. Trotz der Unterschiede sehen wir aber durchgängige Prinzipien, die sich manchmal bewusst gegen gängige Prinzipien wenden.


Die Art und Weise der Selbstorganisation


So folgt die Art und Weise der Selbstorganisation nicht einem theoretischen Konzept und eindeutigen, verallgemeinerbaren Spielregeln. Sie orientiert sich vielmehr pragmatisch an der Logik der Kunden, den daraus abgeleiteten Geschäftsmodellen, den im Unternehmen angewandten Produktions- und Steuerungstechnologien und den neuen Möglichkeiten der Digitalisierung. Ein Geschäftsführer meinte: "Wir sehen Handarbeit und Digitalisierung nicht als Widerspruch, sondern als ein innovatives Sowohl-als-auch." 

In jedem dieser Unternehmen weiß man, dass das autonome, eigenverantwortliche Selbst klare Rahmen, ja fast "strenge" (Spiel-)Regeln braucht, damit organisiertes Handeln möglich wird. In den meisten der Unternehmen waren und sind die Mitarbeiter an der Entwicklung der Spielregeln engagiert beteiligt. Erst innerhalb dieses definierten (Frei-)Raumes können sich Kreativität, Inspiration und Innovation entfalten. Das wird als notwendig, orientierend und entlastend beschrieben. Der Grad der Freiräume ist von Branche zu Branche, von Unternehmen zu Unternehmen verschieden. In diesem Rahmen wird Selbstorganisation nicht geplant, sondern "ergibt sich" aus den Anforderungen, den Kompetenzen und der zugetrauten oder aktiv übernommenen Selbstverantwortung von Rollenträgern und Teams. 

Dazu ein konkretes Beispiel - aus dem Shared Service Center eines globalen Unternehmens: Um die Aufgabenerweiterung und die sich ständig verändernden Anforderungen interner Kunden zeitnah und inhaltlich flexibel bewältigen zu können, entschied sich das leitende Managementteam, auf eine Managementebene zu verzichten und die jeweilige Standortsteuerung ganz in die Verantwortung der dort wirkenden Abteilungsleiter zu übertragen. So konnte die Komplexität der Struktur gesenkt werden. Und man traute den fähigen Mitarbeitern durch "Teamsteuerung pur" mehr zu. Damit sich aber keinesfalls unter der Hand hierarchische Muster erhalten, wurde vereinbart, dass die Protokolle der Steuerungsmeetings an den Standorten sowie die dort getroffenen Entscheidungen nicht an das Managementteam weitergeleitet werden durften! Dazu der Geschäftsführer: "Wir vertrauen euch, dass ihr wisst, zu welchen Themen wir miteinander eine Abstimmung brauchen." Das war verbunden mit der Ankündigung, im Fall einer Abstimmung genau nachzufragen: "Warum entscheidet ihr das nicht selbst oder was braucht ihr, damit ihr es entscheiden könnt?" Dieser konsequente Weg hat sich bewährt. 

In diesen Unternehmen wird im Unterschied zu hierarchisch strukturierten Organisationen Selbstverantwortung nicht moralisch eingefordert, sondern sie wird schlicht ermöglicht: indem den betreffenden Mitarbeitern oder Teams die Verfügungsgewalt über Ressourcen (Zeit, Personen, Raum, Geld, Zugang zu Daten und Beziehungen) und die reale Übernahme von Risiken zugebilligt und zugetraut wird. Bei allen Unternehmen wird bei den Gestaltungsräumen der Selbstorganisation - mehr oder weniger explizit - zwischen vier Ebenen unterschieden: erstens der Ebene des Unternehmens, zweitens der Ebene zwischen den Teams, drittens der Ebene im Team und viertens der Ebene der Rollenträger. Auf jeder dieser Ebenen wird darauf geachtet, zumindest aber gefordert, dass die Anforderungen und Erwartungen der Kunden an Produkte, Service und Kommunikation und der Sinn des Unternehmens im Fokus bleiben. So stellt man sicher, dass Selbstorganisation nicht zu einem selbstbezüglichen Prozess verkommt. 

Eine Möglichkeit, wie das erreicht werden kann, zeigt das folgende Beispiel der Selbststeuerung von Projekten in einem Maschinenbauunternehmen: Alle Mitarbeitenden dort haben das Recht, in Abstimmung mit ihrem Team und mit dem Teamleiter eigenständig Prozessoptimierungen und die Einführung neuer Werkzeuge und Verfahren bis zu einer Budgetgröße von 5.000 Euro umzusetzen. Das Controlling muss - ohne Nachfragen - das Budget freigegeben. Man geht davon aus, dass die Mitarbeitenden klug und im Sinne des Unternehmens handeln, sie sind die Experten für ihre Arbeitsprozesse. 

Auf Kontrolle wird nicht verzichtet, sie wird als kluge Form der Selbstkontrolle gedacht. "Wir beobachten einander auf Augenhöhe, damit Fehler vermieden werden können", beschreibt der Geschäftsführer eines Herstellers von Steuerungstechnik, was er unter "sozialer Kontrolle" versteht. 

Eine hohe Prozessqualität wird durch die Koppelung einer prozessorientierten Struktur mit der Übernahme von Rollen sichergestellt. "So vermeiden wir, dass jemand sagt: ‚Das ist doch der Job von XY, das gehört nicht zu meiner Funktion‘", erläutert ein Geschäftsführer. "Mitarbeiter können und sollen mehrere Rollen übernehmen, daher setzten wir auf Mehrfachqualifikationen", statt Funktionen zu betonen. "Wir achten darauf, was gerade erforderlich ist", heißt es in einem anderen Unternehmen. Das Mindset ist: Was kann ich dazu beitragen, dass der Prozess gut läuft? 

Wenn geklärt ist, was ein Team (Sinn, Funktion, Aufgabe) in welchem Rahmen entscheiden kann und muss, ist es frei in der Klärung des Wie. Es ist nur verpflichtet, Regeln dafür zu entwickeln. Der Grad der Genauigkeit und Dokumentation ist sehr unterschiedlich. So haben einige Unternehmen selbstkritisch und auch erstaunt festgestellt, dass für die Zusammenarbeit in und zwischen den Teams zu viele Regeln entwickelt wurden, um sich anlassbezogene kommunikative Abstimmungen ersparen zu können.


Arbeit im System, Arbeit am System


Es war interessant, festzustellen, dass für die Funktion von Führung mit Termini der Beratung unterschieden wird. Man spricht ganz selbstverständlich von der "Arbeit im System" und der "Arbeit am System": Arbeit im System meint das tägliche Tun, Steuern und Entscheiden. Arbeit am System heißt - in den Worten eines Werksleiters eines Produktionsunternehmens der Verpackungsindustrie: "Wie wirken unsere Strukturen und Regeln? Was wird wie beobachtet und bewertet? Was wird zu wenig beobachtet? Und in welchem Gesamtkontext bewegen wir uns?" 

Die neue (tägliche) Frühbesprechung in diesem Produktionsunternehmen sieht so aus: An der maximal 30-minütigen Besprechung sind Verantwortliche aller Produktionsschritte beteiligt, inklusive Werksleitung. Das Meeting beginnt mit zwei Fragen: "Was hat mich/uns seit gestern Morgen so richtig gefreut? Was war seit gestern Morgen einfach beschissen?" Jeder Mitarbeiter teilt kurz und knapp seine Erfahrungen und Einschätzungen mit. Anschließend werden offene Themen besprochen, zu denen alle Anwesenden etwas beitragen können: "Wer kann zur Klärung beitragen, wer muss sich mit wem abstimmen, wer hat Verbesserungsideen?" Nach diesem Meeting sind alle auf dem aktuellen Stand und wissen, was die einzelnen Kolleginnen und Kollegen bewegt und was konkret zu tun ist. 

Eine ähnliche Form der Frühbesprechung hat ein anderes Produktionsunternehmen gefunden: die tägliche "Stehung" (statt Sitzung) in den einzelnen Teams. Diese Stehung dauert circa fünf Minuten, dabei beantwortet jeder drei rituelle Fragen: "Was habe ich gestern gemacht - beziehungsweise am Freitag?", "Was habe ich heute vor?" und: "Was hindert mich daran?" Dieses Meeting dient auch der Koordination der Arbeit in den Teams: "Wir verwenden dabei ein Kanban Board, auf dem alle Aufgaben gelistet sind; für jeden Mitarbeiter im Team pinnt dort ein Namenskärtchen, dem die Arbeitspakete zugeordnet sind. So spricht man nicht bloß über Aufgaben, sondern die Zusammenhänge werden deutlich." 


Der zeitliche Einsatz für die Arbeit im und am System wird sehr unterschiedlich gehandhabt. Das von einigen Führungskräften zitierte Ideal von 70 Prozent Arbeit im und 30 Prozent am System (entsprechend zwölf Wochenstunden) wird selten erreicht. Wir kennen nur ein Unternehmen, einen Büromöbelhersteller, wo es weitestgehend umgesetzt wurde, dass die Führungskräfte sich vor allem um die Entwicklung des Systems kümmern. Der Eigentümer berichtet stolz, dass damit das Tagesgeschäft "führungskräftefrei" organisiert werde. 

Zusammenfassend zeigt sich, dass diese Unternehmen ganz einfach den Basisprinzipien erfolgreichen Lebens folgen: Sie achten auf Sinn - Verbundenheit - Autonomie - Entwicklung.


Aktivierungsenergien: Selbsterkenntnis, Neugier, Mut, Lust, Zuversicht, Überzeugung


Aber starten wir nochmals von vorne: Was waren die Beweggründe, die Unternehmer, Eigentümer, Manager dazu brachten, sich auf das Wagnis einzulassen, ihr Unternehmen einfach anders zu organisieren - zu einer Zeit, als Laloux nicht in aller Munde war? Was waren die Motivlagen, auf mehr oder minder stabile und bewährte Macht-, Kontroll- und Einflussstrukturen zu verzichten und sich auf demokratische Prozesse einzulassen - als Thomas Sattelbergers Buch über Unternehmensdemokratie noch nicht erschienen war. Was bewog die Unternehmen, sich auf Spielregeln einzulassen, die die Mitarbeiter ohne ihre Führungskräfte entwickelt haben - als Mitarbeiterorientierung noch eine Worthülse in Unternehmensleitlinien war? 

Genannt wurden strukturelle, ökonomische und persönliche Motive und meist eine Mischung aus diesen Kategorien: 

In Familienunternehmen, die vor einem Generationswechsel standen, waren die Nachfolger "natürlich" prädestiniert, die Vorstellungen der Vorgängergeneration zu überprüfen, patriarchale Prägungen infrage zu stellen und das Unternehmen nach eigenen Werten auszurichten. Die Angehörigen der nun verantwortlichen Generation beschreiben sich selbstbewusst und selbstkritisch, sie überprüfen "alte" Rollenbilder von Verantwortung, Eigentum und Geschäftsführung und billigen den Mitarbeitern mehr Kompetenzen und eine hohe Bereitschaft zum Engagement zu und schaffen damit die erforderlichen kulturellen und strukturellen Rahmenbedingungen, damit diese sich entfalten können. 

Bei einigen Unternehmen waren veränderte Kundenanforderungen, denen die bestehende Organisation nicht mehr gerecht werden konnte, der Auslöser. "Wir waren zu teuer und zu langsam", heißt es in einem Technologieunternehmen. "Wir brauchten neues Wissen, neue Verknüpfungen und eine andere Verbindung mit der Umwelt, und da stand die Hierarchie im Wege." Und wenn man schon an die Wurzeln des Gewohnten ranmusste und alte Zöpfe zur Disposition standen, dann wollte man es gleich wirklich radikal anders versuchen. 

Interessant zu sehen war, wie auch jene erfolgreichen Start-ups, die sich ohnedies als Avantgarde verstehen, neue Formen der Steuerung entwickeln mussten. Ihr rasches Wachstum war nicht mehr mit einer "Kultur des Zurufens", der spontanen Abstimmungen und Entscheidungen und dem hohen Maß an individueller Autonomie wie in der Anfangszeit zu bewältigen. Hier war die Herausforderung, die Start-up-Kultur weiter- und zugleich Regelmechanismen und strukturelle Orientierungsformate einzuführen. "Wir haben die Wachstumsschmerzen mehr als deutlich gespürt", sagten die Geschäftsführer eines Herstellers agiler Software. 

Bei allen waren aber immer persönliche Anliegen, Erfahrungen und Wertvorstellungen maßgeblich dafür, neue Wege zu gehen. Persönliche - nicht nur erlebte, sondern reflektierte - Krisenerfahrungen, das Erkennen und Akzeptieren von Überlastungen und inhaltlichen Überforderungen, die Suche nach einer besseren Lebensbalance (bewusst nicht: Work-Life-Balance), der Wunsch, sich von alten Vorstellungen frei zu machen, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, einen Beitrag zu mehr sozialer Gerechtigkeit zu leisten, ein neues Selbstverständnis auch im Führungshandeln umzusetzen und ungewöhnliche Ideen, Erkenntnisse aus anderen Disziplinen auf die eigene Organisation übertragen zu können - all diese Faktoren waren Auslöser für den Veränderungsprozess. "Jetzt konnte ich mich wieder als Pionier erleben - selbst bei unseren traditionellen, sich wenig ändernden Produkten", sagte der Geschäftsführer des bereits erwähnten Unternehmens für Steuerungstechnik. 

Auch wenn bei jedem Unternehmen ein buntes und spezifisches Bündel an Faktoren zusammenwirkt, lassen sich doch sechs zentrale Impulse erkennen, die jenen Aktivitätskreislauf "in Gang" gesetzt haben, der den Wandel der Organisationen bewirken konnte.  

(1) Selbsterkenntnis: So will und kann ich nicht mehr weitermachen.
(2) Neugier: Ich möchte erfahren und entdecken, wie mein Unternehmen anders funktionieren könnte.
(3) Mut: Ich möchte mich auf unbekanntes Terrain vorwagen.
(4) Lust: Ich will auch in meiner Arbeit den "Kitzel" spüren, Routinen zu verlassen.
(5) Zuversicht: Ich kenne meine Wirksamkeit, daher bin ich gewiss: Ideen lassen sich konkretisieren.
(6) Überzeugung: Ich bin sicher, dass Menschen gern ihr Bestes geben, wenn man sie nur lässt. 

Diese Impulse haben den Wunsch und den Entschluss zur Veränderung angestoßen. Damit der Veränderungsprozess richtig in Gang kommt und auch in Bewegung bleibt, braucht es aber weitere Energieschübe - solche, die von den Beteiligten gezielt geschaffen werden.


Antriebskräfte: intrinsische Motivation, Reflexion, Lernen mit- und voneinander


So paradox es auch erscheinen mag, es brauchte stets den Impuls von "oben", damit "unten" Bewegung entstand. Einige Eigentümer haben die Formulierung verwendet: "Ohne Revolution von oben hätten wir diesen Weg nicht geschafft." Ausschlaggebend war der Wille von Eigentümer(n) und Management, sich auf die "Wagnisse" der Selbstorganisation einzulassen. Immer wieder wurde genannt: "Eine hohe intrinsische Motivation ist schon erforderlich." Ein Wagnis war dies insbesondere deshalb, weil am Beginn dieses Prozesses nur einige vage Begriffe zur Verfügung standen - Selbstorganisation, Teamsteuerung, Kreisorganisation, autonome Steuerung et cetera - es aber noch wenig oder gar keine Bilder, Vorstellungen und Erfahrungen dazu gab. Es war ein Wagnis, in das Unbekannte, logisch nicht Kontrollierbare aufzubrechen. Das gilt auch für Unternehmen, die sich nun bekannt gewordener Modelle wie Holacracy und anderer bedienen. Und es brauchte das Wagnis, die Bereitschaft, "sich selbst als Leitfigur infrage zu stellen und sich infrage stellen zu lassen". 

Die "Verantwortlichen an der "Unternehmensspitze" haben sehr deutlich gemacht, dass sie wirklich an den Sinn von neuen Strukturen glauben müssen, ganz einfach, da sie nicht wissen können, ob sie Erfolg haben werden. Es braucht eindeutige Signale, dass sie dem neuen Weg vertrauen und bewusst das damit verbundene Risiko tragen; "Ich bin mir einfach sicher, dass sich die Investition in die neuen Strukturen und in die neue Unternehmenskultur mittelfristig (nicht kurzfristig!) in einer besseren Wertschöpfung und einer höheren Kundenzufriedenheit niederschlagen wird. Und weil der Sinn unseres Tuns im Vordergrund steht, ist der ökonomische Gewinn nicht das Ziel, er ist der Beweis für die Wirksamkeit unseres Tuns", sind die beiden Prozessverantwortlichen für Produktion und Marketing eines Lebensmittelproduzenten überzeugt. 

Auch wenn man in diversen Büchern zu Change Management lesen konnte, dass man an "harten Schnitten" nicht vorbeikomme, zeigt sich in den von uns besuchten Organisationen, dass es klug ist, bei diesen sozialen Innovationen den langsamen, evolutionären Weg einzuschlagen. Also nicht sofort die gesamte Organisation transformieren, sondern mit gut beobachtbaren Experimenten in Teilbereichen mit dafür erforderlichen "Schutzräumen" und der Chance des Scheiterns beginnen. 

Experimente ermöglichen ein schrittweises Lernen. Skeptiker können beobachten, welche Änderungen des Mindsets auf sie zukommen werden, welche etablierten Vorstellungen von Ordnung ihre Gültigkeit behalten können und welche neuen entwickelt werden müssen; welche Bedeutung Vielfalt und Widersprüche haben sollen; wie in Zukunft Führung und Führungsrollen zu verstehen sind und wie Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und deren Verhalten zu bewerten sind. 

In allen besuchten Unternehmen hat der Fokus auf das Menschenbild, auf die Person und deren intrinsische Motivation (ein gern verwendeter Begriff) eine gleich hohe Bedeutung wie neue Strukturen und Methoden. Daher wird beim Recruiting zuerst darauf geachtet, ob die Persönlichkeit zur Organisation "passt", und erst in zweiter Linie auf die Fachkompetenz geschaut. "Wir führen viele Gespräche, laden fast täglich potenzielle Mitarbeiter ein, ‚testen‘ den ‚persönlichen Fit‘: Passen die menschlich zu uns, von den Werten, dem Wunsch nach selbständigem Arbeiten et cetera? Erst dann werden fachliche Aspekte genauer abgeklopft, fachlich lernen kann man viel", erzählten die Mitarbeiter des HR-Prozesses eines Maschinenbauunternehmens. 

Die Verknüpfung von Person, Verhalten, Strukturen, Selbstverständnis in den Rollen, Bedeutung von Entscheidungsprämissen und Einsatz neuer Methoden wird durch gezielte Formen institutionalisierter Reflexion und des Lernens mit- und voneinander sichergestellt und gepflegt. 

Selbstorganisation ist wie jede Organisation oder koordiniertes Handeln ganz allgemein nicht frei von Regeln, Verbindlichkeiten und Rahmungen. Der Unterschied zu "traditionellen Unternehmen" zeigt sich im Prozess der Entwicklung von und der Entscheidung über Regeln. Regeln werden nicht nach abstrakten Prinzipien geformt ("Eine Matrixorganisation erfordert …"), sondern gemeinsam im Hinblick auf Strategie, Ziele und Werte entwickelt. Und sie werden als Orientierung und Entlastung verstanden - als Richtlinien, als Maßgaben, anhand derer gelernt und von denen, wenn erforderlich, auch wieder pragmatisch abgewichen werden kann. Durchgängig achtet das "Management" darauf, dass Spielregeln von den Mitarbeitern selbst erarbeitet werden. 

All dies beruht auf einer der ältesten und zugleich schwierigsten Fähigkeiten menschlichen Sozialverhaltens: Kommunikation. Sie muss anders und besser funktionieren als bisher, damit Selbststeuerung und Koordination gelingen können.


Information, Kommunikation, kurz: Transparenz


In allen hier beschriebenen Unternehmen werden im Wesentlichen alle Zahlen, Daten und Fakten offengelegt. Geheimhaltung hält man weder aus taktischen Gründen, aus Angst vor der Konkurrenz, noch aus der Überforderung durch "peinliche Fragen" für sinnvoll. So wirkt man Fantasien und Gerüchtebildung entgegen. Die Zeit, die sonst für informelle Klärungen und den Austausch von Vermutungen benötigt wird, steht konstruktiven Dialogen zur Verfügung. 

Das Offenlegen aller betriebswirtschaftlichen Daten erhöht nicht nur das Gesamtverständnis und die Gesamtverantwortung, sondern hilft - nach einer gewissen Lernzeit - die für die Arbeit und Steuerungsverantwortung erforderlichen Daten kontextspezifisch zu selektieren, zu interpretieren, also daraus relevante Informationen zu generieren. 

Über unterschiedliche Medien - Intranet, Tafeln und farbig und grafisch gestaltete Aushänge - wird "erzählt", was in der letzten Periode (das kann auch der vorherige Tag sein) besonders geglückt ist und worauf man nun und in nächster Zeit besonders achten möchte. 

Die Bandbreite der Methoden ist groß. Digitale Medien sind eine Selbstverständlichkeit, einige Unternehmen nutzen zum Beispiel Apps, um Transparenz herzustellen und allen Mitarbeitern Zugang zu allen Informationen zu ermöglichen. In einem Unternehmen wurde ein eigenes internes Kollaborationstool entwickelt, über das die Mitarbeiter ihre Zusammenarbeit organisieren. Ein anderes Unternehmen nutzt zwei Kommunikationstools: eines, bei dem die Mitarbeiter unter ihrem Namen ihre Überlegungen und Ideen zur Verfügung stellen, und ein explizit anonymes, auf dem alle anonym posten und über Unternehmensentscheidungen diskutieren können. Mehrere Unternehmen nutzen ein allen Mitarbeitern zugängliches Unternehmens-Wiki, in dem alles abgelegt wird, was für die tägliche Arbeit wichtig ist: Regeln, Prozesse, auch das Firmenleitbild. Alles dort kann verändert, bearbeitet und ergänzt werden. 

Es werden aber auch bewusst nichtdigitale Lösungen eingesetzt, um mehr Transparenz zu schaffen. Der "Klassiker": Aushänge in den Teambereichen bieten die Möglichkeit, alle Informationen, die Mitarbeiter für wichtig und relevant halten, zugänglich zu machen. 

In allen Unternehmen wird über die Transparenz der Gehälter diskutiert. Die Lösungen zeigen eine Bandbreite von der üblichen Tabuisierung bis hin zu völliger Offenlegung - vor allem in jenen Unternehmen, wo man damit experimentiert, die Mitarbeiter ihre Gehälter selbst bestimmen zu lassen. Dort ist man sich aber auch bewusst, wie heikel dieses Thema ist: "Die Frage des Gehaltsmodells ist unfassbar diffizil. Ich würde niemandem empfehlen, von heute auf morgen ein transparentes Gehaltsmodell einzuführen, denn meist gibt es historisch gewachsene Ungleichheiten im Gehaltsgefüge, da kann Transparenz ziemlich schmerzhaft sein", so der Geschäftsführer eines agil arbeitenden Softwareproduzenten. Generell wird Teamleistung vor Einzelleistung gesetzt. An den entsprechenden Entlohnungssystemen wird noch "gebastelt". Individuelle Bonussysteme werden jedoch als kontraproduktiv gesehen. 

Dieser offene Kommunikationsstil, die allseitige Verfügbarkeit von Informationen prägen natürlich intensiv die Unternehmenskultur. Moment mal: Unternehmenskultur, ist das nicht eine Worthülse aus der PR? Hier nicht. Jedenfalls keine inhaltsleere.


Unternehmenskultur: Gelebt wird, worauf es ankommt


So wie man Organisationen nicht küssen kann, wie Fritz Simon es treffend auf den Punkt gebracht hat, kann man Unternehmenskultur zwar mit Begriffen beschreiben, aber sehen, beobachten kann man nur Handlungen. Man verzichtet zwar nicht auf die "schönen Sätze", aber man verständigt sich immer wieder darüber, "worauf es ankommt", will man Selbstorganisation, gemeinsame Sinnausrichtung und ökonomische Effizienz leben. 


Das Prinzip Selbstverantwortung erfordert, die Perspektive von der eigenen Aufgabe auf eine Gesamtverantwortung hin zu erweitern. Dieser abstrakte Begriff konkretisiert sich durch den Fokus auf den Kundennutzen und auf den Sinn des Unternehmens. So erhöhen sich - ganz praktisch, ohne moralische Appelle - Achtsamkeit und die Bereitschaft, sich wechselseitig zu helfen, statt sich bei Problemen wechselseitig die Schuld zuzuschieben. 

Der Blick vom Silo zur Vernetzung macht Paradoxien und Widersprüche deutlich, diese werden aber nicht als Problem oder Versagen, sondern eher als eine Selbstverständlichkeit betrachtet, aus der man Energien gewinnt und die es zu managen gilt. Daher wird bei Entscheidungsprozessen und in den Entscheidungsstrukturen auf Verknüpfung unterschiedlicher Logiken und Perspektiven geachtet, ohne die ökonomischen Aspekte zu relativieren. "Wir achten auf Technik und Schönheit", heißt es zum Beispiel bei einem Technologieunternehmen. "Unser Ziel ist, gutes Geld zu verdienen", bei einem Büromöbelhersteller. In keinem Unternehmen steht die ökonomische Logik im Widerspruch zu einem verantwortlichen Umgang mit Ressourcen; Nachhaltigkeit wird zur Schwester der sozialen Innovationen. 

Man geht davon aus, dass das Wissen um den Sinn des Unternehmens, die dort gelebte Wertschätzung und der Stolz, in einem "besonderen" Unternehmen arbeiten zu können, einen Motivationskreislauf in Bewegung halten, der zu mehr Selbstverantwortung und Engagement führt, die wiederum Freiräume schaffen und Selbstorganisation ermöglichen. Ein sich selbst verstärkender Prozess.


Selbstorganisation braucht Führung - aber nicht durch einige wenige


Das sogenannte Topmanagement sieht sich nicht (mehr) als (Entscheidungs-)Zentrum, sondern als Teil eines dynamischen, komplexen Systems. Man beschreibt sich als Beobachter und Impulsgeber, Reflektor, Ermöglicher, Schützer und als Garant für innovative Experimente. Das Topmanagement lernt und unterstützt andere dabei, zu erkennen, welche Kontexte bei Entscheidungen berücksichtigt werden müssen, und fördert so die Selbststeuerung und Selbstverantwortung. Zitat: "Wir helfen, dass die Leute einfach klüger werden, manchmal klüger als wir - und zusammen sind sie das sowieso", heißt es bei einem Großunternehmen der digitalen Wirtschaft. 

Die Eigentümer und Manager an der Spitze wissen um ihre Haltungen und Werte, ihr Narzissmus ist ein reflektierter und kann daher konstruktiv genutzt werden. "Natürlich habe ich narzisstische Tendenzen, ich will als Pionier bewundert werden, aber ich weiß darum, und mein Team macht mir schon deutlich, wenn ich abhebe", so der junge Nachfolger und Eigentümer eines Automotive-Unternehmens. 

Führung wird als ein sozialer Prozess gedacht und nicht als eine - an definierte Personen geknüpfte - Funktion. Es hat den Anschein, dass der Slogan "Führung ist zu wichtig, als dass man sie nur einigen überlassen sollte" wirklich verstanden wurde. 

Mitarbeiterführung geschieht in erster Linie durch Sinnausrichtung. "Wir müssen gemeinsam sicherstellen, dass jeder mitwirkt, den Kundennutzen zu realisieren", sagten die Geschäftsführer eines Einzelhandelsunternehmens. Das Wort "Druck" wird vermieden. Führung darf auch für Entspannung sorgen, Ruhe und Gelassenheit vermitteln und sich in der Kunst des Weglassens üben. 

Eigenverantwortung ist auf die Kunden und den Sinn des Unternehmens bezogen und über Kommunikation, Verhandeln und Abstimmen mit anderen mit dem Ganzen gekoppelt. Führung stellt sicher, dass Entscheidungen dort fallen, wo die höchste Expertise zu erwarten ist. 

Konflikte aufgrund von Widersprüchen und Paradoxien müssen die Personen nicht mit sich selbst ausmachen, sondern sie sind eine gemeinsame Managementaufgabe. 

Um diese neue Grundhaltung auch im Alltag handlungswirksam werden zu lassen, werden neue Methoden und Tools der Führung ausprobiert. 

Beispiel 1 - Freestyle-Vorstandssitzung (in einem Unternehmen der Energieindustrie): "Unsere Freestyle-Vorstandssitzung findet jeden Montag mit gemeinsamem Frühstück im Haus des CEO statt. Auf den Tisch kommen nicht nur Kaffee und die Frühstückseier, sondern auch jene Themen, die jeden im Augenblick wesentlich bewegen. Damit stellen wir sicher, dass Themen, die durch unsere formalen und kurzfristigen Entscheidungsprämissen ausselektiert würden, ihren Ort und ihre eigene Bearbeitungszeit bekommen." Dieser andere Rahmen eröffnet ein anderes Spiel, ermöglicht einen anderen Stil, eine andere Gesprächskultur: "Wir tun so, als wären wir jetzt ganz frei von unserer Vorstandsverpflichtung, und können so unserer Vorstandsverantwortung besonders effizient nachgehen." Gemanagte Paradoxie als Voraussetzung von Kreativität und ein kluges Spiel mit dem nützlichen "als ob". 

Beispiel 2 - Kleinigkeit mit großer Wirkung (in einem Logistikunternehmen): "Wir beginnen jedes Meeting mit einem Austausch, wie es uns gerade persönlich geht, was uns gedanklich und emotional bewegt, wofür wir dankbar sind", so die Praxis eines Logistikunternehmens. "Wir machen operative Meetings und strategische Meetings in unterschiedlichen Räumen, die auch unterschiedlich ausgestattet sind, und wir wechseln zwischen Sitzen, Stehen, Bewegen." 

Beispiel 3 - So einfach kann es gehen (in einem städtischen Kulturinstitut): "Nach unserer Großgruppenveranstaltung mit dem tollen Open-Space-Format hatten sich freiwillig sieben Taskforces gebildet, um an wichtigen Themen, die uns in der Organisation schon lange nerven, weiterzuarbeiten. Transparenz zum Beispiel. Da entstanden interessante Ideen, die auf eine Entscheidung warteten, und dann bei uns im Führungsteam landeten, wo alles nochmals durchgekaut wurde - meist zur Enttäuschung der Mitglieder der Ideengruppen. Es brauchte den Impuls unserer Berater, bis wir mit einer einfachen Spielregel Bewegung in die Umsetzung bringen konnten. Mit drei einfachen Schritten: (1) Die Taskforce muss konkret ausformulieren, was sie in Eigenverantwortung umsetzen und ausprobieren möchte. (2) Abfrage über Slack (damit es schneller geht) bei uns fünf: Gibt es einen gewichtigen Einwand? (3) Kommt ein Einwand, modifiziert das Team den Vorschlag und setzt ihn um; ohne Einwand ist es eh klar." Das Signal ist klar: "Tut, macht, probiert etwas aus, wertet es aus - und wenn ihr wollt, erzählt uns von eurem Erfolg!" 



Herausforderungen - einige Zitate


"Damit uns der neue Weg geglaubt wurde, mussten wir uns selber abschaffen." - Die Geschäftsführer eines Unternehmens für Steuerungstechnik. 

"Die große Frage war: Wie schaffen wir es, eine Struktur für die Selbstorganisation aufzubauen; wie schaffen wir den Übergang von ‚informell und sehr familiär‘ zu klaren Rahmenbedingungen und Spielregeln, ohne dass ein Gefühl von Gefängnis und Einengung entsteht?" - Der Geschäftsführer eines Telekommunikationsunternehmens. 

"Welches Risiko gehen wir ein, wenn wir wirklich in Vertrauen, Kompetenz und Engagement der Mitarbeitenden investieren?", fragt der Eigentümer und Geschäftsführer eines Herstellers von Automobilzubehör. "Ich musste erst lernen, zu verstehen, dass unsere Mitarbeiter in der Produktion mit weniger Achtsamkeit in Sekunden teure Maschinen zerstören und Stillstände mit dramatischen Auswirkungen herbeiführen können." 

"Was machen wir mit jenem Teil der Belegschaft und einigen Führungskräften, auch in Geschäftsführungsfunktionen, die von diesen neuen Freiheitsgraden und der damit verbundenen Verantwortung überfordert sind?", fragen die Geschäftsführer eines Unternehmens für Steuerungstechnik. "Im Laufe der letzten zwei Jahre haben sich circa 30 Prozent der Belegschaft, inklusive Führungskräfte verabschiedet." 

Bei einem Dienstleister für IT-Personalmanagement hatte die Praxis der offenen Tür auf der Führungsebene schnell dazu geführt, dass Fragen der Mitarbeiter und deren Beantwortung von "oben" (wieder) zur Regel wurden. "Klar wusste man, zu wem man bei welchen Fragen hingehen kann. Und natürlich sollte es möglich sein, die ‚Wissenshierarchien‘ und Seniorität zu nutzen. Aber wir erkannten die Gefahr, wie schnell wir alle (!) in Bequemlichkeitsmuster verfallen." 

"Ich musste von der Idee loslassen, wir an der Spitze könnten und müssten alles verstehen, verantworten und steuern. Diese Illusion war schon ein tolles Gefühl - und schrecklich zugleich." - Der Eigentümer eines Handelsunternehmens für Messtechnik. 


Zitate


"Unternehmen, die grundlegende Dinge anders machen, sind keine verschwindende Minderheit mehr." Herbert Schober-Ehmer & Team: Nach der Hybris kommt hybrid

"Wir charakterisieren das neue Muster, das sich zumindest bei diesen 15 Unternehmen als erfolgreich erwiesen hat, mit dem Begriff ‚Hybrid-Steuerung‘." Herbert Schober-Ehmer & Team: Nach der Hybris kommt hybrid

"Die Unternehmenspioniere von heute entwickelten andere Gestaltungsprinzipien: ein gleichberechtigtes und gleichzeitiges Nebeneinander unterschiedlicher Strukturen und Formate der Steuerung, eine Mischung von Pragmatismus, engagierter Werteorientierung und Experimentierfreude.(…) Diese Unternehmen kombinieren ebenso selbstbewusst wie pragmatisch, was zur jeweils eigenen Organisation passt." Herbert Schober-Ehmer & Team: Nach der Hybris kommt hybrid

"Hybride Formate garantieren Agilität, erleichtern das Experimentieren und erlauben es, Konzepte und Methoden, die nicht die gewünschten Erwartungen erfüllen, wieder zu verwerfen." Herbert Schober-Ehmer & Team: Nach der Hybris kommt hybrid

"Im Unterschied zu hierarchisch strukturierten Organisationen wird Selbstverantwortung nicht moralisch eingefordert, sondern sie wird schlicht ermöglicht: indem den betreffenden Mitarbeitern oder Teams die Verfügungsgewalt über Ressourcen (Zeit, Personen, Raum, Geld, Zugang zu Daten und Beziehungen) und die reale Übernahme von Risiken zugebilligt und zugetraut wird." Herbert Schober-Ehmer & Team: Nach der Hybris kommt hybrid

"Auf Kontrolle wird nicht verzichtet, sie wird als kluge Form der Selbstkontrolle gedacht." Herbert Schober-Ehmer & Team: Nach der Hybris kommt hybrid

"Das Mindset ist: Was kann ich dazu beitragen, dass der Prozess gut läuft?" Herbert Schober-Ehmer & Team: Nach der Hybris kommt hybrid

"Persönliche Krisenerfahrungen, das Erkennen und Akzeptieren von Überlastungen und inhaltlichen Überforderungen, die Suche nach einer besseren Lebensbalance, der Wunsch, sich von alten Vorstellungen frei zu machen, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, einen Beitrag zu mehr sozialer Gerechtigkeit zu leisten, ein neues Selbstverständnis auch im Führungshandeln umzusetzen und ungewöhnliche Ideen, Erkenntnisse aus anderen Disziplinen auf die eigene Organisation übertragen zu können - all diese Faktoren waren Auslöser für den Veränderungsprozess." Herbert Schober-Ehmer & Team: Nach der Hybris kommt hybrid

"So paradox es auch erscheinen mag, es brauchte stets den Impuls von ‚oben‘, damit ‚unten‘ Bewegung entstand." Herbert Schober-Ehmer & Team: Nach der Hybris kommt hybrid

"Es war ein Wagnis, in das Unbekannte, logisch nicht Kontrollierbare aufzubrechen." Herbert Schober-Ehmer & Team: Nach der Hybris kommt hybrid

"Durchgängig achtet das ‚Management‘ darauf, dass Spielregeln von den Mitarbeitern selbst erarbeitet werden." Herbert Schober-Ehmer & Team: Nach der Hybris kommt hybrid

"Das Prinzip Selbstverantwortung erfordert, die Perspektive von der eigenen Aufgabe auf eine Gesamtverantwortung hin zu erweitern." Herbert Schober-Ehmer & Team: Nach der Hybris kommt hybrid

"Mitarbeiterführung geschieht in erster Linie durch Sinnausrichtung. Das Wort ‚Druck‘ wird vermieden. Führung darf auch für Entspannung sorgen, Ruhe und Gelassenheit vermitteln und sich in der Kunst des Weglassens üben." Herbert Schober-Ehmer & Team: Nach der Hybris kommt hybrid

 

changeX 24.11.2017. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Herbert Schober-Ehmer & Team
Schober-Ehmer & Team

Herbert Schober-Ehmer ist Partner im Redmont Consulting Cluster und seit 40 Jahren als systemischer Organisationsberater und Coach von Topführungsteams und Topmanagern tätig. Er hatte die Federführung bei der Fertigstellung des Textes. An diesem Bericht haben mitgearbeitet, mitdiskutiert, mitgeschrieben und Beispiele dazu beigetragen: Herbert Schober-Ehmer (Redmont Consulting Cluster), Susanne Ehmer (Redmont Consulting Cluster), Gundi Vater (Gundi Vater Consulting), Adrian Holter (Redmont Consulting Cluster), Winfried Kretschmer (changeX), Harald Payer (Redmont Consulting Cluster). Endredaktion: Winfried Kretschmer

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