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Maschinendämmerung

The Second Machine Age - das neue Buch von Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee
Rezension: Winfried Kretschmer

Anfangs ging alles sehr langsam. Und dann plötzlich sehr schnell: Nach langer, zögerlicher Entwicklung macht die digitale Entwicklung einen großen Sprung: selbstfahrende Autos, Spracherkennung, Drohnen, Roboter - plötzlich da! Zwei Forscher vom MIT sagen: Wir treten ein in ein neues Maschinenzeitalter. Die Aussichten: zutiefst ambivalent.

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Es war ein Durchbruch in der Robotertechnik: Erstmals war es einem Forscherteam in Berkeley gelungen, einem Roboter das Handtuchfalten beizubringen. Dazu rüsteten sie einen menschenähnlichen Roboter mit Stereokameras aus und programmierten ihm alle notwendigen Arbeitsschritte ein. Tatsächlich gelang es dem Roboter, nach den Handtüchern zu greifen und sie zusammenzulegen, wenngleich nicht immer auf Anhieb und nicht eben schnell. Im Schnitt benötigte er 25 Minuten - je Handtuch. Am schwierigsten war für ihn, herauszufinden, wo das Handtuch lag und wie er es greifen konnte. Eine höchst komplizierte Aufgabe für eine Maschine. Roboter tun sich dann schwer, wenn etwas nicht exakt und standardisiert ist. Dann stößt Automatisierung schnell an ihre Grenzen.  

Keine Gefahr also für Arbeitsplätze, wo es auf komplexe Mustererkennung ankommt? Doch Vorsicht. Was Maschinen können und was nicht - und vor allem, was sie einmal können werden -, ist eine diffizile Frage. Und die Entwicklung der Automatisierung ist eine Geschichte mit keineswegs geradliniger Story. Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee, leitende Forscher am Center for Digital Business am MIT in Boston, erzählen sie in ihrem neuen Buch The Second Machine Age ebenso unterhaltsam wie anschaulich. Es ist eine Geschichte mit Verzögerungen, Ungleichzeitigkeiten und überraschenden Sprüngen. Eine Geschichte, die zeigt, dass Zukunft manchmal sehr lange braucht, um sich zu entfalten, mitunter aber zu rasanten und sprunghaften Entwicklungen neigt.


Anbruch des zweiten Maschinenzeitalters


1958 sagten die Pioniere der künstlichen Intelligenz voraus, dass spätestens 1968 ein digitaler Computer Schachweltmeister sein würde. 1965 prophezeite dann der spätere Wirtschaftsnobelpreisträger Herbert Simon, dass in 20 Jahren Maschinen alle Arbeiten würden übernehmen können, die ein Mensch erledigen kann. Beide Vorhersagen erfüllten sich nicht. Tatsächlich dauerte es bis 1997, bis ein Computer (Deep Blue) den damaligen Schachweltmeister (Garri Kasparow) schlug. Und noch längst nicht alles, was ein Mensch kann, lässt sich Robotern übertragen. Siehe oben. Doch abermals Vorsicht.  

Im Jahr 2004, vor zehn Jahren also, waren sich alle Fachleute einig, dass Mustererkennung und komplexe Kommunikation den Menschen vorbehalten bleiben würden. Insbesondere würden Computer nie am Straßenverkehr teilnehmen können, und Spracherkennung galt als ein extrem schwer erreichbares Ziel. Auch Brynjolfsson und McAfee teilten diese Ansicht. Heute stellen sie fest, dass sie sich getäuscht haben. Eindrucksvoll beschreiben sie ihre Fahrt im Google-Auto, das nicht nur keinen toten Winkel kennt, sondern sogar die toten Winkel anderer Fahrzeuge berechnet und sich sorgsam von diesen entfernt hält. Nicht nur das, auch Spracherkennung ist keine Zukunftsmusik mehr. Die Technologie ist verfügbar und funktioniert (auch wenn sie mitunter zu lustigen Ergebnissen führt). Schließlich schlug ein Computer den Menschen sogar in einer Kombination aus Mustererkennung und komplexer Kommunikation: 2011 hat der Supercomputer Watson von IBM die Quizshow "Jeopardy!" gewonnen - gegen zwei Jeopardy-Meister.  

Für Brynjolfsson und McAfee ist klar: Der digitale Fortschritt "kam erst nach und nach und dann sehr plötzlich". Seit über 50 Jahren bereits gibt es Elektronengehirne, und schon 1982 erklärte die Zeitschrift Time den Computer zur "Maschine des Jahres" - statt dem "Mann des Jahres". Doch die Entwicklung der Digitalisierung verlief langsam und blieb in ihren Möglichkeiten beschränkt. Die digitale Technik war in vielen Bereichen lange Zeit "geradezu lachhaft unzulänglich gewesen" - plötzlich aber "war sie richtig gut". Kurz: "Nach langer, allmählicher Entwicklung machte der digitale Fortschritt plötzlich einen großen Sprung. So war es in vielen Sparten, von künstlicher Intelligenz über selbstfahrende Autos bis zu Robotik." Heute stehen wir an einem Wendepunkt, "am Anfang einer Veränderung, die ebenso tief greifend ist wie die industrielle Revolution", sagen Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee: "Wir treten ein in ein neues Maschinenzeitalter." So wie 1775 mit der Einführung der Dampfmaschine. Der digitale Fortschritt, den wir in jüngster Zeit erlebt haben, sei erst "ein kleiner Vorgeschmack auf das, was noch kommt". Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann Roboter Handtücher falten können. Richtig schnell und gut.


Auf der zweiten Hälfte des Schachbretts


Drei Merkmale sind es, die Brynjolfsson und McAfee zufolge digitalen Fortschritt auszeichnen: Er ist einmal digital - und das ist mehr als eine Tautologie, denn wir erleben eine allumfassende Digitalisierung. Im Zuge digitalen Fortschritts wandern mehr und mehr Funktionen aus der analogen in die digitale Welt und werden im Strom des mooreschen Gesetzes - der Verdoppelung der Rechenleistung alle zwei Jahre (derzeit 18 Monate) - mitgerissen.  

Zweitens ist digitaler Fortschritt exponentiell, eben weil das mooresche Gesetz mit seinem kurzen Zyklus ein hohes Wachstum generiert, das um ein Vielfaches schneller verläuft als damals bei der Dampfmaschine. Für diesen exponentiellen Charakter digitalen Fortschritts finden die beiden Autoren ein sehr anschauliches Bild: Einer verbreiteten Erzählung aus dem alten Indien zufolge soll der Erfinder des Schachspiels, vom Kaiser aufgefordert, sich selbst eine Belohnung auszuwählen, Reis für seine Familie erbeten haben: Ein Korn auf das erste Feld des Schachbretts und auf jedes folgende die doppelte Menge: zwei, vier, acht und so fort. Der Kaiser willigte ein, nicht wissend, dass 63 Verdopplungen eine unermessliche hohe Zahl ergeben, auch wenn die Ausgangszahl Eins ist. Unser Gehirn tut sich nämlich schwer, exponentielles Wachstum zu begreifen - was nicht zuletzt mit der Größenordnung zu tun hat: Bis zur Hälfte des Schachbretts bewegt sich die Zahl der Reiskörner (so die Autoren unter Berufung auf Ray Kurzweil) noch in überschaubaren Dimensionen; sie entspricht bei Feld 32 mit acht Milliarden Körnern in etwa dem Ertrag eines großen Reisfeldes. Danach bewegt sie sich aber schnell ins Reich der Billionen, Billiarden und Trillionen - Summen also, die sich dem menschlichen Vorstellungsvermögen entziehen. Eben in diesen Bereich hat uns das zügige exponentielle Wachstum gemäß Moores Gesetz geführt, sagen Brynjolfsson und McAfee: Wir bewegen uns inzwischen "in einer anderen Dimension der Rechnerleistung", schreiben sie: "Wir befinden uns auf der zweiten Hälfte des Schachbretts." 

Die dritte gestalterische Kraft des zweiten Maschinenzeitalters schließlich ist Innovation. Auch das klingt zunächst wenig spektakulär, hat es aber in sich. Denn Brynjolfsson und McAfee führen ihre Argumentation hin zum Kern des Innovationsverständnisses. Sie machen sich stark für einen Innovationsbegriff, der nicht die singuläre Erfindung, sondern die permanente Neukombination ins Zentrum rückt. Sie wenden sich entschieden gegen die immer wieder ventilierte These, dass nach den Basisinnovationen Dampfkraft, Elektrizität, Verbrennungsmotor und sanitäre Infrastruktur (Wasser/Abwasser) das Innovationstempo genau besehen abgenommen habe. Die Früchte des industriellen Innovationsschubes seien nun aufgezehrt, heißt es dann gerne, um nachlassendes industrielles Wachstum zu erklären.  

Brynjolfsson und McAfee sehen das anders. Ihre Antwort: Innovation ist anders. Sie verbraucht sich nicht. Weil sie nicht in der Erfindung singulärer, großer Neuerungen besteht. Sondern darin, "bereits Bestehendes neu zu kombinieren" - und die Möglichkeiten dazu steigen im dem Maße, in dem das Wissen dieser Welt - qua Digitalisierung - immer mehr Menschen zugänglich wird. Dann wachsen auch die Möglichkeiten exponentiell. Auf der zweiten Hälfte des Schachbretts geht es um "Milliarden vernetzter Gehirne". Der Überfluss des digitalen Zeitalters ist vor allem auch ein Überfluss an Ideen, an Lösungsmöglichkeiten für die Probleme der Menschheit.  

Kurz: In dem "Innovation als Baustein"-Modell werden Innovationen nie aufgezehrt oder aufgebraucht. "Sie eröffnen vielmehr immer mehr Möglichkeiten für künftige Neukombinationen." Das ist der Kern der Theorie von der Innovation durch Neukombination - und zugleich Grundlage der "Theorie vom neuen Wachstum", für die die Autoren zusammen mit einigen anderen Ökonomen eintreten. Es ist die optimistische Botschaft dieses Buches.


Technologie kann Ungleichheit und Arbeitslosigkeit hervorrufen


Glänzende Aussichten also? Nicht ganz. Wo amerikanische Autoren gerne das Hohelied auf die Segenswirkung fortgeschrittener Technologie anstimmen, argumentieren Brynjolfsson und McAfee wohltuend differenziert. Das ist das Bemerkenswerte an diesem Buch: Trotz ihrer grundsätzlich optimistischen, teilweise sogar euphorischen Einschätzung der technologischen Revolution benennen Brynjolfsson und McAfee klar deren negative Seiten. Und sie zögern auch nicht, zwei gängige ökonomische Lehrmeinungen - respektive Weltanschauungen - vom Sockel zu stoßen.  

Da ist einmal die Annahme, technischer Fortschritt schlage sich in einem generell wachsenden Wohlstand nieder. Bildhaft gesprochen: Die steigende Flut des technischen Fortschritts wird alle Boote heben. Doch das ist ganz offensichtlich nicht der Fall. Der Reichtum, den die digitale Technologie schafft, ist gesellschaftlich höchst ungleich verteilt. Das Gefälle wächst. Der Masse der Bevölkerung geht es schlechter als zuvor (was Brynjolfsson und McAfee im Übrigen ganz exzellent an der Differenz zwischen Durchschnitts- und Medianeinkommen vorrechnen). Der digitale Wandel erweist sich als "Motor der wachsenden Ungleichheit".  

Da ist zweitens die Annahme, dass Automatisierung und technischer Fortschritt unter dem Strich mehr Jobs schaffen, als sie eliminieren. Doch die Daten zeigen, dass sich Ende der 1990er-Jahre das Beschäftigungswachstum von der Produktivität abgekoppelt hat. Die Produktivität wächst, die Beschäftigung nicht (mehr). Und Brynjolfsson/McAfee vermuten, "dass der Einfluss exponentieller, digitaler und kombinatorischer Kräfte und auch der Einzug intelligenter Maschinen und vernetzter Intelligenz künftig noch größere Verzerrungen auslösen könnten". Ihr Fazit: "Ebenso wie Ungleichheit kann Technologie auch Arbeitslosigkeit hervorrufen." Und: "Viele Menschen geraten ins Hintertreffen, während die Technologie vorprescht." 

Dennoch sind sie überzeugt, dass der von der Digitaltechnik herbeigeführte Wandel "durch und durch positiv ist". Denn unter den Vorzeichen der Digitalisierung entfalten sich neue wirtschaftliche Grundsätze, "unter denen der Überfluss die Norm ist, und nicht der Mangel". Sie sind sich sicher: Auch diese Herausforderungen lassen sich meistern. Nur wie?


Grundeinkommen mit dem Anreiz zur Arbeit


Dazu präsentieren die beiden Autoren in drei Kapiteln am Ende des Buches ihre Empfehlungen für die Gestaltung des Wandels. Leider verliert das Buch hier an Zugkraft. Nicht nur, weil den Autoren nichts grundlegend Neues einfällt. Sondern auch, weil sie ihre Vorschläge zu einem Allerweltskatalog bündeln, statt sie zuzuspitzen. Dabei haben einige ihre Vorschläge durchaus das Potenzial zur pointierten These.  

Es ist klar, dass Bildung die Generalstrategie ist, um Menschen in die Lage zu versetzen, an dem beschleunigten technischen Wandel teilzuhaben. Allerdings stimmen Brynjolfsson/McAfee nicht in den Ruf nach einer besseren Förderung der MINT-Fächer ein. Sie empfehlen vielmehr, sich bei der Bestimmung der Lerninhalte daran zu orientieren, was Computer nicht gut können. Das bedeutet, die Fähigkeiten zur Ideenbildung, zu einer breit gefassten Mustererkennung und zur komplexen Kommunikation in den Mittelpunkt einer Bildungsoffensive zu rücken, statt eine oberflächliche Technikorientierung zu propagieren. Nicht zuletzt plädieren sie dafür, die neuen technischen Möglichkeiten für neue Lernmethoden zu nutzen.  

Zweitens werfen Sie einen frischen Blick auf das bedingungslose Grundeinkommen - ihre erste Wahl ist dieses Mittel dennoch nicht. Weil es nicht zur Arbeit ermuntert. Das Instrument ihrer Wahl ist die von Milton Friedman schon 1968 vorgeschlagene negative Einkommensteuer. Denn "die negative Einkommensteuer verbindet ein garantiertes Mindesteinkommen mit dem Anreiz, zu arbeiten", so Brynjolfsson/McAfee.  

Fazit: ein fulminantes, sehr grundlegendes und anschaulich geschriebenes Buch über den digitalen Wandel, optimistisch hinsichtlich seiner Potenziale, aber wohltuend differenziert in der Einschätzung seiner gesellschaftlichen Folgewirkungen. Sehr lesenswert.  

Ein Beispiel noch. Anschaulich beschreiben die beiden Technologievordenker ihren Besuch bei Baxter, einem humanoiden Roboter der Firma Rethink Robotics. Er muss nicht mehr aufwendig programmiert werden, sondern wird intuitiv angelernt. Beine hat Baxter keine - ihm das Gehen beizubringen wäre zu aufwendig gewesen. Ein Handicap ist das dennoch nicht. An seinen Platz geschoben verbringt Baxter mit seinen "Händen" erstaunliche sensomotorische Leistungen. Nicht mehr als ein Mensch kann, aber Baxters Vorzüge liegen auf einer anderen Ebene: Er kann rund um die Uhr arbeiten, braucht wieder Schlaf noch Pausen und auch keine Krankenversicherung. Dafür ist er Multitasker und kann gleichzeitig zwei ganz verschiedene Dinge tun, denn seine beiden Arme funktionieren eigenständig. Und sein "Stundenlohn" (anteilig errechnet aus Investitions- und laufenden Kosten) liegt bei vier Dollar. Heute.  


Zitate


"Ebenso wie Ungleichheit kann Technologie auch Arbeitslosigkeit hervorrufen." Erik Brynjolfsson, Andrew McAfee: The Second Machine Age

"Kein ,ehernes Gesetz‘ besagt, dass technischer Fortschritt grundsätzlich im großen Stil Arbeitsplätze schafft." Erik Brynjolfsson, Andrew McAfee: The Second Machine Age

"Treppen steigen, Büroklammern vom Boden aufheben oder die emotionalen Signale eines verärgerten Kunden deuten können Maschinen vorerst noch nicht so gut." Erik Brynjolfsson, Andrew McAfee: The Second Machine Age

"Unsere Generation dürfte das Glück haben, zwei der faszinierendsten Ereignisse der Geschichte mitzuerleben: die Entwicklung wirklich intelligenter Maschinen und die Vernetzung aller Menschen über ein gemeinsames digitales Netz, das die Weltwirtschaft verändert." Erik Brynjolfsson, Andrew McAfee: The Second Machine Age

 

changeX 05.12.2014. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Zum Buch

: The Second Machine Age. Wie die nächste digitale Revolution unser aller Leben verändern wird. Plassen Verlag, Kulmbach 2014, 368 Seiten, 24.99 Euro, ISBN 978-3-864702112

The Second Machine Age

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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