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Alles offen

Ein Kongress auf der Suche nach neuen Ideen, Methoden, Visionen - ein Report vom Summit of NewThinking
Report: Anja Dilk

New. Die Faszination des Neuen ist ungebrochen. Zieht einen in ihren Bann. Zukunft will gestaltet sein. Doch wie "new" kann ständig proklamiertes Neues eigentlich sein? Alles neu in immer kürzerem Takt? So entpuppt sich manche neue Idee beinahe schon als Teenager. Gleichwohl: Neues Denken ist unabdingbar. "NewThinking" in Neudeutsch.

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Sarah 2020. Die 31-jährige Kommunikationsdesignerin entwirft Apps, recherchiert Trends, ist in Expertennetzwerken unterwegs, übernimmt Charity-Aufgaben. Sie ist kreativ, flexibel, empathisch, im Internet zu Hause, hat die Nase voll von festen Bürojobs. Deshalb arbeitet Sarah neuerdings freiberuflich und selbstbestimmt. Sie hat eine einjährige Tochter und ein Leben, das einer Achterbahnfahrt gleicht. Im Frühjahr 2020 plagen sie Geldsorgen und Zukunftsangst, sie stürzt sich in Akquisewahnsinn und ergattert für ihre Tochter einen Platz im Betahaus-Kindergarten. Nach Ostern erstickt sie in Arbeit, holt sich Unterstützung von Oma und der Freelancer-Genossenschaft. Im Sommer rauscht sie in eine Jobflaute, bekommt einen Rahmenvertrag von einer internationalen Netzwerkagentur und fragt sich: Will ich das überhaupt? Im Herbst verliebt sich Sarah in einen japanischen Australier, zieht nach Bali und arbeitet von dort aus. Im Winter zieht sie zu ihrem Lover nach Australien und erholt sich in der Natur. Der Zug des Lebens fährt wieder aufwärts. 

Hannes 2020. Bachelor in Computer Systems Engineering, Werkstudent bei Hewlett-Packard, Fernbeziehung mit Lola, ebenfalls von HP. Gleich nach dem Abschluss geht’s ins Business: Amsterdam, Oslo, Silicon Valley, egal wo. Leistung ist, wenn’s funktioniert, findet Hannes. Der Frühling bringt spannende Projekte. Alles cool, alles im Griff. Für Reflexion bleibt bei der extremen Spezialisierung keine Zeit. Maximaler Output, schnelles Tempo, niedrige Kosten, größte Flexibilität. Eine Sehnenscheidenentzündung folgt dem sechswöchigen Oslo-Projekt im Frühsommer. Ich will nicht so getrieben sein, sagt sich der 28-Jährige und startet ins Mini-Sabbatical. Wandern in der vorgezogenen Midlife-Crisis. Was will ich im Leben? Wie finde ich Balance? Andererseits: Hannes ist wieder erholt, hat sich weitergebildet und so schlimm war’s nicht. Im Herbst geht es ran ans nächste reizvolle Projekt. Die Strategie "in der Kurve runter vom Gas" hat sich bewährt.


The Long Tail of Work


Sarah und Hannes, zwei "Knowmades". Und zwei Visionen, wie ein Jahr in ihrem Leben 2020 aussehen könnte. Zu einer Zeit, in der die digitale Infrastruktur frei ist, es keine Desktopcomputer mehr gibt, sondern nur noch Clouds, in der Europa keine große Rolle mehr spielt, nur noch drei Prozent der Arbeit industriell sind, jedes Unternehmen mindestens einen Arbeitspsychologen und einen Burn-out-Berater hat und die gesellschaftlichen Unterstützungskassen auf Eigeninitiative und Sozialfonds angewiesen sind. Zwei Visionen, vorgestellt in dem Workshop "The Long Tail of Work" über das gleichnamige Projekt der "Ohu Neue Arbeit" aus dem Internet & Gesellschaft Co:llaboratory, präsentiert von Sebastian Schmidt von der Agentur publicis.  

"Wo bleiben in dieser Zukunft die Zeit und der Raum zum Nachdenken, die wir dringend brauchen, um zu guten Lösungen zu kommen?", fragt ein Mann im schwarzen Rolli. "Wir dürfen bei dieser Vorstellung von flexibler, selbst organisierter Arbeit der Bildungselite den Rest der Gesellschaft nicht vergessen", ergänzt ein anderer: "Die Bildungsfernen, die weder ganz eigenverantwortlich ihr Leben stemmen können noch in der Arbeitswelt der Zukunft Perspektiven haben. Wir, wer sonst hat die Gestaltungsverantwortung?" "Politisches Engagement ist gefragt", ruft ein Dritter, "wir müssen die sozialen Sicherungssysteme modifizieren."  

Die Zuhörer des Workshops sind sich einig: Diese Visionen einer künftigen Arbeitswelt könnten spannend sein - solange wir gebildet sind, gesund und stark. Was aber, wenn nicht?


NewThinking: Everything is open


Berlin, Freitagvormittag. Wer die Station Berlin von Großveranstaltungen wie der Modemesse Premium oder dem next-Kongress kennt, wundert sich über die Ruhe in der Luckenwalder Straße am Gleisdreieck. Der Wind zerrt an den Fahnen vor dem Eingang, die U-Bahn rattert auf der Hochtrasse vorbei. Das große Tor ist geschlossen, durch die Gittertür geht es auf das Gelände des alten Postbahnhofs hinterm Technikmuseum. Newthinking, ein Unternehmen für Open-Source-Strategien und -Projekte, hat zum Summit geladen. Es ist der erste seiner Art und - verglichen mit vielen Großevents in der Hauptstadt - ein kleiner, erlesener Zirkel. 500 Besucher streifen Mitte November, zwei Tage vor dem Wochenende, durch die alten Hallen der Station - auf der Suche nach neuen Ideen, Methoden, Visionen für die Zukunft. "Wir wollen hier den Menschen zeigen, welche Potenziale Open Source bietet, die Prinzipien dieser Methode auf dem Summit weiterdenken und auf verschiedene Bereiche anwenden", sagt Projektleiterin Claudia Brückner. Wie lassen sich mit offenen Strategien Innovationen entwickeln, Geschäftsabläufe verändern, wie lässt sich das Zusammenleben in der Gesellschaft gestalten?  

Die Macher von newthinking sind Profis auf diesem Themenfeld. 2003 gegründet, berät das Unternehmen Firmen, konzipiert Konferenzen, Workshops, Camps und entwickelt Räume im Open Web, die zur Partizipation einladen. Mitgründer Markus Beckedahl erdachte hier mit seinen Mitstreitern die heute größte Konferenz zur digitalen Gesellschaft in Deutschland, die re:publica. Beim NewThinking-Summit geht der Blick auf das Feld der Open Innovation, die derzeit an Bedeutung gewinnt. Fünf Tracks hatten die Organisatoren zu Beginn der Eventkonzeption festgelegt: open innovation, open reality, open business, open data, open track. "Wie sollen diese Tracks thematisch gefüllt werden?", fragten sie anschließend ihre Community. Gut 100 Vorschläge gingen ein, 80 Prozent der Vorträge und Workshops wurden daraus bestückt. Den Rest stellte Planer Andreas Wichmann aus eigenen Kontakten und den Ergebnissen der Online-Diskussionsreihe "everything is open" auf NewThinking zusammen.


Punkten mit Vielfalt


Etwas zugig ist es in Halle eins. Die gewaltige Fläche zwischen schmiedeeisernen Deckenträgern und rotem Backstein ist nicht in Areale geteilt, sondern weitläufig und offen, wie das Thema der Veranstaltung. Stühle, Tische, Präsentationsleinwände sind an der Wand zu lockeren Diskussions- und Vortragsrunden arrangiert. Ein Schild auf einem Stuhl am Rand verrät, in welchem Track sich der Besucher befindet, farblich einheitliche Stühle pro Themenbereich erleichtern die Orientierung. Offen hat freilich auch Haken. Wenn die Wortfetzen der Vortragsrunden ein paar Meter weiter ungebremst herüberschallen, ist manchmal doppelte Konzentration gefragt. "Mensch, geht’s nicht was leiser", zischt ein erboster Endzwanziger, der dem Vortrag über die Arbeitswelt der Zukunft folgen möchte.  

Dafür punktet NewThinking mit Vielfalt. Inwieweit öffnet sich der Innovationsprozess für die Verbraucher? Wie lassen sich offene Daten besser nutzen? Zum Beispiel, wenn man die öffentlichen Daten über Verkehrsströme nutzbar machen würde. Oder: Was bedeutet Urban Computing für das Design unserer Städte? In offenen Städten überlagern digitale Informationsspuren und Bilder unsere physische Umgebung, Städte verwandeln sich in begehbare Datenbanken, Ambient Informatics und 3-D-Screens eröffnen neue Wahrnehmungsebenen. Bilden Urban Media wirklich Realitäten ab, inwieweit beeinflussen sie diese?  

Oder: "Wie lässt sich der 3-D-Druck für jedermann nutzen?", fragte der Maschinenbauingenieur Bram de Vries, der im Berliner Betahaus das Fab Café gegründet hat, wo 3-D-Druck für jeden zugänglich ist. Und brauchen wir nicht einen offenen Zugang zur Technologie der Geräte, die wir jeden Tag nutzen? Was bedeutet es, wenn wir etwa keinen Schimmer von der Technologie von Smartphones haben, ja sie nicht mal aufschrauben können, um sie - annäherungsweise - zu begreifen, zu verstehen, vielleicht sogar reparieren oder modifizieren zu können? Fragte Miguel Ballester Salva in open reality am Donnertag und ließ die Workshop-Teilnehmer Handys aufbrechen und untersuchen (alte, mitgebrachte immerhin). "If you can’t open it, you don’t own it."  

Natürlich verändern Open Strategies auch unsere Art, zu wirtschaften. Wenn Güter zunehmend kooperativ und ohne formelle Bezahlung hergestellt werden - wie misst der Staat dann das Sozialprodukt? Wie erhebt er Steuern, um seine Ausgaben zu finanzieren? Wie erwirtschaften Einzelne ihr Einkommen, wenn sie ihre Leistungen frei zur Verfügung stellen? Und wie können sich Unternehmen auf die neue Lage einstellen? Mitmachen über die Unternehmensgrenzen hinweg wird zum Gemeingut, Kontrolle immer schwieriger, die Grenzen zwischen Professionals und Amateuren verschwimmen. Was bedeutet das für die Kolosse?


Vom System X zum System Y


Bei Ulf Brandes wurde das schnell klar: Sie müssen sich vom System X zum System Y entwickeln, erläuterte der Berliner Berater in seiner Session über "Tolle Ideen, und dann? Innovationen mit Agilem Management kollaborativ verwirklichen". "X" sind Unternehmen alten Schlages. Firmen, die Siedlern gleich vor allem Sicherheit im Kopf haben, schlicht ihre Produkte verbessern wollen oder eine Infrastruktur betreiben. "Y" sind Unternehmen neuen Zuschnitts, die wie Pioniere gerne Wagnisse eingehen, neue Märkte schaffen oder neue Firmen gründen möchten. Ideen und Innovationen entstehen bei Y. Wie also, fragt Brandes, können Unternehmen den Übergang von einem X-System zu einem Y-System schaffen?  

Die Antwort liegt auf der Hand und ist in der Umsetzung doch verdammt schwer: Über die Kultur. Denn in X-Firmen dominiert ein Menschenbild, das davon ausgeht, die Mitarbeiter motivieren, lenken und kontrollieren zu müssen, damit sie der Firma optimal dienen. Y-Firmen dagegen wollen den Mitarbeitern einen Entfaltungsrahmen bieten. Sie glauben, dass sie selbst etwas erreichen wollen. Fehlertoleranz, Partizipation, Wertschätzung sind ebenso da wie die Bereitschaft zu kleinen Schritten und der Mut zu offenen Dialogen. Daran nun fehlt es gerade in den X-Firmen. Brandes erlebt das immer wieder. Und er weiß: All das ist nichts Neues, doch die Umsetzung bleibt der Knackpunkt. Auch weil "jede Firma, die sich auf den Weg macht, das Rad neu erfindet - statt bei anderen funktionierende Methoden abzugucken".


Methodenbaukasten des 21. Jahrhunderts


Wie lassen sich Organisationen so designen, dass die Mitarbeiter Lust auf Selbstorganisation entwickeln und ihre Meisterschaft autonom einsetzen? Mit "kleinen Abkürzungen" zum Beispiel, einem Griff in den "Methodenbaukasten des 21. Jahrhunderts". Design Thinking für die offene Ideensuche, moderne Meeting-Formate mit Visualisierung (die Diskussion wird begleitend gemalt), Journaling (die Teilnehmer der Runde begeben sich mithilfe von Assoziationen vor der Diskussion auf eine Reise ins Innere, um sich über sich selbst klar zu werden), Delegation Poker (für welche Aufgaben delegieren wir Autorität an wen?) oder der Einsatz von Scrum Masters (Experten, die sich nur darum kümmern, dass sich alle im Team wohlfühlen).  

Ob es schon Unternehmen gebe, die sich auf den Weg des Wandels begeben hätten, wollte ein Teilnehmer wissen. Und Ulf Brandes erzählte von Procter & Gamble, bei dem er sechs Jahre lang gearbeitet hat. Als ein neuer Firmenchef vor Jahren die Unternehmensleitung übernahm, sagte er zu seiner Führungsriege: "Ich sehe bei unseren Meetings immer einen großen, stinkenden Elch auf dem Konferenztisch liegen - aber niemand spricht darüber." Der Elch war für den neuen Boss eine Metapher für die nicht angesprochenen Probleme im Unternehmen, die jeder sieht, aber niemand anspricht. "Ich möchte, dass sich das ändert", sagte der Boss. Und verteilte Schlüsselanhänger mit einem Elch daran an alle Manager, die sie immer dabei haben sollten. Wer das nächste Mal bei einem Meeting ein Problem sieht, das er aber nicht anzusprechen wagt, solle wortlos den kleinen Elch auf den Tisch legen. Und schon sei ein Anfang gemacht.


The Long Tail of New


Der Duft von Asiasuppe und frischem Salat zieht durch die Halle. Erschöpft lassen sich die Besucher in Strandliegen, auf Hocker und Stühle sinken. Dem Mittzwanziger in blauem Shirt sitzt noch das Journaling aus der Workshop-Runde "How does a collaboration arena work?" in den Knochen. Dass man in so großer Runde so intensiv über sich selbst nachdenken kann, jeder für sich - erstaunlich. Eine andere Teilnehmerin hat sich nach der Erkenntnisreise bei einem ähnlichen Journaling vor ein paar Tagen sogar zu einem lange herausgeschobenen Schritt entschieden: Einen Hund kaufen, um etwas für sich selbst zu tun.  

Viel wird in kleinen Talks beim Lunch über Methoden und Wege in die Zukunft diskutiert. Zwar hat man einiges schon anderswo, in anderer Form gehört - so teilt Lynda Grattons Buch Job Future - Future Jobs etwa viele Einschätzungen des Entwurfs zum "Long Tail of Work".  

Auffällig aber ist die Ernsthaftigkeit, mit der sich die Akteure hier Gedanken machen über den wichtigsten Punkt: Wie können wir die Ideen umsetzen? Wie mehr Menschen mitnehmen als die ohnehin Erfahrenen in der Y-Welt? Und was bringt uns das alles wirklich? Wie wenig bislang letztlich passiert ist, wie wenig neu "new" sein kann, zeigt sich in kleinen Momenten, wie Ulf Brandes’ Rückgriff auf das alte, ewig gute Beispiel eines innovativen Unternehmens: Procter & Gamble. Dessen zukunftsweisende Veränderungen hat der kanadische Internetguru Don Tapscott schon in seinem Buch Wikinomics beschrieben - im Jahr 2006. 


changeX 22.11.2012. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Autorin

Anja Dilk
Dilk

Anja Dilk ist Berliner Korrespondentin, Autorin und Redakteurin bei changeX.

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