Tacheles reden auf offener See
Japaner gründeten eine Friedensuniversität, die ständig rund um die Welt schippert.
Von Michael Gleich
Auf dem Peace Boat geht es anders zu als auf anderen Kreuzfahrtschiffen - die Passagiere überfallen nicht als kamerastarrende Trupps die üblichen Sehenswürdigkeiten, sondern erkunden auf behutsame Weise kulturelle Eigenheiten, örtliche Problemlagen und kreative Lösungen. Weltweit. Was genauso wichtig ist: Auf dem Schiff als Refugium, unterwegs in neutralen Gewässern, können erklärte Feinde offen miteinander reden, was in der vergifteten Atmosphäre ihrer Heimatländer unmöglich wäre.
Schwimmende Uni
Schwimmende Uni: An Bord
studieren junge Japaner, aber
auch Menschen aus Konflikt-
regionen Themen wie Globali-
sierung und Friedensarbeit.
Das Schiff frisst seine Passagiere, einen nach dem anderen. Es verdaut sie in seinem 150.000 Bruttoregistertonnenbauch. Fermentiert sie im Salzwasser der sieben Meere. Und spuckt sie, nachdem es sie einmal um den Erdball geschaukelt hat, drei Monate später wieder aus: quicklebendig, aber völlig verwandelt.
Bereits am Tag 30 auf See, irgendwo zwischen dem ägyptischen Port Suez und dem griechischen Hafen Piraeus, zeigen sich bei der Chinesin Jingjing die ersten Anzeichen einer Metamorphose. Die 22-Jährige ist völlig verwirrt. "Ich weiß nicht" - so beginnen viele ihrer Sätze. Zum ersten Mal in ihrem Leben hat sie ihr Heimatland verlassen, um in Tokyo das Peace Boat zu besteigen. In Taiwan, beim Erzfeind, ist sie seitdem gewesen, in Vietnam, beim unbekannten Nachbarn, in Singapur, "wo alle im Kaufrausch waren", und in Eritrea, "wo die Menschen noch ärmer sind als bei uns in ländlichen Gebieten". Jeder Landgang ein Kulturschock, und an Bord ist sie konfrontiert mit 981 Japanern, deren Gewohnheiten sie zusätzlich befremden.
Die Koordinaten scheinen nicht mehr zu stimmen, an denen sich Jingjing stets orientiert hatte. Für Positionsbestimmungen ist in China die Partei zuständig, das hat die Studentin zwar mal kritisiert, aber nie grundsätzlich bezweifelt. Und jetzt? "Ich weiß nicht", sagt sie, "wenn ich zurück in Beijing bin, werde ich einiges überprüfen müssen." Behaupten doch die Funktionäre beispielsweise, fast alle Taiwanesen sehnten sich danach, heim ins Reich der Mitte geholt zu werden. Doch auf dem Schiff traf Jingjing den gleichaltrigen Tarko aus Taipeh, und der erzählte eine ganz andere Version: Außer ein paar Ewiggestrigen plädierten fast all seine Landsleute für die Unabhängigkeit der Insel. Was ist die Wahrheit?

Ein Forschungsschiff in Sachen Frieden.


Feste Gewissheiten geraten auf dem Meer ins Schwanken. Und genau das ist die Absicht dieser Kreuzfahrten der anderen Art. Sie werden seit 20 Jahren von der japanischen Freiwilligenorganisation Peace Boat veranstaltet. Auf dem gleichnamigen, 200 Meter langen Dampfer mit neun Decks bietet sie einen Komfort wie auf kommerziellen Ozeanlinern. Ungewöhnlich ist es dagegen, Häfen wie Massawa in Entwicklungsländern wie Eritrea anzulaufen und dort beim Wiederaufbau einer Schule zu helfen, oder in Japan Computer zu sammeln, um sie in den Favelas von Rio de Janeiro zu verteilen. Bei solchen Landgängen und in den Vorlesungen an Bord können die rund 1.000 Passagiere im Wortsinne er-fahren, dass es jenseits des Horizonts mehr zu entdecken gibt als Disneyländer und Hofbräuhäuser: die ganze Vielfalt des Lebens, inklusive Konflikten, Armut, Unterentwicklung. Peace Boat-Passagiere überfallen nicht als kamerastarrende Trupps die üblichen Sehenswürdigkeiten, sondern erkunden auf behutsame Weise kulturelle Eigenheiten, örtliche Problemlagen und kreative Lösungen. Mit 21 Knoten schippert das Forschungsschiff in Sachen Frieden um die Welt, eine Entdeckung in Langsamkeit, angetrieben von einem 21.000-PS-Diesel und dem optimistischen Credo: "Peace is possible!"

Peace Boat vor Dubrovnik
Freiheit der Meere: Dreimal im
Jahr umrundet das Peace Boat
den Globus, mit rund 1.000 Passa-
gieren an Bord. Hier vor dem
kroatischen Dubrovnik.
Neben Jingjing und Tarko sind vier weitere "Internationale Studenten" an Bord: der Israeli Itay, die Palästinenserin Iba, der Amerikaner Tyler, die Südkoreanerin Narae, alle Anfang 20. Das Programm holt junge Menschen aus Konfliktregionen (ja, auch die USA wird als solche betrachtet!) mit einem Stipendium ins Boot. Das Thema der heutigen Arbeitsgruppe ist wahrlich universal: Männer, Frauen und der ewige Machtkampf der Geschlechter. Da kann jeder mitreden. "Im Hause meines Großvaters sitzen nur die Männer am Tisch. Die Frauen hantieren in der Küche und tragen die Speisen auf", erzählt Jingjing. Israel sei weltweit führend beim Mädchenhandel, berichtet Itay. Palästinensische Männer hielten im Kreißsaal, während der Geburt, die Hände ihrer Frauen, behauptet Iba. Ihre Mutter sei zwar Feministin, sagt die Südkoreanerin Narae, aber ohne Ehemann und Kinder "hätte sie sich als Verliererin gefühlt". Tyler trägt Kurioses von einer Landwirtschaftsausstellung im amerikanischen Mittelwesten bei; da wurden die Ladys gefragt, ob auch Frauen wählen dürfen sollten, und, "crazy!", 80 Prozent waren dafür - etwas einzuführen, das es schon seit 100 Jahren gibt! Es wird viel gelacht in der Runde, alle hocken barfuß auf Bastmatten, ein entspannter Dialog der Kulturen. Die Wände zittern im Takt des Schiffsmotors. Draußen kicken japanische Jungs auf den Planken des Bolzplatzes. Nur Jingjing verliert immer mehr Boden unter den Füßen.
"Die Partei sagt, Frauen und Männer sind gleichberechtigt." - Und warum, bitte, sind dann sämtliche Spitzenfunktionäre männlich?
Jingjing senkt den Kopf, versteckt sich hinter dem Vorhang halblanger Haare, die Lippen sind zusammengepresst. "Ich weiß nicht ..." Es arbeitet in ihr. Jeder zurückgelegte Kilometer ein neues Fragezeichen. Die Macht der Propaganda, daheim an Land allgegenwärtig, beginnt zu verpuffen. Ein Leerraum tut sich auf und Jingjing weiß, dass sie jetzt selbst nachdenken muss, um ihn zu füllen. Die innere Reise verläuft, wie so oft im Leben, aufregender als die äußere.

Offen miteinander reden.


Auf dem Schiff als Refugium, unterwegs in neutralen Gewässern, können erklärte Feinde offen miteinander reden, was in der vergifteten Atmosphäre ihrer Heimatländer unmöglich wäre. Israeli treffen Palästinenser, Inder konferieren mit Pakistani, Tamilen lernen zum ersten Mal Singhalesen kennen, kolumbianische Guerilleros reden mit Regierungstreuen. Die Gastgeber spielen bewusst ihre Gunstlage aus: Das offene Meer fördert offene Gespräche, außerhalb der Zwölf-Meilen-Zone lockern sich die Zungen. Und anders als bei den üblichen Konferenzen kann nach heftigen Diskussionen niemand nach Hause gehen: In der kleinen Schiffswelt begegnet man sich jeden Tag aufs Neue. Das fördert den fairen Umgang.
Vier Tage vor dem Auslaufen war Jingjings Vater gestorben. Ihre Mutter und zwei Geschwister standen plötzlich ohne Ernährer da. Dennoch hat sie nicht abgesagt. "Diese Reise ist die Chance meines Lebens", sagt sie leise, mit einem leichten Zittern in der Stimme. Ihre Mutter habe sie gedrängt, das Ticket nicht verfallen zu lassen, sie werde sich mit dem Backen und Verkauf von Brot in Beijing schon über Wasser halten. Wenn es in den IS-Seminaren um die großen globalen Themen geht, Demokratie, Menschenrechte, Gewaltlosigkeit, wirkt sie manchmal abwesend. Dann denkt sie an daheim. Muss sie ihr Englisch- und Politikstudium abbrechen, weil die Uni zu teuer wird? Der Traum, eines Tages Bürgermeisterin ihrer Heimatstadt zu werden, "weil endlich die gewissenlosen und korrupten Kader abgelöst werden müssen", rückt in weite Ferne. Oft bricht sie unvermittelt in Tränen aus.
Die anderen Studenten trösten sie. Auch diejenigen aus reichen Ländern verstehen seit kurzem etwas besser, was alltägliche Armut bedeutet. In Sri Lanka besuchten sie mit der Peace Boat-Delegation ein Dorf, das Bürgerkriegsflüchtlinge wiederaufgebaut hatten. Tyler, der in Minneapolis Kommunikationswissenschaft studiert, spürte ihn geradezu körperlich, den Unterschied, "ob du Krieg und Flucht im Fernsehen als Konsumware angeboten bekommst, oder ob du mittendrin stehst, die fürchterlichen Folgen mit eigenen Augen siehst. Wenn du sie fühlen, fassen, hören und riechen kannst." Die Studenten lernten eine Familie kennen, die Bonbon-Papiere gesammelt hat, um sie fein säuberlich zu plätten und innen an die Wände ihrer Hütte zu kleben, als Tapetenersatz. Dieser unbändige Wunsch nach Schönheit, mitten im Elend, beeindruckte die Studenten am meisten. Seitdem geistern die Flüchtlinge immer wieder durch ihre Diskussionen.

Touristen plus Aktivisten.


In Mostar
Japanische Touristen der anderen
Art:
In Mostar, einer in Christen und
Muslime gespaltenen Stadt, infor-
mieren sie sich über die Folgen
des Bürgerkriegs in den
Neunziger Jahren.
Das Peace Boat hält sich mit einem einzigartigen finanziellen Kunstgriff über Wasser. Einerseits nimmt es eher touristisch interessierte Passagiere auf, die für eine Weltumrundung zwischen 10- und 15.000 US-Dollar bezahlen, darunter viele, für die Frieden nur ein Thema am Rande ist; andererseits sponsern sie mit ihrem Ticket die Reise der Freiwilligen, die an Bord studieren und an Land Proteste organisieren und humanitäre Hilfe leisten. Der heimliche Handel lautet: Die Aktivisten verbreiten die Botschaft, und die Touristen machen das Boot voll. Doch oft springt der Funke über. Die Bildungsangebote sind offen für alle, und so kommt es, dass Vorlesungen wie "Die wahren Gründe für den Irak-Krieg" oder "Fairer Welthandel" auch zu später Abendstunde noch ein mehrhundertköpfiges Publikum finden. "Japaner reisen nicht, um sich zu entspannen, sondern um etwas zu lernen", weiß Jasna Bastic, eine der wenigen Vollzeitkräfte der Organisation. Für die 45-jährige Bosnierin erfüllt jeder Tourist, der sich neugierig und sensibel im Gastland bewegt, einen Friedensauftrag. "Gerade die Japaner, die traditionell eher isoliert auf ihren Inseln leben, haben einen Nachholbedarf an echtem Kontakt mit anderen Kulturen. Unser Schiff dient ihnen als Medium, das Informationen aus erster Hand ermöglicht."
Diese Chance können nur die ganz Jungen (noch nicht im Job) und die Alten (nicht mehr im Job) ergreifen - die jedoch in vollen Zügen. Um sechs Uhr Tai-Chi auf dem Außendeck. Um acht Bauchtanz in der Windjammer-Bar. Um zehn Teiko-Trommeln am Swimmingpool. Danach Gebärdensprache. Nachmittags Karate für Frauen. Abends ein Vortrag über "Slow Food". Um Mitternacht wird Pyramiden-Power genutzt, um mit Aliens zu reden. Alternativ das beliebte Alien-Fangen, bitte Handtücher mitbringen! Oder "Gangsta-Party" in einer der Bars, bis irgendwann auch der Letzte völlig ausgelaugt in die Kabine wankt. Die Atmosphäre schwankt zwischen Feriencamp und Volkshochschule, zwischen fröhlicher und zwanghafter Umtriebigkeit, weitab von der strengen und stressigen Gesellschaft daheim. Die meisten Programme werden von den Passagieren selbst organisiert. Japan, das Fischervolk, entdeckt die Freiheit der Meere.

Wissen über die Welt sammeln.


Mr. Toshi, ein Schwertkampflehrer und Schriftsteller, drahtig und mit Anfang 60 einer der jüngeren Alten an Bord, erlebt jeden Tag an Bord als eine Horizonterweiterung. "Wir Japaner wissen viel zu wenig von der Welt. Was unser Land zum Beispiel im Zweiten Weltkrieg Korea und China angetan hat, darüber schweigen die Schulbücher. Wir haben keine Ahnung, wie uns andere Völker sehen, das ist erschreckend!" Eritreer essen Spaghetti? Italien hat aktive Vulkane? Europäer bekommen sechs Wochen Jahresurlaub? Seemeilen reihen eine exotische Erkenntnis an die andere.
Am meisten profitieren die Internationalen Studenten von der Quersubventionierung durch die Peace Boat-Touristen. Vom Bafög-Satz ließe sich ihr exklusives Studieren kaum bezahlen. Sie können sich mit Altersgenossen aus weit entfernten Ländern austauschen, die Folgen der Globalisierung an Originalschauplätzen studieren, Dozenten aus aller Welt lauschen - und danach in den Pool springen; nach dem Seminar laden, statt Mensa mit Massenfraß, Speisesäle mit weißgedeckten Tischen ein, bedient von livrierten Kellnern. Traumuni trifft Traumschiff. Nächstes Jahr sollen auch deutsche Studenten aufgenommen werden.

Ziviler Ungehorsam oder Gewalt?


Es ist Tag 33 auf See, als der Krieg ausbricht. Die kahlen Ufer des Peloponnes verblassen langsam hinterm Heckwasser, das Meer liegt tiefblau und ruhig. Ein guter Morgen, denken die Studenten, im Yacht-Club auf Deck acht in der Sonne zu frühstücken. Fröhlicher Tumult entsteht, als backbord eine Schule Delphine gesichtet wird. Rituell stürzen alle an die Reling, aus dem Nichts formiert sich eine Fotografenphalanx wie bei einem Präsidentenbesuch; die Sprünge der Meeressäuger werden begleitet von einem Orchester aus Klicken und Rufen. Im Seminarraum fängt der Krieg ganz harmlos an. Ausgerechnet mit dem Thema Gewaltlosigkeit. Tyler, der Amerikaner, hält ein Referat über die Erfolge Gandhis und seiner Nachfolger, der schwarzen Bürgerrechtler in den USA, der Apartheidsgegner in Südafrika, und preist zivilen Ungehorsam als Wunderwaffe gegen Unterdrücker. Je länger er spricht, desto unruhiger rutscht Iba, die Palästinenserin, auf ihrem Sitzkissen herum.

Peace Boat in Istanbul
Viele Sprachen, die gleiche
Botschaft:
Die Passagiere des
Peace Boats protestieren gegen
den Irak-Krieg.
Schließlich platzt es aus ihr heraus: "Das bringt doch alles nichts!" Die anderen sollen ihr bitte mal erklären, wie ein Volk, das von einer weit überlegenen Militärmacht kontrolliert, gedemütigt und eingesperrt werde, "sich mit ein paar läppischen Protestmärschen gegen seine Besatzer wehren soll". Selbstmordattentate, bei denen israelische Zivilisten getötet würden, die verurteile sie ja auch, aber nicht bewaffnete Angriffe gegen das Militär. "Gewalt erzeugt nur wieder Gewalt": Jingjing. "Kein Konflikt in der Geschichte hat ewig gedauert; es gibt also Lösungen": Jasna. "Das ist auch eine Frage der Zeit und der Hartnäckigkeit, mit der man sich wehrt": Tyler. Einer nach dem anderen überschütten sie Iba mit guten Lösungsvorschlägen.
Die Palästinenserin wohnt im arabischen Teil Jerusalems, ihre Verwandten leben abgeschnitten in den besetzten Gebieten. Je eifriger die anderen Friedenspläne ausspinnen, desto mehr sinkt Iba in sich zusammen, verknotet ihren zierlichen Körper, blickt zu Boden, bis sie irgendwann ruft: "Ihr habt ja alle überhaupt keine Ahnung. Ihr wisst nicht, wie es ist, unter Besatzung zu leben. Ihr könnt überhaupt nicht mitreden. Und überhaupt: Was wirst du für uns tun, Tyler, wenn du zurück in Amerika bist. Und du, Narae, was wirst du tun?" Als ihr die Südkoreanerin, ihre beste Freundin an Bord, darauf vorwirft, sie sei "total rüde", da beginnt sie zu schluchzen. Später schweigt sie trotzig. Angriff, Verteidigung, Missverständnis, Eskalation, Verletzung - plötzlich ist er da, ihr eigener Konflikt, ausgerechnet unter der Fahne des Peace Boats. Haben sie nicht alle in Athen an der Eröffnung der Olympischen Spiele teilgenommen? Sind die Reden vergessen, die den olympischen Frieden beschworen? Ist die Zeremonie wirkungslos verpufft, mit der die Mahnflammen von Hiroshima und Nagasaki, einige Tausend Kilometer im Schiffsbauch nach Griechenland transportiert, und das olympische Feuer symbolträchtig vereinigt wurden?

Nahost-Verhandlungen im kleinen Kreis.


In den Kabinen beginnen die Verhandlungen, zunächst nur Nahost-intern. Palästina konferiert mit Israel. Die gekränkte Iba vertraut sich Itay an: "Ich bin an Bord gekommen, um mein Volk hier zu vertreten. Ich will den Leuten hier erzählen, wie das ist, jeden Tag, von morgens bis abends, in Angst zu leben. Wir haben uns so an die Furcht vor Schikanen, Hauszerstörungen und Raketenangriffen gewöhnt, dass wir diese Furcht gar nicht mehr spüren. Sie ist mein täglicher Begleiter geworden. Erst hier, auf dem Schiff, wo ich mich sicher fühle, wird sie mir wieder bewusst. Dann ist es erst recht merkwürdig für mich, hier zu sein, die Geborgenheit und den Luxus zu genießen, während meine Leute daheim leiden. Unsere Situation ist so ausweglos. Keiner hilft uns. Die Europäer nicht, die Amerikaner sowieso nicht." Sie strafft ihre zierliche Gestalt, nimmt die weit über ihre Schultern reichenden schwarzen Locken mit einer energischen Geste zurück. "Dann kommt Tyler und singt das Hohe Lied der Gewaltlosigkeit, und die anderen stimmen sofort ein. Gute Ratschläge geben, ohne auch nur einen Tag Terror erlebt zu haben - na klasse."

Peace Boat, Banner nähen
Langer Protest: Passagiere nähen
ein 35 Meter langes Banner, mit
dem sie im Hafen von Istanbul
gegen die Entsendung von
Truppen in den Irak
demonstrieren wollen.
Itay stimmt ihr zu. Was wissen die schon! Äußerlich ist er genau der Gegenpart der Palästinenserin: kräftige Statur, kahl rasierter Schädel, Camouflage-Hose, hohe Stiefel. Doch seit die beiden in Tokyo an Bord gegangen sind, verstehen sie sich wie ein Geschwisterpaar. Der 20-Jährige aus Tel Aviv gehört zu einer Gruppe von Anarchisten, für die Israel ein faschistischer Staat ist und die sich regelmäßig mit Palästinensern verbünden. Nachts verüben sie Sabotage-Akte gegen die neue Mauer oder schmuggeln Oliven aus den besetzten Gebieten, tagsüber stellen sie sich als lebende Schutzschilde vor demonstrierende Palästinenser. "Im Nahen Osten gibt es keinen Konflikt zwischen Juden und Arabern", sagt Itay, "sondern einen Vernichtungskrieg von Machthabern gegen Ohnmächtige."
Warum er aufs Peace Boat ging? Nein, ihn trieb keine Mission für Völkerverständigung, da müsse er enttäuschen. "Ich brauchte einfach Urlaub", sagt er freimütig. Nach einer Verwundung des linken Auges durch ein israelisches Hartgummigeschoss wollte er sich ein wenig aus der Schusslinie nehmen. "Nebenbei kann ich hier verbreiten, dass nicht alle Israelis solche Starrköpfe wie Sharon sind." Auch auf dem Schiff neigt er zur Provokation, mit seiner Vorliebe für zerrissene Hemden und Militärhosen oder indem er Peace Boat in geschliffener Rede als eine "touristische Veranstaltung mit Friedensalibi" kritisiert. Im Konflikt unter den Studenten schlägt er sich sofort auf Ibas Seite.
Die Parteien beraten die Lage in Einzelgesprächen. "Iba fühlt sich angegriffen, dabei hat sie uns an die Wand genagelt mit ihren Fragen, was wir denn für Palästina tun werden": Tyler. "Ich weiß nicht, wie der Streit so eskalieren konnte": Jingjing. "In Südkorea zählt Provokation zu den schlechten Manieren": Narea. "Ich hab' doch nur ganz neutral gefragt, wer von den anderen nur redet und wer sich auch engagieren wird": Iba. Wie man nur so missverstanden werden kann, fragt jeder den anderen. Taiwan hält sich heraus, China zieht Fäden im Hintergrund, die USA suchen den Schulterschluss mit Südkorea, Israel und Palästina formieren einen ungewohnten Nahost-Block. Allen ist klar: Ein Vermittler muss her. Kann Bosnien helfen?

Konflikte ausräumen lernen.


Jasna Bastic, die Kursleiterin und Initiatorin des IS-Programms, erlebt eine solche Krise an Bord nicht zum ersten Mal. "Unser Motto 'Frieden ist möglich' bedeutet ja nicht, dass es keine Konflikte gibt." Sie lehrt die Studenten, wie man deren Ursachen, Muster und Hauptakteure analysiert und so zu möglichen Lösungen kommt. Sie selbst ist in eine harte Schule gegangen. Geboren und aufgewachsen in Sarajewo, ausgebildet als Journalistin, musste sie im Bosnien-Krieg vor dem Dauerbeschuss der Serben fliehen, die die Stadt belagerten. Sie ging nach Österreich und in die Schweiz und machte es zu ihrer Aufgabe, möglichst objektiv über die Gründe für den Krieg in ihrer Heimat zu informieren. Sie hat die Banalität des Krieges erfahren, und seine Extreme. "Und ich habe erlebt, wie Propaganda Köpfe verminen und Seelen vergiften kann." Ihr persönliches Schicksal macht sie für die Studenten auf dem Peace Boat zu einer Vertrauensperson. Aus einem tieferen Verständnis heraus stellt sie die Fragen, die treffen. Mit ihrer burschikosen Zärtlichkeit wird sie zur älteren Schwester, die lobt und tröstet.
"Das Schiff ist wie ein Mikrokosmos", weiß sie, "wie ein kleines Abbild der großen Welt, die wir auf unseren Reisen umrunden." Jetzt, wo jeder mit jedem hadert, sind ihre Schlichtungskünste gefragt. Die Bosnierin beraumt eine Krisensitzung an. Jeder bekommt ausreichend Zeit, zu erklären, was er sagte, was sie meinte, was er verstand. Arabisches Feuer bekommt genauso Raum wie koreanische Kühle, amerikanische Direktheit genauso wie Itays anarchischer Sturm und Drang. "Wenn die Palästinenser glauben, dass sie immer die Opfer bleiben werden, ändert sich nie was": Tyler. "Und wenn ihr mir unterstellt, ich würde resignieren, irrt ihr euch. Ich gebe nie auf, nie": Iba. Draußen ist das Meer glatt und ruhig, drinnen tobt ein Sturm.
Doch während ein Bürgerkrieg durchschnittlich sieben Jahre dauert, wie Wissenschaftler ermittelt haben, legen sich die Wogen im Seminar innerhalb von Stunden. Die Südkoreanerin Narae gesteht Iba, sie habe sich getäuscht: "Was ich als rüde empfunden habe, ist in Wirklichkeit dein Kampfgeist - und den bewundere ich sehr." Auf offener See fällt es leichter, Tacheles zu reden. In einer kleinen Zeremonie an der Reling von Deck neun werden die Missverständnisse in kleine Päckchen verpackt und über Bord gekippt. Frieden? Frieden. Bis auf Weiteres. Alle haben unbekannte Seiten an den anderen kennen gelernt. Es ist wie mit dem Meer: Die größten Gefahren lauern nicht auf, sondern unter der Oberfläche.

Michael Gleich ist Wissenschaftspublizist und engagiert sich in der Initiative Peace Counts project für den Frieden.

www.peace-counts.org

© changeX Partnerforum [31.05.2005] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Autor

Michael Gleich
Gleich

Michael Gleich, Publizist, Stroryteller und Redner, hat 2011 "der kongress tanzt. Netzwerk für gute Veranstaltungen" initiiert. Es berät Veranstalter darin, Konferenzen und Foren als lebendige Lernorte zu gestalten.

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