Selbst entscheiden
Selbstorganisation ist ein schillernder Begriff, und genau besehen ist keineswegs klar, was damit eigentlich gemeint ist. Unterschiedliche Sichtweisen finden sich sowohl beim Verständnis von Selbstorganisation wie bei Konzepten zu ihrer praktischen Umsetzung. Zeit, das Feld abzustecken. Und Menschen zu fragen, die in und mit Selbstorganisation arbeiten. Eine Erkundung. Hier im Interview: Boris Gloger, Agilitätsexperte und Unternehmer in Frankfurt am Main.
Was ist und was soll Selbstorganisation? Und was braucht es, um sie möglich zu machen? Diese und ein paar weitere Fragen an Boris Gloger.
Boris Gloger ist Unternehmer, Fachbuchautor und Coach für agile Transformation, Scrum und agiles Arbeiten mit eigenen Firmen in Frankfurt am Main und Wien. Er hat mehrere Bücher zu Scrum, agilem Personalmanagement, Selbstorganisation und Organisationsentwicklung verfasst. Auf changeX war er bereits zweimal Interviewpartner, einmal zum Thema Selbstorganisation und Führung ("Das Setting erzeugen", 2014) und über Scrum ("Auf ins Getümmel", 2012).
Was muss man wissen, um Selbstorganisation zu verstehen?
Der Begriff kommt aus der Systemtheorie. Er beschreibt die Eigenschaft, dass die Teile eines jeden Systems - wie zum Beispiel Organisationen, Teams, Schulen - sich immer selbst innerhalb der gegebenen Grenzen organisieren. Zu den Teilen eines Systems zählen zum Beispiel Teammitglieder in einem Team, die Abteilungen in einer Organisation oder die Moleküle in einem Glas. Grenzen können räumlich sein oder sich in Regeln und Prozessen niederschlagen.
Was verstehen Sie unter Selbstorganisation?
In meiner Arbeit wende ich dieses Prinzip auf das Führen von Organisationen an - unter anderem auch in meiner eigenen Organisation. Das heißt: Ich lasse die Entscheidungsfreiheiten bei meinen Kollegïnnen und gebe diesen durch transparente und vorher vereinbarte Regeln einen Rahmen vor. Oft müssen wir diese Regeln auch überdenken und wieder ändern. Dabei versuche ich jedoch, selbst so wenig wie möglich zu entscheiden. Auf diese Weise lasse ich dem System die größtmögliche Entfaltungsmöglichkeit. So ist es dem System möglich, sich selbst zu organisieren.
Gibt es weitere Kontexte, in denen Selbstorganisation thematisiert wird und mit welchen unterschiedlichen Bedeutungen?
Selbstorganisation findet überall statt: ob in Schule, Beruf oder im Privaten. Beispiel Schule: Warum nicht Kindern das Vertrauen schenken, ihren Lernprozess selbst in die Hand zu nehmen? Das heißt nicht, dass man den Lehrplan missachten soll, aber es gibt doch erstaunlich viel Spielraum, um nicht immer nach Schema F vorzugehen. Wir haben im Rahmen von Scrum4Schools etliche Schulklassen begleitet und festgestellt: Je mehr die Schülerinnen und Schüler selbst entscheiden dürfen, desto besser die Resultate. Bei dieser Lernform lösen die Lernteams innerhalb eines festen Rhythmus Aufgaben, wobei die einzelnen Schritte von den Teams völlig selbständig geplant werden. Die Lehrkraft legt das Lernziel - den Rahmen - fest und steht den Schülerïnnen beratend zur Seite, die sich selbst um die Erarbeitung des Wissens kümmern. Wir erleben, wie viel Freude dabei entsteht, zusätzlich zu intrinsischer Motivation, persönlichem Wachstum und oft auch besseren Noten.
Ist der Begriff Selbstorganisation passend und hilfreich?
Der Begriff wurde von allen Systemtheoretikerïnnen sowie in der Arbeitssoziologie genutzt - er hat also seine Berechtigung.
Wofür wäre Selbstorganisation eine Lösung?
Selbstorganisation ist keine Lösung, sondern ein Fakt, denn sie geschieht immer. Selbstorganisation ist nicht das Gegenteil von hierarchischem Managen oder Führen oder dem "Anweisungen-Geben". Das Gegensatzpaar ist eher: Darf ein Kollege, eine Kollegin in einer Organisation oder in einem anderen Kontext selbst entscheiden, was er oder sie tut, oder sind sie durch Vorgesetzte beziehungsweise Regeln daran gehindert? Werden also die Menschen in Organisationen ihres Bedürfnisses beraubt, eigenständige, autonome Entscheidungen zu treffen? Autonom nicht im Sinne von unabhängig, sondern im Sinne von selbst entscheiden.
In einer komplexer werdenden Welt ist es immer sinnvoll, dort Entscheidungen zu treffen, wo die Kenntnis der Sachlage am ehesten gegeben ist. Nehmen wir als Beispiel den traurigen Fall des Rückzugs aus Afghanistan im vergangenen Sommer: Wenn den Zeitungsberichten zu glauben ist, dann hatte die deutsche Botschaft schon wochenlang versucht, beim Außenministerium für den Ausflug aus Kabul zu werben und diesen organisieren zu lassen. Hätte die Botschaft dort die Macht dazu gehabt, hätten sie das selbst organisieren und die Flieger chartern können. Das Außenministerium hatte aber offenbar die Entscheidungsgewalt und agierte zu langsam, zu bürokratisch und schätzte darüber hinaus die Sachlage falsch ein.
Was ist das Gegenteil von Selbstorganisation?
Es gibt kein direktes Gegenteil - am ehesten passt vielleicht noch "Zwang". Im von mir beschriebenen Kontext könnte das Gegenteil lauten: Menschen dürfen nicht selbst entscheiden oder ihre Entscheidungen werden übergangen.
Hat Selbstorganisation Grenzen?
Nein - sie geschieht immer. Die Grenzen sind ebenfalls immanent. Ein System - eine Gruppe, ein Team, eine Organisation - kann nur leisten, was es leisten kann. Hat ein System kein Vermögen, eine Situation einzuschätzen - liegt also die Kenntnis außerhalb -, wird dieses System, die Organisation, die Gruppe, das Team scheitern.
Die Frage gewendet: Werden Selbstorganisation Grenzen gesetzt? Gibt es - in der Gesellschaft, in Unternehmen und anderen Organisationen - Barrieren, Hemmnisse und Restriktionen, die Selbstorganisation blockieren oder einschränken?
Als autonomes Entscheiden verstanden: natürlich. Im weitesten Sinne sind die gesetzten Grenzen die gemachten Erfahrungen, die in existierenden Regeln, Haltungen, Vorstellungen, Vorurteilen, Gesetzen stecken - also die Vergangenheit. Es würde unserer Gesellschaft guttun, progressiver und mit dem Mindset des Abenteurers zu denken. Wir würden dann in der Vergangenheit gemachte Erfahrungen nicht als Richtlinien, sondern immer nur als Hinweise ansehen. Kurz: Wir überließen es den Leuten "vor Ort", die Entscheidungen zu treffen.
Können Menschen Selbstorganisation?
Selbstorganisation ist eine Grundeigenschaft von Menschen. Diese sind ganz von selbst in der Lage, autonom und doch verbunden zu agieren und sich immer wieder zur Zusammenarbeit zu entschließen.
Gewinnt Selbstorganisation an Bedeutung?
Ja - in einer komplexen Welt müssen wir global denken und lokal handeln.
Sollte es mehr Selbstorganisation geben?
Die Frage erfordert eine differenzierte Auseinandersetzung. Aus systemtheoretischer Sicht ist die Selbstorganisation eine Ordnung, die von selbst entsteht. In ihrer Habilitationsschrift Theorie und Gestaltung der Selbstorganisation aus dem Jahr 1998 nennt Elisabeth Göbel dies die "autogene Selbstorganisation". (*) In der erwünschten, sich positiv auswirkenden Ausprägung sorgt die "immanente Rationalität selbstorganisierter Prozesse" für die "richtigen" Ergebnisse. Es ist daher nicht notwendig, aktiv zu gestalten, sondern es gilt, die Selbstorganisation zu respektieren. Sich selbst organisierende Prozesse können jedoch in der Form der autogenen Selbstorganisation auch nicht erwünschte, negative, dem Ziel der Unternehmung zuwiderlaufende Muster hervorbringen. In diesem Fall rät Göbel, die Selbstorganisation zu kanalisieren. Die autogene Selbstorganisation ist somit nicht absichtlich herbeigeführt, wird also nicht im Sinne einer Planung von einzelnen Personen in der Organisation gemacht. Vielmehr wächst sie, bildet sich und reflektiert dabei Verhaltensregelungen (erwünschte wie unerwünschte), die sich entfalten.
Im Gegensatz dazu steht die autonome Selbstorganisation, die gesteuert wird - und zwar selbstbestimmt von den Organisierten selbst. Die Organisationsmitglieder bekommen einen angemessenen Handlungsspielraum, innerhalb dessen sie an der Ordnung mitwirken können, die sie selbst betrifft. Durch die Möglichkeit der Anpassung an die eigenen Bedürfnisse wird die entstehende Ordnung effizienter.
Das Schwierige bei der Umsetzung ist die Dosierung, die Nutzung des eigenen Handlungsspielraums durch den oder die Managerïn. Wie groß muss der Handlungsspielraum in der autonomen Selbstorganisation sein, dass er als solcher anerkannt und genutzt wird? Und wo müssen die Grenzen verlaufen, sodass die Selbstorganisation nicht zu weit in eine unerwünschte autogene Form abdriftet?
Welche sind die größten Hemmnisse für mehr Selbstorganisation?
Angst und Sattheit. Wenn nichts mehr gewollt wird, fügt man sich gerne den althergebrachten Mustern: "Wir haben das immer schon so gemacht." Je älter eine Person wird, desto behäbiger und selbstgefälliger wird sie. Daher ist Weisheit wichtig, doch es braucht eben immer wieder die frischen Augen des Kindes.
Welche Bedeutung hat Selbstorganisation ganz konkret für Sie und Ihre Arbeit?
Ich arbeite konsequent daran, die Selbstorganisation, also die autonome Entscheidungsfähigkeit, in meinem Umfeld zu erhöhen - sei es im Beruf, in meiner Firma oder privat. Ob ich meinen Kindern immer mehr zutraue, liegt doch an mir. Hier lerne ich jeden Tag noch dazu. Auch anderen Personen in meinem Umfeld kann ich Möglichkeiten aufzeigen, ihre Hobbys, ihre Arbeit oder ihre Interessen zu erweitern, wenn sie das möchten - ohne ihre Wahl zu beeinflussen. Und in meiner Firma arbeite ich daran, dass jede(r) ständig noch bessere Entscheidungen für uns alle trifft.
Welche Frage stellen Sie sich selbst zur Selbstorganisation?
Wie wir es hinbekommen, dass Menschen sich immer weiter aus den Zwängen der Organisationen befreien. Darum geht es doch - denn diese sind die Antagonisten. Während wir mehr Freiheit - Autonomie - für den Einzelnen wollen, schränken wir die Bürokratien immer weiter ein.
Quellenangabe
(*) Elisabeth Göbel: Theorie und Gestaltung der Selbstorganisation. Duncker & Humblot, Berlin 1998. Die im Interview erwähnte Differenzierung zwischen autogener und autonomer Selbstorganisation findet sich auf den Seiten 21 und 102.
Das Interview basiert auf einem schriftlich beantworteten Interviewleitfaden mit 15 Fragen, ergänzt mit den Antworten auf einige gezielte Nachfragen.
Zitate
"Selbstorganisation findet überall statt: ob in Schule, Beruf oder im Privaten." Boris Gloger: Selbst entscheiden
"Selbstorganisation ist keine Lösung, sondern ein Fakt, denn sie geschieht immer." Boris Gloger: Selbst entscheiden
"In einer komplexer werdenden Welt ist es immer sinnvoll, dort Entscheidungen zu treffen, wo die Kenntnis der Sachlage am ehesten gegeben ist." Boris Gloger: Selbst entscheiden
"Es würde unserer Gesellschaft guttun, progressiver und mit dem Mindset des Abenteurers zu denken." Boris Gloger: Selbst entscheiden
"Selbstorganisation ist eine Grundeigenschaft von Menschen. Diese sind ganz von selbst in der Lage, autonom und doch verbunden zu agieren und sich immer wieder zur Zusammenarbeit zu entschließen." Boris Gloger: Selbst entscheiden
"Hat Selbstorganisation Grenzen?" - "Nein - sie geschieht immer." Boris Gloger: Selbst entscheiden
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Scrum4Schools ist eine Lernform, bei der Lernteams innerhalb eines festen Rhythmus Aufgaben lösen. Die einzelnen Schritte werden von den Teams dabei völlig selbständig geplant. Die Lehrkraft legt das Lernziel fest und steht den Schülerïnnen beratend zur Seite, die sich selbst um die Erarbeitung des Wissens kümmern. Mit Scrum4Schools übernehmen die Schülerïnnen also selbständig mehr Verantwortung für ihren Lernprozess. Die Folge davon sind intrinsische Motivation, Freude, persönliches Wachstum und bessere Resultate. Quelle: borisgloger consultingborisgloger consulting scrum-4-schools
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Autogene und autonome Selbstorganisation: Boris Gloger war soweit ersichtlich der Erste, der innerhalb des Diskursraums von Organisationsberatern und Organisationsentwicklern auf die Unterscheidung zweier Formen von Selbstorganisation hingewiesen hat. In einem kurzen Blogbeitrag aus dem Jahr 2012 thematisiert er die von Elisabeth Göbel getroffene Differenzierung zwischen autogener und autonomer Selbstorganisation, was allerdings ohne erkennbare Resonanz blieb. In der betriebswirtschaftlich orientierten Organisationsforschung gehört diese Unterscheidung hingegen zum Stand gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnis. So ist sie in allen fünf Auflagen (1999-2019) des Grundlagenwerks Organisation - Theorie und Gestaltung nahezu unverändert enthalten.Blogbeitrag von Boris Gloger
Autor
Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.
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