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Ausgeschlafen

Wake up! - das neue Buch von Peter Spork
Rezension: Heike Littger

Unsere Gesellschaft ist auf Kreativität gepolt, in ihren Zeitstrukturen aber verharrt sie im Industriezeitalter. Arbeitsbeginn, Schulbeginn, Pausenzeiten, alles folgt der strengen Taktung industrieller Produktion. Biorhythmus, Schlaf- und Lichtbedürfnisse bleiben auf der Strecke. Ein Journalist und Neurobiologe sagt, wie man dem vorgegebenen Zeitkorsett mehr Ausgeschlafenheit abtrotzt.

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Peter Spork ist schon lange in Sachen Schlaf unterwegs. Wenn auch kein Forscher, so gilt der Biologe und Journalist doch als Experte auf dem Gebiet der Chronobiologie. Er hält Vorträge, gibt Interviews, schreibt Bücher: nach Das Schlafbuch und Schnarchen nun Wake up!. Spontan möchte man das Buch auf den Stapel der Fleißbücher packen. Schluss mit Schichtarbeit! Weg mit der Sommerzeit! Ein Hoch auf den Mittagsschlaf! Alles schon mal so oder so ähnlich gelesen.  

Doch Spork hat leider recht. Die Warnrufe vor einer unausgeschlafenen Gesellschaft schrillen seit Jahren durchs Land - um dann doch wieder ungehört zu verebben. "Uns Menschen scheinen die Erkenntnisse nicht anzufechten", so der Autor. "Ständig setzen wir uns über unser Schlafbedürfnis hinweg, halten fast alles für wichtiger, als ausgeschlafen zu sein. Jede noch so kleine Zerstreuung ist es uns wert, ihretwegen auf Schlaf zu verzichten." Ja noch schlimmer: Wenig Schlaf gilt als erstrebenswert - und insbesondere unter Politikern, Vorständen, Aufsichtsräten und Managern immer noch als "Beleg für hohe Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit".


Wie Betrunkene


Selbst Charles Czeisler konnte daran nichts ändern. Erinnern wir uns: Bereits 2006 beschrieb der US-amerikanische Mediziner im Harvard Business Manager eindrücklich die Folgen des absurden Arbeitsethos "vier Stunden Schlaf, acht Tassen Kaffee": Ansonsten intelligente und wohlerzogene Menschen führen sich auf wie Betrunkene. "Beschimpfen ihre Mitarbeiter, treffen unkluge Entscheidungen, welche die Zukunft ihres Unternehmens beeinflussen, und halten wirre Vorträge vor ihren Kollegen, den Kunden, der Presse oder den Shareholdern." Für den Baseler Chronobiologen Christian Cajochen setzt die Trunkenheit schon früher ein. Für ihn befinden sich Menschen, die zehn Nächte hintereinander nur sechs Stunden geschlafen haben, im Hinblick auf Leistungsvermögen, Reaktionsgeschwindigkeit, Gedächtnis und Urteilskraft bereits in einem Zustand, "als hätten sie ein Promille Alkohol im Blut". Ab 1,1 gilt zumindest hierzulande "absolute Fahruntüchtigkeit".  

Insofern ist Peter Sporks neues Buch bitter nötig - und landet auf dem Stapel der wichtigen Bücher des Jahres 2014. Nicht nur, weil er noch einmal solide und verständlich zusammenfasst, was die Wissenschaft in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten über das Schlafen herausgefunden hat - wobei Spork nur Studien zitiert, die seine Sicht der Dinge unterstreichen, gibt es nicht auch widersprüchliche Erkenntnisse? Sondern auch, weil er neben seinen Forderungen und Empfehlungen an Politik (weg mit der Pendlerpauschale, Ladenöffnungszeiten verkürzen, Nachtflugverbote ausweiten ...), Bildungseinrichtungen (Schulbeginn nicht vor 8.30 Uhr, in der Oberstufe erst um zehn Uhr, längere Mittagspausen, Vier-Tage-Woche ...) und Wirtschaft (Kernarbeitszeit erst ab elf Uhr, 30-Stunden-Woche, Recht auf Nichterreichbarkeit, Sonderurlaub nach Dienstreisen ...) etliche Tipps auflistet, die jeder sofort umsetzen könnte.


Leben ohne Rhythmus


Der Mensch, so der Autor, hat ein "permanentes, unterbewusstes Gespür für Zeit". Eine innere Uhr sozusagen, Spork nennt sie master-clock, deren Exaktheit vom Licht abhängt. Vor zwölf Jahren etwa fanden Forscher auf der menschlichen Netzhaut eine neue Gruppe von Sensoren, die sogenannten Melanopsin-Zellen. Sie messen die Helligkeit und signalisieren dem Gehirn über ihren Erregungszustand, was gerade ist: Stark erregt bedeutet helllichter Tag, bisschen erregt Dämmerung, gar nicht erregt tiefste Nacht. Im Zeitalter des künstlichen Lichts haben es diese Zellen "verdammt schwer", die richtige Botschaft zu übermitteln. Tagsüber arbeiten die meisten Menschen in schummrigen Büros oder lernen in düsteren Klassenzimmern. Den Weg dorthin legen sie in der U-Bahn oder im Pkw mit getönten Scheiben zurück. Selbst ihren Sport betreiben viele in Fitnessstudios, und wenn sie dann doch mal nach draußen kommen, setzen "erschreckend viele" Sonnenbrillen auf. Abends sitzen sie lange vor dem Bildschirm mit seinem grell-bläulichen Licht und ziehen in einem hell erleuchteten Badezimmer ihre Pyjamas an. Ganz zu schweigen von den vielen Straßenlaternen, die durch die Gardinen und Rollos schimmern.  

Die Konsequenz: Die master-clock kommt aus dem Takt und kann den Körper, die Organe, die Zellen, den Stoffwechsel nicht mehr mit den richtigen Zeitsignalen versorgen: "Zeit aufzustehen, zu essen, zu wachsen, Krankheiten zu bekämpfen, die Haut zu verjüngen, neue Ideen zu finden, herumzudösen oder zu schlafen." Die Liste mit Symptomen und Krankheiten ist lang, die mit einem Leben ohne Rhythmus in Verbindung gebracht werden: Übergewicht, Fettsucht, Schlafstörungen, Altersdemenz, Depression, Burnout, Herzinfarkt, Krebs, metabolisches Syndrom, verzögerte Geschlechtsreife bei Jugendlichen, Konzentrationsprobleme, Leistungsabfall.


Tipps für ein ausgeschlafenes Leben


Sporks Ratschläge sind demzufolge naheliegend: Wenn überhaupt, von einem Lichtwecker wecken lassen, vor dem Frühstück eine Runde um den Block drehen oder mit dem Fahrrad ins Büro fahren. Während der Arbeitszeit zwei bis drei Frischluftpausen einschieben und auf Sportarten setzen, die man im Freien absolvieren kann: Walken, Joggen, Schwimmen im See. Abends im Kino weit nach hinten setzen, helle Einrichtungen wie Fitnessstudios meiden, eine Stunde, bevor es ins Bett geht, auf Fernseher, Smartphone und Computer verzichten - oder zumindest den Bildschirm dunkler drehen. Wenn draußen Laternen mit ihrem Licht die Nacht verschmutzen, das Schlafzimmer gut abdunkeln und möglichst jeden Abend rechtzeitig und zur gleichen Zeit ins Bett gehen. Was rechtzeitig ist? "Wenn man Menschen über einen längeren Zeitraum ausschlafen lässt, schlafen sie im Mittel siebeneinhalb bis acht Stunden." Das tatsächliche durchschnittliche Schlafbedürfnis liegt vermutlich sogar noch "etwas höher".  

Spork verdeutlicht eindrücklich, dass ausreichend Schlaf kein Nice-to-have ist, sondern neben Ernährung und Bewegung als dritte Säule unabdingbar für ein gesundes, leistungsfähiges, bewusstes und langes Leben. Sich zurücklehnen und auf die schlafraubenden Umstände hinweisen, lässt der Autor nicht gelten. Zwar ist jeder mehr oder weniger eingespannt in ein vorgegebenes Zeitkorsett - die Schule beginnt um acht Uhr, Meetings dauern mitunter bis tief in die Nacht -, dennoch kann jeder dem chronischen Schlafmangel ein Stück weit selbst entkommen. Indem er jeden Tag aufs Neue entscheidet, wie intensiv er "das rund um die Uhr laufende Einkaufs-, Unterhaltungs-, Sport-, Medien- und Zerstreuungsprogramm" nutzen möchte. Bitter: Umfragen zufolge verbringen die meisten Menschen ihre Abende immer noch vor dem Flimmerkasten, anstatt ins Bett zu gehen. Oder vergnügen sich mit ihren Smartphones.  


Mutige Chronoakteure


Dennoch ist Spork zuversichtlich. Wenn er seine Blicke schweifen lässt, sieht er Schulen, die über einen späteren Unterrichtsbeginn nachdenken und mancherorts die Dauer des Gymnasiums wieder auf neun Jahre verlängern. Große Unternehmen, die mit neuen Schichtplänen experimentieren und Ruheräumen. In Göteborg startet gerade ein wissenschaftliches Experiment, bei dem 30 Angestellte der Stadt bei gleichem Lohn nur 30 Stunden pro Woche arbeiten müssen. In Norwegen setzt die Großmolkerei Tine bereits seit sieben Jahren bei vollem Lohnausgleich auf den sechsstündigen Arbeitstag und freut sich, dass die Mitarbeiter im Vergleich zu früher weniger krank sind und um 50 Prozent effektiver. Diesmal handelt Spork die mutigen Chronoakteure auf den letzten zweieinhalb Seiten ab. Fürs nächste Buch wünschen wir uns mehr davon. Spork vermutlich auch.  


Zitate


"Ständig setzen wir uns über unser Schlafbedürfnis hinweg, halten fast alles für wichtiger, als ausgeschlafen zu sein. Jede noch so kleine Zerstreuung ist es uns wert, ihretwegen auf Schlaf zu verzichten." Peter Spork: Wake up!

 

changeX 14.01.2015. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Zum Buch

: Wake up!. Aufbruch in eine ausgeschlafene Gesellschaft. Hanser Verlag, München 2014, 248 Seiten, 18.90 Euro, ISBN 978-3-446-44051-7

Wake up!

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Autorin

Heike Littger
Littger

Heike Littger ist selbständige Journalistin und wohnt in Mountain View, Kalifornien. Sie schreibt als freie Autorin für changeX.

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