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Frische Bücher

Unsere Buchvorstellungen im Spätherbst/Winter 2022

 

In unserer Buchauslese geht es dieses Mal um Narzissmus als gesellschaftsbestimmende Kraft, um die Frage, wie eine Gesellschaft damit umgeht, dass ihr die bisherige Normalität abhandenkommt, um eine vollständige Neuausrichtung von Wirtschaft und Gesellschaft in Reaktion auf die Krise der Erde, um einen ungewöhnlichen, neuen Blick auf Konflikte, um Überzeugungen und wie sie zustande kommen, um intellektuelle Bescheidenheit als Voraussetzung, Lösungen für komplexe Probleme zu finden, um Reue als unsere unverstandenste Emotion, um die Frage, was wir von anderen Kulturen lernen können, und schließlich um Winterschwimmen als K.-o.-Schlag für unsere Bequemlichkeit.

Die Qualen des Narzissmus Ich. Hier. Jetzt. Unverwechselbar.

Isolde Charim: Die Qualen des Narzissmus. Über freiwillige Unterwerfung. Zsolnay Verlag, Wien 2022, 224 Seiten, 4 Euro (D), ISBN 978-3-552-07309-8

Individualisierung, Subjektivierung, Singularisierung sind Begriffe, die die wachsende Bedeutung des Einzelnen in modernen Gesellschaften zu beschreiben versuchen. Früher bedeutete das Individuum nichts, heute alles. Eine Entwicklung, die offenbar noch nicht an ihr Ende gekommen ist. Aber was treibt und wohin führt sie? Und was bedeutet die veränderte Rolle des Individuums für die Gesellschaft? Isolde Charim wählt als Ausgangspunkt eine subjektive Perspektive, "ein altes Erstaunen". Sie fragt: "Warum sind wir mit dem Bestehenden einverstanden?" Warum fügen wir uns - freiwillig? Ihre Antwort: "Narzissmus ist die Art, wie wir uns heute freiwillig unterwerfen." Narzissmus ist nicht Egoismus, bedeutet nicht Eigenliebe, nicht aggressive Durchsetzung der eigenen Interessen. Narzissmus meint die Orientierung an und das Streben nach einem idealen Ich: "Narzissmus bedeutet freiwillige Unterwerfung unters Ich-Ideal. (...) Freiwillige Unterwerfung unter das Bild von ‚sich‘, mit dem man nicht übereinstimmt. Welches man aber zu verwirklichen sucht." Die Autorin fasst Narzissmus jedoch nicht als psychologisches, als individuelles, sondern "als gesellschaftsbildendes, gesellschaftsbestimmendes Moment". Genau darin liegt die Sprengkraft ihres Buches: in der These, dass Narzissmus "zu einer gesellschaftlichen Forderung geworden ist", zu einer sozialen Form. Zwang wird ersetzt durch subjektiven Antrieb. Jeder wird sich selbst zum Maßstab - genauer: das, was er sein könnte, sein ideales Ich. Nicht austauschbar, nicht vergleichbar, einzigartig zu sein, ist das Streben. Dieser neue Modus ersetze das Konkurrenzprinzip, so Charim: "Einzigartigkeit, Eigenwert bedeutet die Überschreibung der Konkurrenzverhältnisse durch Narzissmus." Anders gesagt, habe der Wettbewerb selbst sich verändert: "Es ist ein gesellschaftlicher Narzissmus, der uns gegeneinander in Stellung bringt." Narzissmus sei zur vorherrschenden Ideologie geworden, ein antigesellschaftliches Prinzip, eine unmittelbare Selbstgewissheit, die alles auf sich bezieht, bei der man sich immer gemeint fühlt: Ich. Hier. Jetzt. Unverwechselbar. Doch was bedeutet das für eine Gesellschaft, wenn die gefühlte Identität zur letzten Wahrheit wird? Wenn die Anerkennung, der die Selbstsetzung noch immer bedarf, zum bloßen Echo gerät? Dann wird der Selbstbezug zur Qual, so Isolde Charim, die am Ende weder eine Befreiung, noch ein Scheitern des Narzissmus an den eigenen Widersprüchen als Aussicht anbieten kann. "So bleibt uns nur die Feststellung: Die Ideologie des Narzissmus ist eine Sackgasse." Ein düsteres Buch mit einer starken These und einem erschreckenden Ausblick.
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Nicht mehr normal Normalität als soziale Praxis

Stephan Lessenich: Nicht mehr normal. Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs. Hanser Berlin, Berlin 2022, 160 Seiten, 23 Euro (D), ISBN 978-3-446-27383-2

Vor dem Hintergrund einer die Welt bedrohenden Klimakatastrophe bricht eine Pandemie aus, und dann noch ein Krieg in Europa? Ein Drehbuch mit einem solchen Plot wäre vor drei, vier Jahren wohl noch krachend abgelehnt worden. Doch beschreibt dieses Szenario nur die neue Normalität unserer Welt, eine Normalität, die eben darin besteht, dass nichts mehr normal ist. Das ist das Thema des neuen Buchs von Stephan Lessenich: Nicht mehr normal. Darin geht es darum, "wie eine Gesellschaft damit umgeht, dass ihr die bisherige Normalität abhandenkommt". Deutschland heute, das sei "eine Gesellschaft, deren Normalitätsproduktion ins Stocken geraten ist", so der Soziologe, "eine Gesellschaft, die das Alte nicht halten und das Neue nicht denken kann". Dem spürt der Autor entlang der Themen Finanzkrise, Migration, Klimakrise und Aufbegehren gesellschaftlicher Minderheiten und, natürlich, vor dem Hintergrund der Coronakrise nach. Immer geht es dabei um die "soziale Konstruktion von Normalität", um Normalität als soziale Praxis, die aber, so macht das Buch deutlich, auf Irrationalitäten basieren und Illusionen befördern kann. Exemplarisch das Thema Klima und wie es so weit kommen konnte. Lessenich verortet den fundamentalen Widerspruch modernen Wirtschaftens darin, einerseits die Welt als Welt der Knappheiten darzustellen und die Ökonomie als effizienten Umgang mit knappen Mitteln zu verstehen, "zugleich aber, und zwar bis in die allerjüngste Vergangenheit hinein, in der Vorstellung ewig sprudelnder natürlicher Ressourcenquellen zu leben". Die daraus resultierende akute Abhängigkeit des Wirtschaftsmodells von der beständigen Zufuhr riesiger Mengen an fossiler Energie "ist nicht weniger als die Signatur der Moderne". Die industrielle Moderne beruhe maßgeblich auf einer "Kultur und Infrastruktur des Fossilismus". Dieser aber steckt - und das ist das Resultat von Normalisierung als sozialer Konstruktion - in den Köpfen aller. Und so sind wir alle aufgefordert, "die Macht der Illusion zu brechen … dass wir mit den alten Rezepten weiter-, ja auch nur ansatzweise durchkommen könnten".
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Das Zeitalter der Resilienz Lernen von der Natur

Jeremy Rifkin: Das Zeitalter der Resilienz. Leben neu denken auf einer wilden Erde. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2022, 360 Seiten, 2 Euro (D), ISBN 978-3-593506647

Abermals bemüht Bestsellerautor Jeremy Rifkin das Bild eines epochalen Wandels als Titel seines neuen Buches. Immer bringen Rifkins Bücher Zeitströmungen auf den Begriff. Nicht im Sinne einer Prognose. Sondern als Entwurf einer möglichen Zukunft. So ist es auch mit seinem neuen Buch, in dem Rifkin abermals das Bild eines Epochenwandels zeichnet. Anpassungsfähigkeit steht im Mittelpunkt eines grundlegenden Umbruchs in Reaktion auf Klimawandel, Artensterben und Pandemien als Anzeichen einer zunehmend instabiler werdenden, einer "verwildernden Erde". Das erfordere eine vollständige Neuausrichtung von Wirtschaft und Gesellschaft - einen "Wechsel von Effizienz zu Anpassungsfähigkeit, Fortschritt zu Resilienz, Produktivität zu Erneuerbarkeit, externen Effekten zu Kreislaufwirtschaft, Eigentum zu Zugang und Bruttoinlandsprodukt zu Lebensqualität". Rifkin geht es um ein neues Weltverständnis, um einen großen Paradigmenwechsel im Denken und um eine völlig andere Art des Wirtschaftens. Rifkins radikale Gegenposition zum westlichen Rationalismus heißt: Lernen von der Natur. Die Natur ist unsere Schule, das ist die wohl wichtigste Lehre. Sein Buch erklärt, wie die klassische Wirtschaftslehre basierend auf einem mechanistischen Weltverständnis und fixiert auf Effizienz den Klimawandel ignorierte. Und es zeigt, wie ein neues Verständnis des Menschen und seiner Rolle in der Welt zumindest die Chance eines Auswegs eröffnet. Wir müssten "das Leben auf der Erde und unseren Platz auf ihr ganz neu denken", fordert der Autor. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse zeichneten ein neues Bild des Menschen wie des Lebens insgesamt. Ein Bild, in dem alles miteinander verbunden und alles im Fluss ist. Mit diesem neuen Paradigma rückt die Verbundenheit allen Lebens auf der Erde in den Blickpunkt. Die Schlüsselkonzepte dabei: Resilienz, Biophilie, Lernen von der Natur und ein demokratisch geformter Bioregionalismus. Alles Themen der Zeit, die Rifkin zu einer großen Erzählung verbindet.
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Konflikt Konflikte aus der Zukunft

Armen Avanessian: Konflikt. Von der Dringlichkeit, Probleme von morgen schon heute zu lösen. Ullstein Verlag, Berlin 2022, 400 Seiten, 24.99 Euro (D), ISBN 978-3-550201790

Konflikte sind allgegenwärtig. Sie treten zwischen einzelnen Menschen auf, im Arbeitsalltag, in Beziehungen, zwischen Organisationen und sozialen wie politischen Gruppen, zwischen Staaten und Staatengruppen. Doch was unterscheidet einen Konflikt eigentlich von benachbarten Begriffen wie Streit, Auseinandersetzung, Konfrontation, Kampf oder gar Krieg? Genau besehen ist es alles andere als klar, was ein Konflikt ist und was ihn auszeichnet. Der Philosoph und politische Theoretiker Armen Avanessian, Professor für Medientheorie an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen, bemüht sich nun um eine begriffliche und theoretische Klärung. Und kommt dabei zu überraschenden Einsichten, die quer liegen zu dem gewohnten Begriffsgebrauch und -verständnis. Er sagt: Entgegen der üblichen Ansicht, die Konflikte in der Gegenwart verortet oder aus der Vergangenheit ableitet, "sind diese immer erst herzustellen und liegen somit in der Zukunft". Konflikte lassen sich auch nicht auflösen, denn sie gehören zu dem Kontext, in dem sie auftreten. Sie sind essenzieller Teil einer Person oder Gesellschaft. Und sie sind auch keine Gefahr, sondern - richtig verstanden - Ansatz zur Lösung der dahinter liegenden Probleme. Konflikte, wie sie mit Klimawandel, Umweltveränderungen und Digitalisierung verbunden sind, machten eine fundamentale Einsicht deutlich, so Avanessian: "Konflikte kommen aus der Zukunft auf uns zu. Darum müssen wir sie auch von der Zukunft her verstehen." Um die Probleme von morgen schon heute zu lösen - "denn wenn wir das erst in der Zukunft versuchen, wird es höchstwahrscheinlich zu spät sein". Keine gute Aussicht fürs Klima. Aber eine Lehre für den Umgang mit Konflikten, die kommen.
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Die Illusion der Vernunft Viel weniger rational, als wir denken

Philipp Sterzer: Die Illusion der Vernunft. Warum wir von unseren Überzeugungen nicht zu überzeugt sein sollten. Ullstein Buchverlage, Berlin 2022, 320 Seiten, 23.99 Euro (D), ISBN 978-3-550201325

Wie können Menschen felsenfest von Dingen überzeugt sein, die ganz klar und eindeutig falsch sind? Das ist die Ausgangsfrage des Buches von Philipp Sterzer. Darin geht der Neurologe, Psychiater und Hirnforscher der Frage nach, wie Überzeugungen in unseren Köpfen entstehen. Seine Kernthese ist, "dass Überzeugungen, wie ‚normal‘ oder ‚verrückt‘ sie uns auch erscheinen mögen, immer nur Hypothesen sein können". Sich also als falsch erweisen können. Dennoch sind wir überzeugt von unseren Überzeugungen. Und sehen auch nicht, dass wir bei deren Ausbildung systematisch kognitiven Verzerrungen unterliegen, wobei der Umstand, dass wir uns dessen meistens nicht bewusst sind, seinerseits als kognitive Verzerrung bekannt ist, so Sterzer: die sogenannte Verzerrungsblindheit. "Wir haben einen blinden Fleck für unsere kognitiven Verzerrungen." Zusammengenommen heißt das: Wir sind in unserem Denken viel weniger rational, als wir denken. Rationalität als Illusion. Verrückt ist das wiederum nicht, sondern durchaus funktional, so der Autor. Denn unsere Überzeugungen helfen uns, "uns einen Reim auf die Ungereimtheiten in der Welt um uns herum zu machen". Das ist der Kern der Theorie des Predictive Processing, übersetzt vorhersagende Verarbeitung - "die Idee vom Gehirn als aktive Vorhersagemaschine". Demnach bildet unser Gehirn die Welt da draußen nicht bloß ab, sondern entwickelt fortlaufend Vorhersagen über Ereignisse dort und die Sinneseindrücke, die es erreichen. "Aus der Kombination seiner Vorhersagen mit den verfügbaren, oft unsicheren Sinnesdaten konstruiert das Gehirn so unsere Wahrnehmung der Welt." Letztlich bedeutet das, dass jedes Gehirn seine eigene Welt erzeugt. In einen Solipsismus führt die Theorie dennoch nicht. "Wir sollten einen rationalen Umgang mit unserer Irrationalität finden", postuliert Sterzer. Indem wir unsere Überzeugungen eben nicht als feststehende Tatsachen begreifen, sondern als Hypothesen. Und uns so "aus der Festgefahrenheit unserer eigenen Überzeugungen befreien". Und die Leugner, die Dinge weitab jeder Evidenz und Wahrscheinlichkeit glauben? Durch Nachfragen den Wunsch zu signalisieren, sein Gegenüber besser verstehen zu wollen, könne helfen, Gräben zu überwinden. Sterzer möchte vermitteln, "dass es nicht aussichtslos ist, mit Andersdenkenden zu reden".
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Manifest der intellektuellen Bescheidenheit Von der Ich-Zentrierung zur Gelassenheit

Hans A. Wüthrich: Manifest der intellektuellen Bescheidenheit. Problemlösung neu denken. Verlage Versus und Vahlen, Zürich und München 2022, 166 Seiten, 24.90 Euro (D), ISBN 978-3-8006-7004-8

Zwei Beobachtungen hätten ihn in seinem Berufsleben fortwährend irritiert, schreibt Hans A. Wüthrich, emeritierter Professor für Internationales Management: Erstens, dass es trotz immer mehr Wissen nur selten gelinge, passende und robuste Lösungen für die vielfältigen und drängenden Probleme unserer Zeit zu finden. Und zweitens der Nachdruck, mit dem viele Beteiligte versuchten, die Welt zu erklären und ihre Sicht durchzusetzen. Also eine selbstüberschätzende Welterklärung verbunden mit der Haltung, recht haben zu müssen, die eigene Lösung durchzusetzen und Erreichtes zu verteidigen. Statt mit Zukunftshoffnung ergebnisoffen und gemeinsam Neues zu denken. Mit Erschrecken registriert Wüthrich, dass nur wenige der Welterklärenden sich der limitierenden Wirkung der eigenen Haltung bewusst sind. Diese Spezies sei nur begrenzt in der Lage, "zu sehen, dass sie nicht sieht, was sie nicht sieht". Wüthrichs Buch versteht sich als Weckruf, es ist der Versuch, eine Problemlösungsheuristik zu entwerfen, die zu besseren Lösungen führt. Kurz gesagt: "Wir müssen Problemlösung neu denken." Und es versteht sich als Appell an die Bescheidenheit, verstanden als eine neuartige Qualität von Demut: als intellektuelle Bescheidenheit. Das bedeutet: bereit zu sein, an sich selbst zu arbeiten. Beginnend damit, die Pluralität der Anschauungen zu billigen, statt die eigene Deutungshoheit zu verteidigen. "Bei der intellektuellen Bescheidenheit handelt es sich um eine auszubildende innere Souveränität, die es einem erlaubt, sich vom Habitus der Ich-Zentrierung, der rechthaberischen Deutungshoheit, der naiven Omnikompetenz und des trügerischen Wissens zu emanzipieren." Diese gelebte innere Souveränität führe zu einem Zustand der Gelassenheit. Einer "Gelassenheit, die hilft, passende Lösungen für komplexe Probleme zu finden".
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Die Kraft der Reue Unsere unverstandenste Emotion

Daniel H. Pink: Die Kraft der Reue. Wie der Blick zurück uns hilft, nach vorne zu schauen. Ullstein Buchverlage, Berlin 2022, 288 Seiten, 20.99 Euro (D), ISBN 978-3-793424499

"Gebt der Reue keinen Raum", propagierte Norman Vincent Peale, der Pionier des positiven Denkens. "Ich glaube nicht an Reue", sagt Angelina Jolie. Sagt Bob Dylan. Sagt John Travolta. Und auf zahllosen Buchcovern steht in dicken Lettern "No Regrets" oder "Ohne Reue". Diese Aufzählung ließe sich beliebig verlängern. Die vielfach propagierte Anti-Reue-Philosophie sei so offensichtlich wahr, dass sie öfter bestätigt als bestritten wird, schreibt Bestsellerautor Daniel H. Pink. "Warum sollten wir den Schmerz einladen, wenn wir ihn vermeiden können?" Diese Weltsicht ergebe intuitiv Sinn. Sie habe nur einen Fehler, so Pink: "Sie ist nämlich total falsch." Oder mit einem wohlgewählten Wort: "Schwachsinn". Pink möchte zu einem neuen Verständnis "unserer unverstandensten Emotion" anregen und Reue aus ihrem Schattendasein herausführen. Er schreibt: "Reue ist nichts Gefährliches oder Anormales, kein Umweg auf dem andernfalls direkten Weg zum Glück. Sie ist gesund und allgegenwärtig, ein wesentlicher Teil des Menschseins. Reue ist auch wertvoll: Sie wirkt klärend. Bringt einem was bei. Wenn wir richtig mit ihr umgehen, muss sie uns nicht runterziehen; sie kann uns Auftrieb geben." Dieser U-Turn in der Wahrnehmung von Reue ist nicht aus der Luft gegriffen, sondern reflektiert den erweiterten Erkenntnisstand: zum einen die psychologische Forschung der letzten 70 Jahre - Pink erwähnt explizit Daniel Kahneman und Amos Tversky, die die Grundlagen für ein neues Verständnis von Reue legten und (auch hier) eine Wende einleiteten; zum anderen Daniel Pinks eigene Forschungsprojekte mit einer Vielzahl von Interviews mit Menschen in aller Welt. Auf dieser Grundlage erkundet sein Buch die Tiefenstruktur der Reue und will zu einem neuen Umgang mit ihr anleiten. Das gelingt, wie von diesem Autor nicht anders zu erwarten, ganz wunderbar. Leichtfüßig, auf den Punkt und mit überraschenden Einsichten und Beispielen.
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Was wir von anderen Kulturen lernen können Einen neuen Blick auf die Welt ermöglichen

Gundula Gwenn Hiller: Was wir von anderen Kulturen lernen können. Für neue Perspektiven auf uns und die Welt. GABAL Verlag, Offenbach 2022, 208 Seiten, 5 Euro (D), ISBN 978-3-96739-115-2

Kulturen sind unterschiedlich. Klar. Doch statt kritisch auf die Unterschiede zu schauen, lässt sich auch fragen: Was können wir voneinander lernen? Das ist die Ausgangsfrage des Buchs der Kulturwissenschaftlerin Gundula Gwenn Hiller, Expertin für interkulturelle Kompetenz und Migration. Ihr ressourcenorientierter Blick fokussiert dabei auf Weisheit, "also auf dem kollektiven Wissen um ein gutes Leben, das von Kultur zu Kultur variiert". Ihre Beobachtung: "Offenbar verfügen manche Kulturen über Weisheitsformen, die unabhängig von materiellem Besitz oder Bildung Einfluss auf Glück und Wohlbefinden haben." Das ist der Ausgangspunkt einer Gedankenreise, die durch unterschiedliche Kulturen führt und dabei Konzepte, Methoden und Lebenshaltungen vorstellt, von denen manche immer mal wieder unter der Rubrik Lebenshilfe in Magazinen und Verlagsprogrammen auftauchen, hier aber in einen Kontext gestellt werden. Beispiele: die skandinavischen Lebensphilosophien Hygge (Dänemark), Lagom (Schweden) und Sisu (Finnland), die auf Behaglichkeit, Ausgewogenheit und Naturliebe Wert legen; Fika, die schwedische Form des Kaffeekränzchens zur Festigung sozialer Beziehungen; die Ubuntu-Philosophie, die ein tiefes Wissen um die Verbundenheit zwischen allen Menschen pflegt und in einer gelebten Praxis zum Ausdruck bringt; die Liebende-Güte-Meditation, die altruistisches Verhalten stärkt; der Innovationsansatz Jugaad, der auf innovative und improvisierte Lösungen setzt und Minderheiten bewusst mit einbezieht; Ikigai sucht einen Gleichklang zwischen Begeisterung, Talenten, seinem Wert und seinem Beitrag zur Welt; oder auch das costa-ricanische Lebensgefühl des Pura Vida, das auf Lebensfreude, zwischenmenschliche Beziehungen und Gelassenheit abstellt; Nunchi lehrt, ein Gespür für den Raum und soziale Beziehungen zu entwickeln; Wabi Sabi lädt ein, die Schönheit im Schlichten und Unperfekten zu entdecken; auch Zen und Achtsamkeit bis hin zum chinesisch-taoistischen Wu Wei, das ein Tun in Gelassenheit und Akzeptanz zur Grundlage des Alltags macht, sind im Buch vertreten - alles "Weltanschauungen, Lebensphilosophien, Konzepte oder auch einfach Ideen, die uns neue Perspektiven, einen neuen Blick auf die Welt ermöglichen", so die Autorin. Und die sogar helfen könnten, individuelle und gesellschaftliche Herausforderungen zu bewältigen. Wie die Weltsicht indigener Völker, nach der alles mit allem zusammenhängt und alles belebt ist - eine Sichtweise, die einen neuen Blick auf die Erde und den Umgang mit ihren Ressourcen eröffnen kann. Einen neuen Blick, den wir dringend brauchen, so die Autorin. So wahr.
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Winterschwimmen Die Kälte akzeptieren - und lieben - lernen

Susanna Søberg: Winterschwimmen. Wieso uns kaltes Wasser gesünder und glücklicher macht. Piper Verlag, München 2022, 272 Seiten, 20 Euro (D), ISBN 978-3-492-06328-9

Der Winter kommt. Und was nun? Die Heizung zurückdrehen, weniger lang duschen und nicht so warm? Oder gleich den Waschlappen nehmen? Wem das nicht reicht, dem sei ein Buch empfohlen, das einen grundlegenden Einstellungswandel zum Winter empfiehlt. Eiskalt statt bloß ein bisschen kühler: Winterschwimmen. Das Buch der jungen dänischen Wissenschaftlerin Susanna Søberg macht deutlich: Schwimmen im Winter ist keineswegs ein neumodischer Extremsport, sondern eine sehr alte Praxis, die überall auf der Welt verbreitet ist. "Es ist faszinierend, wie weitverbreitet das Winterschwimmen in aller Welt ist", schreibt die Autorin. Winterschwimmen, manchmal auch Eisschwimmen genannt, hat in vielen Kulturen Tradition. Es wird im Grunde überall dort praktiziert, wo es im Winter kalt genug wird. Das Interesse am Winterschwimmen habe in den letzten Jahren bereits zugenommen, berichtet die Autorin, während der Pandemie aber habe sich eine wahre Begeisterung fürs Winterschwimmen entwickelt. Nicht ohne Grund. Denn der Kontakt mit kaltem Wasser regt den Kreislauf an, stärkt Immunsystem und Kälteresistenz und hebt durch die Ausschüttung von Hormonen wie Endorphinen und Dopamin die Stimmung. Winterschwimmer berichten immer wieder von einem Zustand kontemplativer Ruhe, der sich im kalten Wasser einstellt. Søberg beschreibt eingehend, was sich im Körper beim Kontakt mit kaltem Wasser abspielt - vom anfänglichen Kälteschock mit intensivierter Atmung bis zur darauffolgenden Beruhigung und Entspannung. Die Autorin empfiehlt, mit dieser Situation bewusst umzugehen: "Dein Verstand muss die Kälte nur akzeptieren, und du musst deine Atmung im Griff haben." Die physiologische Reaktion helfe dem Körper, sich zu entspannen. Zweifellos ist die Autorin überzeugt von den positiven gesundheitlichen und psychischen Wirkungen des Winterschwimmens und ist selbst zur begeisterten Anhängerin dieses Sports geworden. Dennoch will sie den Hype nicht weiter befeuern (wie manche andere Bücher), sondern rät zur Vorsicht: "Regelmäßiges Winterschwimmen wirkt sich positiv auf das Herz-Kreislauf-System, das Hormonsystem, das Immunsystem und die Psyche aus. Für unerfahrene Winterschwimmer*innen und Herzkranke ist es jedoch mit beträchtlichen gesundheitlichen Risiken verbunden." Viel Geduld und ein Eingewöhnungsprogramm unter kompetenter Anleitung seien für einen sicheren Einstieg anzuraten. Dann aber eröffne Winterschwimmen eine veränderte Einstellung zum Winter, ein intensiviertes Naturerleben und ein Ausbrechen aus eingeschliffenen Gewohnheiten und Routinen: "Kaltes Wasser ist ein richtiger K.-o.-Schlag für unsere Bequemlichkeit." Definitiv die beste Anleitung für einen Einstieg ins Winterschwimmen.
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