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Die Zukunft von HR im Zeichen digitaler Disruption - ein Tagungsreport
Report: Winfried Kretschmer

Transformation liegt in der Luft. Von Geschäftsmodellen, von Arbeit, von Unternehmen. Getrieben von Disruption und Digitalisierung. Eine Tagung fragt nach den Konsequenzen für HR, für Human Resources. Und legt ein Dilemma bloß: Obwohl sich die Transformation der Unternehmen um die Rolle des Menschen in der Organisation dreht, tritt die Einheit, die dort traditionell für die Menschen und die Beziehungen zwischen ihnen zuständig ist, nicht als Gestalter dieses Wandels in Erscheinung. Wie aber kann sich HR neu erfinden? Durch Spaltung?

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Es war ganz am Ende der Tagung, als einer der aufschlussreichsten Sätze des Tages fiel, fast beiläufig, in der Abmoderation, zwischen Dank und Auf Wiedersehen. Thomas Sattelberger hatte die Verabschiedung übernommen, er gab einen kurzen Rückblick auf die Veranstaltung, die die Neuerfindung von HR im Zeichen von disruptivem Wandel und Unternehmenstransformation zu ihrem Thema gemacht hatte, und beinahe entschuldigend fügte er an: Wohl habe man nach Unternehmensbeispielen gesucht, wo HR den Transformationsprozess gestaltet - "aber wir sind nicht recht fündig geworden". 

Gemeinsam mit drei Mitdiskutanten hatte Sattelberger in einer Elevator-Pitch-Runde eben noch ein Fazit gezogen und die Schlussakzente gesetzt. Und brachte nun das Dilemma der Tagung, der Branche, auf den Punkt: Die Transformation, die sich in vielen Unternehmen teils ankündigt, teils bereits vollzieht, dreht sich um die Rolle des Menschen in der Organisation, doch diejenigen, die traditionell in den Unternehmen für die Menschen und die Beziehungen zwischen ihnen zuständig sind, die Personaler, die HR-Leute, drehen an diesem Rad nicht mit. Die Transformation kreist um klassische HR-Themen, HR aber ist nicht dabei. Jedenfalls nicht als Motor, nicht als Treiber dieses Wandels.  

Deswegen war man nicht fündig geworden auf der Suche nach Unternehmen, wo HR den Umbau gestaltet. Und deswegen waren Branchenfremde (sofern man solche Kategorien überhaupt noch verwenden mag in einer Zeit, da solche Grenzsetzungen sich verflüchtigen) auf der Bühne gestanden als Beispiele für gelingende Transformation von Unternehmen: eine Designerin und ein Spezialist für agiles Projektmanagement.


Für eine Neuerfindung von HR


"HR - Zukunft im Visier" lautete der Titel der Tagung, die Anfang April in der Freiheizhalle, einem zur Veranstaltungslocation umfunktionierten ehemaligen Heizwerk im Münchner Arnulfpark stattfand, in direkter Nachbarschaft zum Start-up-Zentrum der Stadt, wo sich zahlreiche Unternehmen der neuen New Economy niedergelassen haben. Es war die dritte Veranstaltung einer Reihe, die Silke Biermann vom Bildungswerk der bayerischen Wirtschaft (bbw) und Thomas Sattelberger, der frühere Personalvorstand der Telekom im Unruhestand, ins Leben gerufen haben. Das Ziel war eigentlich, den Studiengang hrmaster, den das bbw in Kooperation mit der LMU München und Professor Ingo Weller anbietet, bekannter zu machen. Das aber ist ein wenig in den Hintergrund getreten gegenüber dem ambitionierteren Anspruch, den Zustand der eigenen Profession zu reflektieren.  

Den digitalen Wandel und HR zusammenzudenken, aufeinander zu beziehen, miteinander in Reibung zu bringen, war das Anliegen. Klar, dass dies ein ungleiches Kräftemessen war. So nahm die Digitalisierung die HR-Themen nicht nur im Tagungsprogramm förmlich in die Zange. Zwei Impulsvorträge, einer am späten Vormittag, der andere am Nachmittag, setzten Disruption und Digitalisierung auf die Tagesordnung und definierten den programmatischen Rahmen für den mittleren Teil des Personalforums, der einer Standortbestimmung von HR und der Transformation von Unternehmen gewidmet war. Denn klar ist, dass HR sich dem nicht entziehen kann, auf der Tagung nicht, in der realen Welt ebenso wenig. So waren es eher bange Fragen, die den Tag im Programmheft strukturierten: Gelingt die Neuerfindung von HR? Und: Kriegt HR die Kurve?


Digitale Disruption


Doch zunächst zu Disruption und Digitalisierung. Stellt man die beiden Vorträge der Professoren Broy und Picot nebeneinander, ergibt sich eine ungemein dichte und facettenreiche Darstellung des digitalen Wandels. Sie bildeten eine starke inhaltliche Klammer und konfrontierten HR mit der zwingenden Unausweichlichkeit, die Wandel in historischer Dimension an sich hat. Um nichts anders geht es: Um einen Bruch, der mit Vier-Punkt-null-Kategorien nur sehr unzureichend beschrieben ist.  

Manfred Broy, Professor für Software & Systems Engineering an der TU München und Gründungspräsident des Zentrums Digitalisierung.Bayern, ließ indes offen, ob der digitale Wandel nun als epochaler Übergang zu einem neuen Basismedium oder - enger - als neue industrielle Revolution zu begreifen ist. Er konzentrierte sich darauf, die Digitalisierung und ihre Treiber vorzustellen, wobei eine Dimension dieses Wandels doch in Richtung Grundsätzliches zielt: "Wir lösen uns vom Ortsprinzip", so Broy, und das verändert die Art, wie Menschen miteinander interagieren, grundlegend.  

Letztlich ist es die Dichte der Entwicklungen, die den digitalen Wandel so schwer begreiflich macht. Denn es ändern sich simultan Technologie, Infrastruktur und Applikationen, so Broy. Das war zwar beim Übergang von der Pferdekutsche zur Eisenbahn nicht anders, aber die Geschwindigkeit, mit der sich die Entwicklung heute vollzieht, ist beispiellos - und hinzu kommt ein Faktor, der oftmals unterschätzt werde, so Broy: Software. Sie erzeugt schier unbegrenzte Einsatzmöglichkeiten von Technologie und Infrastruktur und ermöglicht, weil Code sich unbegrenzt - das heißt quasi ohne Transaktionskosten - kopieren lässt, mächtige Skaleneffekte. Entscheidend dabei: das exponentielle Wachstum, das dem Digitalen innewohnt, sowohl was die Rechnerleistung wie die Übertragungsgeschwindigkeit anbelangt. Hier geht es um Zahlen, "die man sich eigentlich gar nicht mehr vorstellen kann", sagte Broy, der gleichwohl ein eindrückliches Beispiel gefunden hat: Wäre die Motorleistung eines VW Golf so schnell gewachsen wie die Rechenleistung der Elektronengehirne, hätte das Auto nach zehn Jahren statt 100 bereits 10.000 PS.


Veränderungen, die auf den Kopf stellen, was wir zu denken gewohnt waren


Arnold Picot, Professor an der Forschungsstelle für Information, Organisation und Management an der LMU München und Vorsitzender des Münchner Kreises, schloss mit seinem Vortrag unmittelbar an den von Broy an. Man konnte meinen, die beiden Referenten hätten sich eng abgestimmt, so passten ihre Vorträge zusammen. Sie ergänzten sich und korrespondierten in zentralen Diagnosen: dem exponentiellen Wachstum, der Geschwindigkeit, der Bedeutung der Software, der grundlegenden Veränderung der Formen menschlicher Interaktion, nicht zuletzt auch dem Staunen angesichts einer Entwicklung, die auch spezialisierte Wissenschaftler sprachlos macht. Es geht um Veränderungen, "die auf den Kopf stellen, was wir zu denken gewohnt waren", so Picot. Es geht um Disruption. Neue technische Möglichkeiten legen Potenziale frei, von denen wir noch gar nichts gewusst haben, schaffen neue Formen der Interaktion, die wir noch nicht kannten, und lassen neue Tätigkeiten entstehen, "nur können wir noch nicht sagen, welche".  

Auf den Auswirkungen der Digitalisierung auf die Beschäftigung lag dann auch der Schwerpunkt im Vortrag des Münchener Professors. Mit Broy war sich Picot in der Grundaussage einig: Es gibt ein Arbeitsplatzwachstum im Bereich gering und hoch qualifizierter Tätigkeiten, auf mittlerem Qualifikationsniveau hingegen kommt es zu Jobverlusten. Lösen aber muss man sich von der berufsbezogenen Perspektive und stattdessen auf die Tätigkeiten schauen, so Picot: "Nie werden ganze Berufe weggewischt, sondern bestimmte Tätigkeiten in Berufen." Konkret: "Manuelle und kognitive Routinearbeit nimmt ab, manuelle und kognitive komplexe Nichtroutinetätigkeiten hingegen nehmen zu." Die Kurven auf Picots Grafik bilden ein Tal in der Mitte und stiegen zu den Rändern hin an. Entsprechend ist das Risiko, durch Digitalisierung seine Arbeit zu verlieren, über das Qualifikationsprofil der Bevölkerung verteilt. 

Picot benannte schließlich auch zwei Herausforderungen, die der digitale Wandel für den Personalbereich bereithält: zum einen die "Algorithmisierung von HR", die sich aus dem Echtzeit-Tracking aller Aktivitäten jedes Mitarbeiters ergibt - "das Arbeiten an der elektronischen Leine" also. Zum anderen findet die flexible und modulare Integration von Arbeitsformen zunehmend an den Rändern und außerhalb der Organisationen statt, so Picot, der (zusammen mit Ralf Reichwald und Rolf Wigand) die "grenzenlose Unternehmung" bereits vor zwanzig Jahren in die Diskussion eingeführt hat.


Transformation ohne HR?


Die Folge: Die digitale Disruption ist zur Herausforderung für die Unternehmensorganisation geworden. Wandel liegt in der Luft, Transformation. Doch diese Transformation der Organisationen wird kaum von HR angeführt. Die ist eher Bestandteil des Alten: eine jener Abteilungen, die mit ihren Silostrukturen und ihrem ausgeprägten Bereichs- und Besitzdenken den neuen, von der Digitalisierung vorangetriebenen vernetzten Arbeitsformen entgegenstehen. Entsprechend groß sind die Fliehkräfte, die auf die Profession wirken. Natürlich bestimmte die digitale Disruption die Tagungsdebatten in den HR-Fragen. 

Kann HR tatsächlich Geschäftstransformationen begleiten? Gelingt HR die Verknüpfung von technologischer mit sozialer Innovation in der Arbeitswelt? Hat People Analytics in Deutschland eine Chance? Und provokativ: Muss das alte HR-Handwerkszeug abgeschafft werden? Das waren die Fragen, mit der sich vier parallele Labs beschäftigten. Hier wurden neue Entwicklungen beleuchtet und Fragen thematisiert, die HRler umtreiben. "Gelingt die Neuerfindung von HR?" Das Motto der Abschlussrunde am frühen Abend stand als Leitfrage über der ganzen Veranstaltung. 

Das alles hätte Anlass für hitzige Debatten geben können, wurde aber in ruhigem, sachlichem Ton diskutiert. Emotional spürbar war nur die allgegenwärtige Sorge, ob HR das schaffen würde: die Kurve kriegen. Aufbruchstimmung, eine Lust an der Veränderung war allenfalls in den beiden Beispielen greifbar, in denen zwei Unternehmenstransformationen vorgestellt wurden: Swisscom und HEMA. Aber hier waren wie gesagt nicht HR-Leute die zentralen Akteure. 

Marco Niebling ist Experte für agiles Projektmanagement und hat den Umbau des Traditionsunternehmens HEMA, einem Spezialisten für Schneidewerkzeuge, maßgeblich ins Werk gesetzt. Bei HEMA gibt es heute außer der Geschäftsleitung keine Hierarchien mehr. Die früheren Führungskräfte mutierten zu Spezialisten, die Abteilungen wurden abgeschafft, die Mitarbeiter in Entscheidungen einbezogen. Die Teams entscheiden heute die meisten Dinge selbst - auch solche, für die sonst die Personaler zuständig sind. 

Angela Haas ist Designerin und hat bei der Swisscom die Transformation zu Human Centered Design geleitet. "Die Art, wie wir arbeiten, sichert unser Geschäft", lautete die Kernaussage ihres Vortrags, in dem sie die Bedeutung von Räumen für die Gestaltung der Zusammenarbeit wie für die von Kundenerlebnissen herausarbeitete. Haas hat das mit ihrem Designerteam - in enger Zusammenarbeit mit HR übrigens - bei Swisscom umgesetzt. Es gehe darum, "Räume zur Verfügung zu stellen". Es ist ein Paradox, dass in dem Augenblick, da der Arbeitsort dramatisch an Bedeutung verliert, Orte für die Zusammenarbeit wie für schöpferisch-kreative Arbeit zentral werden.


In etwa halbe-halbe


Was bedeutet das nun alles für die Zukunft von HR? Wirkliche Antworten waren in der abschließenden, von Jutta Rump, Professorin an der Hochschule Ludwigshafen, moderierten Elevator-Pitch-Runde mit Kurzstatements von vier Diskutanten nicht zu hören. Eher ein ernüchterndes Fazit: HR hat keine Antworten auf die disruptiven Veränderungen.  

Es war Thomas Sattelberger, der dann die Debatte zuspitzte. Reparaturarbeiten am bürokratischen Modell könnten nicht die Antwort sein. "Wenn die Geschäftsmodelle sich transformieren, wenn das System Arbeit sich transformiert, warum sollte sich nicht auch HR transformieren?", fragte Sattelberger. Seine Antwort auf die Disruption ist radikal und selbst disruptiv: "HR kann es nur packen, wenn es sich spaltet." Sprich: Sich spaltet in eine Fraktion, die die administrative HR-Arbeit macht (die im Grunde bei den Controllern in der Finanzabteilung besser aufgehoben wäre), und eine Avantgarde, die vorangeht. Die den digitalen Wandel gestalten und die Transformation der Unternehmen anführen will. Und Sattelberger gab sich kämpferisch: "Wir sind bereit, uns zu spalten!" Das war wohl der zentrale Impuls, den die Tagung den Teilnehmern mit auf den Nachhauseweg gab. Neben vielen offenen Fragen. 

Offen blieb auch die Zukunftsfrage. Als Jutta Rump die Leitfrage der Abschlussrunde "Kriegt HR die Kurve?" ans Plenum weitergab, war das Meinungsbild so gespalten wie auf der Bühne. "In etwa halbe-halbe", resümierte Rump. 

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Zitate


"Wenn die Geschäftsmodelle sich transformieren, wenn das System Arbeit sich transformiert, warum sollte sich nicht auch HR transformieren?" Thomas Sattelberger auf der Tagung "HR - Zukunft im Visier"

"Wir sind bereit, uns zu spalten!" Thomas Sattelberger auf der Tagung "HR - Zukunft im Visier"

"Wir lösen uns vom Ortsprinzip." Manfred Broy, Professor für Software & Systems Engineering, TUM

 

changeX 15.04.2016. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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