System Error

Marco Bülow: Wir Abnicker
Text: Annegret Nill

Ein Bundestagsabgeordneter kritisiert die Selbstentmachtung des Parlaments und die Preisgabe seiner Kontrollfunktion gegenüber einer übermächtigen Exekutive. Ein ehrliches Buch über den Verfall einer Idee: Demokratie.

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Die Unzufriedenheit mit dem parlamentarischen System in Deutschland ist groß. Die Zahl der Wähler schrumpft von Wahl zu Wahl. Viele Bürger äußern sich enttäuscht zu Politikern und Demokratie, da sie das Gefühl haben, mit ihrer Stimme nichts ausrichten zu können und kein Gehör mehr bei den Politikern zu finden. Bücher und Artikel beklagen den steigenden Einfluss von Lobbyisten großer Wirtschaftsverbände auf die Gesetzgebung. Manche Autoren rufen mittlerweile dazu auf, nicht mehr wählen zu gehen. Andere klagen eher über die Parteien: Geschlossen, hierarchisch und autoritär seien sie. Im Netz hat sich deshalb bereits eine Community jüngerer Mitglieder der Zivilgesellschaft gefunden, die über alternative Demokratiemodelle ohne Parteien nachdenkt, bei denen Sachverstand und Bürgerwille wieder mehr Gewicht bekommen.
Es ist diese Stimmungs- und Sachlage, die der SPD-Bundestagsabgeordnete Marco Bülow in seinem Buch Wir Abnicker. Über Macht und Ohnmacht der Volksvertreter aufgreift und mit seiner persönlichen Erfahrung anreichert. Er diagnostiziert: „Die politische Macht konzentriert sich zunehmend auf eine kleine Elite: große Finanzakteure, Wirtschaftsführer, Medienmogule, wenige Journalisten und einige Politiker.“ In diesem Klüngel aus Lobbyisten, Expertenkommissionen und Exekutive findet die politische Willensbildung statt, in diesem Klüngel werden Entscheidungen ausgehandelt. Dem Parlament dagegen bescheinigt er Machtverlust. Schlimmer: Er bescheinigt ihm, sich selbst zu entmachten und seine grundgesetzlich vorgesehene Kontrollfunktion nicht mehr wahrzunehmen.


Zusammenspiel auf Augenhöhe


Wie das passiert, schildert er aus dem persönlichen Erleben heraus – anhand konkreter Gesetzgebungsverfahren, die er in seinen knapp acht Jahren im Bundestag begleitet hat. Da erarbeitet der zuständige Fachausschuss des Bundestags, in dem Abgeordnete aller Parteien sitzen, eine fundierte Position zu einem strittigen Thema – und wird von der Regierung ignoriert, die plötzlich einen eigenen Gesetzentwurf vorlegt, der keinem gefällt. Genügend Zeit, im Parlament zu diskutieren, gibt es nicht. Stattdessen werden Machtunterschiede genutzt und Abgeordnete mit abweichender Meinung unter Druck gesetzt. Fraktionsdisziplin heißt der Knüppel im Sack. Bülows eindrückliches Beispiel: die Kfz-Steuer-Gesetzgebung.
„Wir brauchen ein Zusammenspiel zwischen Regierung und Fraktionen auf Augenhöhe“, fordert Bülow daher. Es möchte, dass Ausschüsse und Parlament wieder mehr Macht bekommen – vielmehr, dass sie sich selbst wieder mehr Macht verleihen. Denn die Abgeordneten – und hier nimmt er sich selbst nicht aus – spielen das Spiel ja mit: Sie lassen sich unter Druck setzen, zu „Abnickern“ degradieren und beugen sich zu häufig dem Fraktionszwang. Denn davon hängt auch ab, wie ihr persönlicher Karriereweg verläuft. Wer nicht spurt, kommt nicht an Posten und kann nicht über Flügel oder Netzwerke aufsteigen. Schlimmer noch: Wer über einen sicheren Listenplatz ins Parlament einzieht, kann bei der nächsten Wahl diesen Listenplatz verlieren. Bülow ist da in einer komfortableren Position: Er wurde direkt gewählt und weiß insofern einen Wahlkreis und die Basis hinter sich. Das verleiht ihm eine gewisse Unabhängigkeit.
Dennoch: Auch seiner Karriere kann ein so ehrliches Buch schaden. Warum schreibt er es dennoch? Seine Motivation wird gegen Ende deutlich, wenn er über den Wahlkampf von 2009, die enormen Stimmenverluste der SPD und seine Wut und Enttäuschung berichtet. „Jetzt kommt es darauf an, ob die Partei aus den Fehlern lernt und eine wirklich offene Analyse anstrebt“, schreibt er. Am wichtigsten sei die Erkenntnis, „dass wir vor allem unsere politische Kultur ändern müssen, wenn wir langfristig für die Menschen eine glaubhafte Alternative darstellen wollen“. Sein Buch sieht er als Denkanstoß, als Impuls für eine Debatte, die er sich wünscht.


Mehr Demokratie wagen


Erste Lösungsvorschläge liefert Bülow gleich mit. So möchte er den Einfluss der Lobbyisten durch mehr Transparenz begrenzen: Es soll wie in den USA ein öffentliches Lobby-Register geben. Parlamentarier sollen ihre Tätigkeiten, (Neben-)Einkommen, Posten und Funktionen offenlegen. Weitere Vorschläge zielen auf Demokratisierung und Stärkung der Abgeordneten. Die fordert er auf, verkrustete Machtstrukturen aufzubrechen und in den Fraktionen wieder offen zu diskutieren – ohne Angst vor Medien oder Regierung. Er wünscht sich Urwahlen von Vorsitzenden, basisdemokratische Auswahlverfahren für den Kanzlerkandidaten, Listenplätze, die über freie Wahlen vergeben werden, eine stärkere Beteiligung der Mitglieder und Wähler sowie Elemente direkter Demokratie. Ob das reicht, um die Bürger wieder an die Parteien heranzuführen? Wer weiß. Es wäre zumindest ein Anfang.


changeX 26.03.2010. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Zum Buch

: Wir Abnicker. Über Macht und Ohnmacht der Volksvertreter. Econ Verlag, Berlin 2010, 240 Seiten, ISBN 978-3-430300421

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Autorin

Annegret Nill
Nill

Annegret Nill arbeitet als freie Journalistin, Autorin und Moderatorin in Berlin. Sie schreibt als freie Autorin für changeX.

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