Ganz für Kids

Carl-Auer Kids - das Kinderbuchprogramm des Carl-Auer Verlags
Vorgestellt von Ute Wielandt

Psychologische Kinderbücher? Warum eigentlich nicht. In der Reihe Carl-Auer Kids erscheinen Bilderbücher, die Kindern helfen, mit großen Lebensthemen umzugehen: Freundschaft, Verlust, Ängste, die Frage nach der eigenen Identität.

Von einem Verlag, der sich die systemische Psychotherapie im Besonderen und systemisches Denken im Allgemeinen auf die Fahnen geschrieben hat, erwartet man nicht unbedingt ein Kinderbuchprogramm. Kinder sind doch allenfalls das Thema, nicht aber die Zielgruppe psychotherapeutischer Bücher. Oder? 

Warum eigentlich nicht? Natürlich bringt der Carl-Auer Verlag keine Bücher heraus, die Kinder zu systemischen Therapeuten erziehen sollen. Das wäre albern. Aber es gibt Kinderbücher mit therapeutischer Wirkung - ja, im Grunde berührt jedes gute Kinderbuch wichtige Lebensthemen und kann die jungen Leser anregen und ermutigen, sie zu bewältigen. Geschichten können heilen. Ängste, Probleme oder verunsichernde neue Situationen werden von einer Identifikationsfigur stellvertretend erlebt, können unter verschiedenen Blickwinkeln dargestellt und betrachtet werden, und wenn die Hauptfigur am Ende damit zurechtkommt, kann das Kind daraus den Mut schöpfen: Das kann ich auch.


Bilderbücher, die helfen


Genau solche Bücher bringt der Carl-Auer Verlag in der Reihe "Carl-Auer Kids" heraus. Die Reihe gibt es seit 2013, wobei sie teilweise ältere oder in anderen Ländern erschienene Bücher neu auflegt. Neun Titel sind bislang als Buch, DVD und/oder Blu-Ray erschienen, zwei weitere sind für das Frühjahr 2015 in Planung. Die Bilderbücher richten sich an Kinder im Alter von drei bis zehn Jahren und behandeln Themen wie den Umgang mit Ängsten, den Umgang mit einem depressiven Vater, den Verlust eines Angehörigen, Gruppenzugehörigkeit, Freundschaft, Adoption oder die Nebenwirkungen von Medikamenten. Sie können im Rahmen einer Therapie eingesetzt werden - vorgelesen oder gemeinsam gelesen und besprochen; sie können aber auch unabhängig von einer Therapie ein Kind in seiner Entwicklung unterstützen oder schlicht und einfach zur Unterhaltung gelesen werden. Alle Titel sind von bekannten internationalen Kinderbuchautoren geschrieben und von exzellenten Grafikern liebevoll gestaltet. Ausgesucht und jeweils mit einem erklärenden Nachwort versehen hat sie die Kinderpsychologin Christel Rech-Simon; sie hat außerdem einige der Bücher selbst übersetzt.  

Zwei der Bilderbücher möchte ich hier näher vorstellen:


Wie sag ich’s meinem Adoptivkind?


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Ernest und Célestine - Célestines Fragen ist Teil einer dreibändigen Reihe der verstorbenen französischen Bilderbuchkünstlerin Gabrielle Vincent. Die Maus Célestine wird vom Bären Ernest aufgezogen, beide verstehen sich wunderbar. Aber als Célestine Ernest fragt, woher sie kommt, bringt sie ihn damit in große Verlegenheit. Denn er hat sie als Baby in einem Mülleimer gefunden und befürchtet, sie mit dieser schrecklichen Wahrheit zu verletzen. Schließlich erzählt er es ihr aber doch. Sie verarbeitet das Gehörte, indem sie die Fund-Szene immer wieder nachspielt und sich Details ihrer Kindheit erzählen lässt. Zuletzt lässt sie sich von Ernest den Fundort zeigen und kommt zum Schluss: "Was für ein Glück, dass du mich gehört hast!" 

Die Geschichte ist hauptsächlich in den wunderbar gezeichneten und aquarellierten Bildern erzählt; die ausdrucksvolle Körpersprache der beiden Figuren führt dazu, dass sich die Betrachter sofort mit ihnen identifizieren können. Der Text dazu zeigt die Gespräche und Selbstgespräche von Ernest und Célestine ohne erzählenden Text oder Kommentar. Durch diese zurückhaltende Erzähltechnik wirkt das Buch sehr behutsam und zugleich eindringlich. Es ist psychologisch fundiert, zeigt kindliche Verarbeitungsmuster und wie Adoptiveltern sie durch einfühlsamen und vertrauensvollen Umgang unterstützen können. Es wendet sich somit sowohl an Kinder ab drei bis vier Jahren als auch an ihre (Adoptiv-)Eltern oder sonstige Bezugspersonen.  

Im Nachwort für Eltern, Erzieher und Vorleser erklärt Christel Rech-Simon die Mechanismen der Verarbeitung: "Erlebtes wird im Spiel wiederholt, aber das Erleben beim Spielen ist anders als in der Ursprungssituation. Denn das Kind ist nicht ausgeliefert, sondern es kann das Spiel bestimmen." Das Nachwort ist heraustrennbar, damit das Buch älteren Kindern auch zum Selberlesen in die Hand gedrückt werden kann. Ein schöner Leserservice. Insgesamt ist das Buch durchdacht, psychologisch fundiert, liebevoll, feinfühlig, eindringlich und positiv - genau so sollte ein psychologischer Begleiter zu einem schwierigen Thema sein.


Trauerarbeit


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Ein noch ernsteres Thema hat Ganz die Mutter des irischen Autors Roddy Doyle, schön illustriert von Freya Blackwood: Es führt durch den Prozess der Trauer beim Tod eines nahen Angehörigen. Hanna hat mit drei Jahren ihre Mutter verloren. Ihr Vater ist in der Trauer erstarrt und will nicht über die Mutter reden, er hat auch alle Fotos von ihr weggeworfen. Hanna selbst ist nach außen hin ein fröhliches Kind, leidet aber darunter, dass sie sich nicht an das Gesicht ihrer Mutter erinnern kann. Als sie zehn ist, gibt ihr eine rätselhafte Frau (möglicherweise ein verkörpertes inneres Mutterbild) den Rat, im eigenen Spiegelbild die Mutter zu suchen. Damit kann Hanna ihre Erinnerung wiederbeleben und den Verlust verarbeiten; nochmals viele Jahre später gelingt es ihr, auch den Vater aus seiner Erstarrung zu lösen. Am Ende wird die Erinnerung an die Verstorbene ins Leben der Angehörigen integriert.  

Die Bilder spiegeln die Stimmung der Figuren, so ist der sich zurückziehende Vater in Grautönen wiedergegeben, die sich ihren Gefühlen stellende Hanna bunt. Dass die Geschichte - anders als sonst bei Kinderbüchern üblich - sich über Jahrzehnte spannt, zeigt auf, dass Trauer Zeit braucht. Die verschiedenen Phasen und Herangehensweisen der Trauerarbeit werden glaubwürdig und hilfreich gezeigt. Dieses Buch kann auch ein Erwachsener noch mit Gewinn lesen, es ist aber ebenso für Kinder ab fünf Jahren geeignet.


Gelungenes Experiment


Ein kleines, aber sehr gehaltvolles und liebevoll zusammengestelltes Kinderbuchprogramm ist es also, das der Carl-Auer Verlag seinen Lesern bietet. Die Bücher, allesamt wunderschön illustriert, sind klug ausgewählt und hilfreich aufbereitet. Das Experiment, in einem Psychologieverlag Bilderbücher herauszubringen, kann also nach zwei Jahren als gelungen bezeichnet werden. Bitte fortführen!  


changeX 17.12.2014. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Carl-Auer Verlag

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Zu den Büchern

: Ernest und Célestine. Célestines Fragen. Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2013, 42 Seiten, 19.95 Euro, ISBN 978-3-89670-882-3

Ernest und Célestine

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: Ganz die Mutter. Mit Illustrationen von Freya Blackwood. Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2014, 39 Seiten, 19.95 Euro, ISBN 978-3-8497-0029-4

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Autorin

Ute Wielandt
Wielandt

Ute Wielandt ist freie Texterin in Ingolstadt. Sie schreibt als freie Autorin für changeX.

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