Mehr als bloße Selbstorganisation

Selbstorganisation - eine Erkundung | 8 Andreas Zeuch
Interview: Winfried Kretschmer

Selbstorganisation ist ein schillernder Begriff, und genau besehen ist keineswegs klar, was damit eigentlich gemeint ist. Unterschiedliche Sichtweisen finden sich sowohl beim Verständnis von Selbstorganisation wie bei Konzepten zu ihrer praktischen Umsetzung. Zeit, das Feld abzustecken. Und Menschen zu fragen, die in und mit Selbstorganisation arbeiten. Eine Erkundung. Hier im Interview: Andreas Zeuch, Unternehmensdemokrat in Berlin.

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Was ist und was soll Selbstorganisation? Und was braucht es, um sie möglich zu machen? Diese und ein paar weitere Fragen an Andreas Zeuch. 

Dr. Andreas Zeuch ist Gründer und Partner der unternehmensdemokraten. Das Berliner Unternehmen begleitet Menschen und Organisationen auf dem Weg zu mehr und besserer Partizipation. Zeuch veröffentlicht regelmäßig Artikel, Blogbeiträge und Bücher zum Themenfeld Unternehmensdemokratie und Selbstorganisation. Zuletzt erschienen: Alle Macht für niemand. Aufbruch der Unternehmens-demokraten (Murmann, Hamburg 2015).
 

Was muss man wissen, um Selbstorganisation zu verstehen? 

Kommt drauf an, über welche Selbstorganisation wir jetzt reden. Wenn es um Phänomene der Natur geht, wie Räuber-Beute-Populationen oder eine Rayleigh-Bénard-Konvektion, dann ist das etwas anderes als Selbstorganisation in sozialen Systemen. Letztere hat jeder Mensch selber seit der Kindheit erlebt und ist insofern in der Lage, darüber nachzudenken.
 

Was verstehst du unter Selbstorganisation? 

Selbstorganisation in sozialen beziehungsweise soziotechnischen Systemen bedeutet eine dezentrale Steuerung, in der die einzelnen Mitglieder je nach der Ebene - operativ, taktisch, strategisch - entweder selbst- oder mitbestimmt ihre eigenen Entscheidungen treffen.
 

Gibt es weitere Kontexte, in denen Selbstorganisation thematisiert wird und mit welchen unterschiedlichen Bedeutungen? 

Ja, die oben bereits erwähnten Prozesse in der Natur. Ich sehe da aber recht deutliche Unterschiede zum organisationalen Kontext. Insofern halte ich zum Beispiel chemische Selbstorganisationsprozesse für wenig hilfreich, um in Organisationen Selbstorganisation erfolgreich zu verwirklichen. Flüssigkeitsmoleküle haben weder Intentionen noch Gefühle noch Bedürfnisse et cetera. Und sie organisieren sich in keinem zweckrationalen Kontext selber, wie dies mit uns Menschen in Organisationen ist.
 

Ist der Begriff Selbstorganisation passend und hilfreich? 

Kommt drauf an, wofür.
 

Wofür schon, wofür nicht? 

Wenn es nur darum geht, klassische Top-down-Prozesse und -Strukturen agiler und selbstorganisierter zu gestalten, dann sind der Begriff und die zugehörigen Konzepte immer noch sinnvoll. Wenn es aber um mehr geht, wie zum Beispiel die Verzahnung und Rückkopplung in die Gesellschaft, dann kommt der Begriff an seine Grenzen. Denn Selbstorganisation ist weder auf ein weiter gefasstes Ziel hin ausgerichtet, noch sind mit diesem Begriff Werte verbunden, die sich aus ihm natürlich ergeben. Mit der Unternehmensdemokratie ist das ganz anders, darin ist ja die Demokratie mit ihrem assoziativen Raum enthalten, da schwingen sofort Werte wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität mit.
 

Wofür wäre Selbstorganisation eine Lösung? 

Für mangelnde Adaptivität und Innovationskraft zum Beispiel. Und wenn die Organisation zukünftig bestimmte Menschen anziehen will, die genau dieses selbstorganisierte Umfeld suchen.
 

Was ist das Gegenteil von Selbstorganisation? 

Zentrale Top-down-Steuerung, kurz Fremdorganisation.
 

Hat Selbstorganisation Grenzen? 

Wie wohl alles, außer dem Universum und der menschlichen Dummheit. Die Grenzen liegen verstreut, sie sind rechtlich bedingt (Gesellschaftsrecht), kulturell und individual- und gruppenpsychologisch.
 

Die Frage gewendet: Werden Selbstorganisation Grenzen gesetzt? Gibt es - in der Gesellschaft, in Unternehmen und anderen Organisationen - Barrieren, Hemmnisse und Restriktionen, die Selbstorganisation blockieren oder einschränken? 

Siehe oben.
 

Können Menschen Selbstorganisation? 

Ja und nein. Die eine ja, der andere nein. It depends.
 

Gewinnt Selbstorganisation an Bedeutung? 

Es scheint so. Aber ich weiß nicht, ob wir das wirklich wissen.
 

Woran ließe sich ein Bedeutungszuwachs festmachen? 

An nichts, was ich für valide und reliabel halte.
 

Sollte es mehr Selbstorganisation geben? 

Ja - und zwar auch und gerade über die übliche, verkürzende Argumentation der meisten Beraterïnnen hinaus, dass die Welt so VUCA sei und wir deshalb alle agil werden müssen. Deshalb sind wir die unternehmensdemokraten - mit einem klaren Anspruch, den wir schon im Markennamen tragen. Und der geht sehr weit über die rein funktionale Argumentation hinaus.
 

Inwieweit? Und inwiefern funktional? 

Selbstorganisation wird funktional verargumentiert - es braucht agilere Strukturen und so weiter. Die Unternehmensdemokratie thematisiert und fokussiert dagegen viel weitere Fragestellungen, wie organisationale Gerechtigkeit, Solidarität et cetera.
 

Welche sind die größten Hemmnisse für mehr Selbstorganisation? 

Zuallererst die Geschäftsführung oder der Vorstand. Wenn dieser Personenkreis es nicht ernst meint und mit gutem Vorbild vorangeht, dann wird das nichts. Schließlich haben diese Menschen alleine kraft des Gesellschaftsrechts jederzeit die Möglichkeit, Selbstorganisation wieder rückgängig zu machen. Sie können, wann immer sie wollen, wie ich das schon vor Jahren angemerkt habe, jede angeblich ach so mächtige Holacracy-Verfassung in die Ablage P befördern. 

Und damit ist auch klar: Langfristig brauchen wir eine Änderung des Gesellschaftsrechts. Dieses basiert noch auf fürchterlich altbackenen, tradierten Vorstellungen von Entscheidungsprozessen in Organisationen. Es macht Vorgaben teils bis hin zu den jeweiligen Entscheidungsmethoden, wenn beispielsweise Mehrheitsentscheide gefordert werden.
 

Welche Bedeutung hat Selbstorganisation ganz konkret für dich und deine Arbeit? 

Na ja, das ist das Thema, mit dem wir seit vielen Jahren unterwegs sind. Und wir wenden es bei uns selbst an - wobei das bei uns aber auch keine große Kunst ist, da wir ja nicht gerade 500 Mitarbeitende haben.
 

Welche Frage stellst du dir selbst zur Selbstorganisation? 

Zur Selbstorganisation gerade eher keine - zu Unternehmens- oder besser organisationaler Demokratie sehr viele. Zum Beispiel, warum sich die verschiedenen Diskurslinien, die ich in diesem Feld beobachte, auf so unfassbare Weise gegenseitig ignorieren, obwohl sie doch alle das Interesse für dieses vielversprechende Thema teilen. Und gemeinsam weiter kämen, als sich in ihren sozialen Blasen zu verbarrikadieren. Da schlummert so viel Potenzial. Übrigens auch, weil Organisationsdemokratie so viel mehr ist als bloße Selbstorganisation.
 

Das Interview basiert auf einem schriftlich beantworteten Interviewleitfaden mit 15 Fragen, ergänzt mit den Antworten auf einige gezielte Nachfragen.
 


Zitate


"Selbstorganisation in sozialen beziehungsweise soziotechnischen Systemen bedeutet eine dezentrale Steuerung, in der die einzelnen Mitglieder je nach der Ebene - operativ, taktisch, strategisch - entweder selbst- oder mitbestimmt ihre eigenen Entscheidungen treffen." Andreas Zeuch: Mehr als bloße Selbstorganisation

"Wenn es nur darum geht, klassische Top-down-Prozesse und -Strukturen agiler und selbstorganisierter zu gestalten, dann sind der Begriff Selbstorganisation und die zugehörigen Konzepte immer noch sinnvoll. Wenn es aber um mehr geht, wie zum Beispiel die Verzahnung und Rückkopplung in die Gesellschaft, dann kommt der Begriff an seine Grenzen." Andreas Zeuch: Mehr als bloße Selbstorganisation

"Selbstorganisation wird funktional verargumentiert - es braucht agilere Strukturen und so weiter. Die Unternehmensdemokratie thematisiert und fokussiert dagegen viel weitere Fragestellungen, wie organisationale Gerechtigkeit, Solidarität et cetera." Andreas Zeuch: Mehr als bloße Selbstorganisation

"Langfristig brauchen wir eine Änderung des Gesellschaftsrechts. Dieses basiert noch auf fürchterlich altbackenen, tradierten Vorstellungen von Entscheidungsprozessen in Organisationen. Es macht Vorgaben teils bis hin zu den jeweiligen Entscheidungsmethoden, wenn beispielsweise Mehrheitsentscheide gefordert werden." Andreas Zeuch: Mehr als bloße Selbstorganisation

"Organisationsdemokratie ist so viel mehr ist als bloße Selbstorganisation." Andreas Zeuch: Mehr als bloße Selbstorganisation

 

changeX 15.12.2021. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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