Exzentrische Frevler

Die changeX-Buchkolumne für das Wirtschaftsmagazin brand eins. | Folge 4 |

Von Peter Felixberger

Ist der kurze Sommer der Anarchie schon wieder vorbei? Bei einem Blick auf den Buchmarkt scheint es so. Viel Altersstarrsinn, kaum wilde Querdenker. Doch es gibt auch in diesem Frühjahrsprogramm Autoren, die tapfer gegen den Mainstream anschreiben.

Nichts ist unmöglich. Nachdem die Pioniere der Neuen Ökonomie erst das Laufen und dann das Schweben gelernt hatten, runzelten die nadelgestreiften Altvorderen in den Finanztempeln die Stirn und warfen tiefe Falten. Als die so Gefalteten schließlich getagt hatten, stand der Ratsschluss fest: Zuviel des Guten! Husch, husch, zurück ins Körbchen! Bevor die Verrückten noch etwas anstellen und die Gemäuer einstürzen. Der Rest ist Geschichte. Die Entrückten fanden sich jäh auf dem Hosenboden wieder. Und dort dürfen sie jetzt unter Aufsicht ehrwürdiger Professorengestirne wieder alte Businesspläne schreiben. In Managementkursen werden wieder Masse und Macht gelehrt. Nach A kommt B, Ordnung vor Wildwuchs, Marketing vor Idealen. Stellt sich die Frage: War denn wirklich alles nur ein kurzer Ausrutscher im kurzen Sommer der Anarchie?
Man könnte es fast glauben, wenn man in die Buchprogramme des Frühjahrs blickt. Wenig zu sehen von wilden Management- und Businessideen, dafür darf hochwohlgeborener Altersstarrsinn glänzen. Ganz nach dem Motto: Hinter jeder erfolgreichen Idee steht ein Grundlagenwerk. Doch keine Sorge: Gequatscht wird überall. Und unter dem Pflaster keimt noch immer der Strand. So höret, bald schon werden sie wieder sprießen: die Gedankenreisen der furchtlosen Abweichler, bedingungslosen Querdenker, exzentrischen Frevler, spontanen Ekstatiker und stolzen Erkenntnisapostel. Und die biederen GrauMaliks und DünnHenkels werden wieder ins dröge Fachbuch oder auf das Rednerpult verbannt.

Lockes zweiter Streich nach dem Cluetrain-Manifest.


Vertreiben wir uns die Zeit zwischenzeitlich mit ein paar Spitzbuben. Christopher Locke wurde hierzulande als einer der Autoren des Cluetrain-Manifests bekannt. Im Mai 1996 hatte er überdies im Internet ein kleines Webzine mit E-Mail-Liste gegründet. Der Titel: Entropy Gradient Reversal, kurz EGR. Das Rezept: Leser, mögliche Sponsoren und Kunden werden hemmungslos durch den Kakao gezogen, bis hin zur Verleumdung. Locke nennt sich im Netz RageBoy. "Er vereinigt alle meine schlechtesten Eigenschaften und Charaktermängel in so etwas wie einer separaten Persönlichkeit, die sich frei im Internet bewegen darf und mittlerweile ein beunruhigendes Maß an Autonomie erlangt hat. Er ist mein amoklaufendes Science-Fiction-Monster." Mit dieser Masche zieht Locke mittlerweile über 5.000 regelmäßige Leser in den Bann.
Jetzt hat er sein illustres Treiben mit dem Begriff "Gonzo-Marketing" auf den Punkt gebracht. Darin fordert er die Abkehr vom herkömmlichen Massenmarketing und Big Business. Mit Gonzo entstehen gefühlsechte "Beziehungen zu den neu entstehenden Online-Gemeinschaften". Man ist mittendrin, engagiert, mit Leidenschaft dabei, ist nicht nur Beobachter oder Abzocker, mit Blick auf den eigenen Vorteil und Profit. Oder anders ausgedrückt: Unternehmen bringen sich voll ein in die neuen Mikromärkte im Internet. Nehmen dort Bedürfnisse ernst und lassen den Kunden mitgestalten und mitregieren. Im Internet, so Locke, ist es erstmalig möglich, was im Industriezeitalter vollkommen unmöglich war: Menschen beginnen sich über Dinge auszutauschen, die ihnen wirklich am Herzen liegen. In kleinen Communitys, kleinen Zirkeln und kleinen Produktliebhabergemeinschaften. Small is beautiful! As it ever was!
Schwachsinn, grunzen die Massenmarketing-Statthalter. Das koloniale Erfolgsrezept hat sich bewährt. Über Massenmedien ballern wir so lange Schrot ins Massenpublikum, bis eine höchstmögliche Anzahl von "Kunden" getroffen ist. Locke umschreibt dies eleganter mit: "Broadcast-Verfahren auf abstrakte Kundensegmente". Die Macht des Massenmarketings scheint indes immer noch unbegrenzt zu sein. Über AOL, Time Warner, Walt Disney in den USA, über Kirch, Middelhoff und Burda hierzulande werden Kontaminierungsflächen geschaffen, an denen jeder kleben bleibt. Nein, ballt Locke die Fäuste und krempelt die Revoltionärsstutzen hoch. "Diese Art, die Welt in eine Form zu pressen, kollidiert frontal mit dem Internet. Das Internet gibt jedem eine Stimme. Und vox populi - die Stimme des Volkes - ist weit vitaler als die sterilen Verlautbarungen der Unternehmen und Medienkonzerne."

Geheimtipp Saunders.


In der neueren amerikanischen Literatur wird ebenfalls vermehrt die Feder gegen die großen Erzählungen des Mainstreams erhoben. Ein absoluter Geheimtipp diesbezüglich ist der New Yorker George Saunders, dessen Erzählband Pastoralien gerade so wunderbar von Frank Heibert ins Deutsche übertragen wurde. Saunders begibt sich mittelstürmergleich dorthin, wo es weh tut. Gerempelt, gestoßen, getreten, gefoult, gezwickt, bespuckt und angekratzt liegen seine Opfer im Strafraum der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Und sehnen sich immergleich nach jenem Augenblick, um wie Phönix aus der Asche zu steigen. Bizarre und groteske Erzählungen führen den Leser an den Rand einer gleichgeschalteten Dinosaurier-Ökonomie. Die Großkopferten versperren den Blick auf die Kleinkopferten, argwöhnt Saunders und zerrt Letztere ans Licht der Aufmerksamkeit. Meisterhaft etwa dargestellt in der Eingangserzählung, wo zwei Laienschauspieler als Steinzeithöhlenmenschen in einem Erlebnispark herumturnen. In seinen kleinen Erzählsträngen verheddern sich Männer, die an den Rockzipfeln ihrer Mütter hängen und von Befreiung tagträumen, ebenso wie einsame Angestellte, die von windigen Seminartrainern auf Veränderungspfade genötigt werden. Thanx, Mr. Saunders, wir haben verstanden. Nehmt endlich die Schwachen ernst. Lasst Träume sprießen. Denn "die Wahrheit ist das, wodurch geschieht, was wir geschehen lassen wollen".

Peter Felixberger ist Publizist und Lektor sowie Geschäftsführer der changeX GmbH.

Christopher Locke:
Gonzo Marketing. Nur die Verrückten überleben,
Financial Times Prentice Hall, München 2002,
288 Seiten, 19,95 Euro,
ISBN 3-8272-7057-X

George Saunders:
Pastoralien,
Berlin Verlag, Berlin 2002,
208 Seiten, 18 Euro,
ISBN 3-8270-0394-6

Zu Folge 1: Handverlesen
Zu Folge 2: Von grenzenloser Freiheit und Entjungferung auf Raten
Zu Folge 3: Und ewig droht der Kapitalist
Zu Folge 5: Volle Dröhnung

www.brandeins.de

© changeX [28.02.2002] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.


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Zu den Büchern

: Gonzo Marketing. Nur die Verrückten überleben. Financial Times Prentice Hall, München 2002, 208 Seiten, ISBN 3-8272-7057-X

Gonzo Marketing

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: Pastoralien. Berlin Verlag, Berlin 2002, 208 Seiten, ISBN 3-8270-0394-6

Pastoralien

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Autor

Peter Felixberger

Peter Felixberger ist Publizist, Buchautor und Medienentwickler.

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