Für Führung keine Zeit

Erfolgreiche Unternehmensentwicklung erfordert eine wirkungsvolle Führungskultur - ein Essay von Gerit Sophia Fuchs, Dieter Marth und Frank Kühn
Essay: Gerit Sophia Fuchs, Dieter Marth, Frank Kühn

Der Tag ist wie immer vollgestopft mit Meetings, Entscheidungen und Tätigkeiten, die keinen Aufschub dulden. Die Vielzahl der Aufgaben, die Führungskräfte bewältigen müssen, ist enorm. Zeit für die Mitarbeiter bleibt dabei wenig. Darin aber liegt ein immenses Risiko: Denn für die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens spielen die Mitarbeiter eine entscheidende, wenn nicht die entscheidende Rolle. Das gilt ganz besonders in unsicheren, wechselhaften Zeiten.

Mitarbeiter als ungenutztes Potenzial in deutschen Unternehmen? Eigentlich kaum vorstellbar, wo doch die meisten nach höher, schneller, weiter streben oder sich unbewusst von diesem Sog mitziehen lassen. Doch es stimmt: Führungskräfte sind gut strukturiert, wenn es um fachliche Themen ihrer Arbeit geht. Da werden Projekte initiiert, Milestones gesetzt und Gremien eingerichtet. Für die Mitarbeiter aber bleibt meist keine Zeit.


Mit Führung durch unsichere Zeiten


Die aktuelle "Global Workforce Study" von Towers Watson (2012) bestätigt dies: Deutsche Mitarbeiter sind im europäischen Vergleich "relativ motiviert". Was heißt: 29 Prozent sind nachhaltig engagiert; 23 Prozent sind engagiert, aber ausgebremst; 22 Prozent machen Dienst nach Vorschrift; 26 Prozent haben ungenutztes Potenzial. Und dabei ist es nachweisbar, dass Unternehmen mit einem hohen Anteil nachhaltig engagierter Kollegen eine "dreimal höhere Umsatzrendite" erzielen, so die Studie. Weiter heißt es dort: "Großen Einfluss auf die Motivation und Leistung haben Top-Management und die Führungskräfte." Aber Führung geht nicht nur den Einzelnen an. Erfolgreiche Unternehmen brauchen eine lebendige, gemeinsame Führungskultur. Das gilt besonders in unsicheren Zeiten. In Zeiten volatiler Marktentwicklungen, beweglicher Ziele und flüchtiger Strukturen ist Führung nicht mehr nur ein persönliches Thema. Vielmehr bestimmt die gemeinsame Führungskultur die Überlebensfähigkeit und Zukunftsfestigkeit des Unternehmens. Die schnelle Veränderung in der Geschäftswelt, die zunehmende Unsicherheit in den Unternehmen, der Zweifel an den überkommenen, tayloristischen Managementstrukturen und die Diskussionen über neue Organisationsformen haben dazu geführt, dass das Thema Leadership beziehungsweise Führung immer stärker in den Mittelpunkt rückt. Unternehmenslenker, die eine herausragende Performance ihrer Organisation erwarten, setzen immer deutlicher auf das Thema Führung. 

Aufgrund der beweglichen Unternehmensstrategien und labilen Organisationsstrukturen suchen Mitarbeiter bei ihren Führungskräften nach Orientierung, nach Halt und Sicherheit. "Dort, wo Menschen Verlässlichkeit in Kompetenz und Verhalten finden, wo Identifizierung und Zusammengehörigkeit entstehen, folgen sie auch auf unsicheren Reisen", erläutert Dr. Harald Ring, Personalchef bei der Rütgers Holding Germany.  

Dem steht allerdings eine zunehmende Finanzmarktorientierung der Unternehmen gegenüber, verbunden mit einer Entfremdung von sinn- und werteorientierter, inspirierender und kommunikativer Führung. Die Diskrepanz äußert sich in den regelmäßig publizierten Ergebnissen von Untersuchungen wie der hier zitierten.


Die Last der Führung


Wie geht es also den Menschen, die mit Führung betraut sind? Die die Achsen des Unternehmenswagens bilden, auf denen so viel Verantwortung und Vertrauen ruhen?  

Den Führungskräften geht es nicht gut. Warum? Führungskräfte müssen eine große Vielfalt an Rollen bekleiden, die mit der Zeit auf ihnen abgeladen worden sind und die sie in ihrem Gefühl der Verpflichtung dem Unternehmen und den Menschen gegenüber auch angenommen haben.  

Die "Schere" ist eklatant: In dem Maße, in dem die Stabilität von Organisationsstrukturen spürbar sinkt, steigt der Bedarf an verlässlicher Führung und Kultur. Die Ressourcen für Führung aber nehmen durch Zeitdruck und Personalabbau ab.  

Das folgende Schema zeigt auf der Grundlage eines Beispiels aus einer Coaching-Session die nach außen hin dargestellten und definierten Rollen einer Führungskraft im Organisationssystem und ihren inneren Widerstreit zwischen persönlich empfundenen Verpflichtungen, Wünschen und Werten.  

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In jeder dieser Rollen erfahren die Führungskräfte Bestärkung und Bestätigung oder Unzufriedenheit und Druck. Sie müssen sich auch selbst "positionieren", wenn sich Gesellschaft, Wirtschaft und Unternehmen zunehmend offen mit Fragen der Gesundheit, Motivation und Identifikation, mit Frustration, Krankheit und Sinnsuche auseinandersetzen. Sie müssen die Brücke schlagen zwischen dem, wer sie sind (als Mensch), und dem, was sie sind (als Funktion). Sie müssen damit leben, dass andere versuchen, ihre eigene Ohnmacht und ihren eigenen Druck bei ihnen abzuladen: "Denken Sie mal unternehmerisch!", "Sie werden Ihr Team doch im Griff haben!", "Wir wissen nicht mehr weiter, Sie sind doch unsere Führungskraft!" Es gilt: Oben wird Strategie gemacht, darunter geführt, darunter gearbeitet - beklemmender Taylorismus in Zeiten wachsender Sensibilität für die Gesundheit von Menschen, Organisationen, Wirtschaft und Gesellschaft. Der sozialen Verantwortung und dem eigenen Anspruch nicht mehr gerecht werden zu können, sind wesentliche Gründe für Stress, Überforderung und Ausstieg.  

Harald Ring kennt es auch anders: "Wir erleben bei uns, welche Orientierung es geben und welche Motivation es auslösen kann, wenn natürlich jeder seine Verantwortung wahrnimmt, wir aber im täglichen Denken und Tun, im Miteinanderaustauschen und Lernen ganz dicht beieinander sind. Das ist nicht unbedingt bequem. Wir fordern uns auch gegenseitig und geben uns Feedback. Diese gemeinsame Erfahrung schafft aber das Vertrauen, auf dessen Grundlage sich ein Unternehmen erfolgreich führen lässt. Verdienen muss sich das eine Führungskraft jeden Tag neu."


Führung setzt Unternehmenskultur in Unternehmenserfolg um


Es geht also um viel mehr als die einzelne Führungskraft. Es geht um eine Unternehmenskultur, die die einzelnen Menschen in eine im wahrsten Sinne des Wortes erdrückende Situation bringt. Die viel zitierte "Sandwich"-Position beschreibt diesen Zustand nur unzureichend. Es fehlt am Füreinander der Menschen - gerade auch derjenigen, die Führungskräfte sind. Es bildet aber die Voraussetzung dafür, dass sie wieder führen können.  

Es geht also nicht nur um persönliche Weiterbildung und Unterstützung der einzelnen Führungskraft, sondern um den Erfolg von Unternehmen, um die gemeinsame Bewegung in die zukunftsorientierte Richtung. Es geht um eine Zukunft, in der stabile Kultur mehr Halt geben muss, als dies labile Strukturen vermögen.  

Kurz gesagt: Eine erfolgreiche Unternehmensentwicklung erfordert eine herausragende Performance der Organisation. Diese Top-Performance ist nur durch eine integrierte und wirkungsvolle Führungskultur zu erreichen. Es ist nachweisbar: Unternehmen mit nachhaltig engagierten und motivierten Mitarbeitern sind erfolgreich und erzielen vielfach höhere Gewinne. Führung ist bestens investierte Zeit. 

Folgt man der oben zitierten Untersuchung von Towers Watson, können wir mit maximaler Motivation der Mitarbeiter die Umsatzrendite des Unternehmens theoretisch um den Faktor drei erhöhen. Umgekehrt lässt sich also schließen, dass der motivationsbezogene Leistungsgrad einer größeren Organisation bei etwa 33 Prozent liegt. Das ist aufgrund unserer eigenen Coaching- und Beratungserfahrungen und Befragungen realistisch. Allein eine Erhöhung um drei Prozentpunkte würde eine Leistungssteigerung um zehn Prozent bedeuten.  

Oft genug äußern Führungskräfte, dass sie keine Zeit für Führung haben, weil sie sich um die Anforderungen der Zentrale, um die fachlichen Probleme im Betrieb und um das aktuelle Tagesgeschäft kümmern müssen. Gründe gibt es genug, objektive wie auch subjektive. Es liegt daher an der Haltung des Einzelnen und an der Kultur des Unternehmens, welche Bedeutung Führung erhält und in welchem Maße sie eingefordert wird. Wegen "guter Führung" ist noch keiner befördert worden, konstatiert Reinhard K. Sprenger in seinem neuen Buch Radikal führen.


Führung ist Unternehmensentwicklung


Sprenger stellt weiter fest: "Führung ist mehr als das Handeln von Individuen. Führung äußert sich auch in Strukturen, Instrumenten und Institutionen - in Organisationen eben." Führungskräfteentwicklung ist nicht nur als individuelle Förderung zu verstehen, sondern als ein fundamentales, strategisches Unternehmensentwicklungsprogramm. Es gilt, persönliche Anspannung und Angst abzulegen und wieder eine Ebene der Freude und des Dialogs zu erreichen und diese zu erhalten - füreinander und um des gemeinsamen Erfolgs im Unternehmen willen. Eine erfolgreiche Unternehmensentwicklung braucht eine integrierte und durchgängige Führungskultur, in der die einzelne Führungskraft aber ihren Weg zur erfolgreichen Führung finden muss.  

Peter Wollmann, mit seinem Team verantwortlich für das Projektportfoliomanagement in der Zurich Gruppe Deutschland: "Oft braucht es einen Beginn in einzelnen Bereichen, um Sogwirkung auszulösen oder die Kulturveränderung anzutreiben. In unserem Führungsteam und in unseren großen Veränderungsprojekten haben wir gemeinsam mit den Mitarbeitern die Erfahrung gemacht, wie labil Strukturen sind. Uns wurde klar, dass wir uns um eine stabile Kultur kümmern müssen und welchen Prinzipien diese folgen muss. Dazu gehören Mut zum Ausprobieren genauso wie Verlässlichkeit und eine gute Feedbackkultur. Das müssen wir in unserer Führungskultur erlebbar und spürbar machen, anders können wir die Mitarbeiter gar nicht befähigen und ermutigen." 

Harald Ring bestätigt: "Wir erleben in unserem Unternehmen täglich, wie eine zuverlässige Führungskultur erst die Voraussetzungen und die Freude an Höchstleistung schafft. Im letzten Jahr haben wir innerhalb von sechs Monaten das Projektmanagement weltweit erneuert. Da konnten wir uns die Führungskultur quasi durch das Vergrößerungsglas ansehen. Was haben wir gesehen: Anschub mit klaren Vorstellungen seitens des CEO, voller Rückhalt durch die Unternehmensspitze, sie haben sich wie die Mitarbeiter selbst in einem Workshop mit dem Thema vertraut gemacht und damit auseinandergesetzt. Klare Wertschätzung und positive Rückmeldungen an die internen Trainer, die in das kalte Wasser gesprungen sind. Schnelle Entscheidungsprozesse gemeinsam mit den Managerkollegen. Keine Eitelkeit, sondern gemeinsam etwas voranbringen, mit Freude und Stolz." 

Resümee: Mit gemeinsamer Führungskultur bewegt man das Unternehmen auch durch die Unsicherheiten der Märkte und die laufende Veränderung der Strukturen. 

Führung ist keine Position, sondern ein Erlebnis zwischen Menschen im Unternehmen: zwischen denen, die durch Haltung und Verhalten, Kompetenz und Charakter das Vertrauen derer erwerben, die ihnen mit gutem Gefühl folgen, um gemeinsam Sinn, Wirkung und Erfolg zu verbinden. Zwischen Führendem und Geführtem besteht eine systemische Verbindung, denn beide befinden sich in einem Netz gegenseitiger Abhängigkeiten. Jeder beeinflusst und wird beeinflusst. Wenn Position und Führung zusammengehen, ist die Organisation authentisch. Kultur und Struktur passen in den Menschen zusammen, die das verstehen und ihr Verhalten darauf ausrichten.  

Wenn Menschen neuer Halt im verlässlichen Miteinander gegeben werden soll, ist Führung kein persönliches Thema mehr, das durch vereinzelte Seminare oder Coaching-Maßnahmen gefördert werden kann, sondern ein fundamentales Thema der ganzen Unternehmenskultur. Die gemeinsame Führungskultur bestimmt die Überlebensfähigkeit und Zukunftsfestigkeit des Unternehmens. Führung braucht deshalb eine organisationsweite, konsistente, lebendige und glaubhafte Entwicklung, die von der Unternehmensspitze aktiv betrieben wird. Sie manifestiert sich in den Menschen, die diese Verantwortung übernehmen werden und die eine achtsame und verantwortungsvolle Entwicklung und Unterstützung verdienen.  


Praxisanhang: Erlebtes zur Entwicklung der Führungskultur


Wer führt, hat zu viel Zeit - aus der Not zum geführten Unternehmen werden 

"Wer führt, hat zu viel Zeit", das ist ein Zitat des Vorstands in einem Technologieunternehmen. Nur Top-Fachwissen zählt. So ist das Unternehmen entstanden, so hat es erste Erfolge in seiner Pionierzeit erzielt, deswegen kommen auch die jungen Spezialisten von der Universität mit ihrem so wichtigen, neuesten technischen Know-how. Wie das Unternehmen organisatorisch funktionieren soll, ist für sie mit großer technischer Perfektion im Unternehmenshandbuch beschrieben.  

Jetzt gerät das Unternehmen in existenzielle Schwierigkeiten, es muss flexibel reagieren. Das Problem: Die jungen Mitarbeiter sind ungeübt darin, mit unsicheren Situationen umzugehen, die so nicht im Unternehmenshandbuch beschrieben sind. Die Leitenden sind ungeübt, in dieser Situation Führung zu übernehmen.  

Vorträge über Führungstheorien helfen jetzt nicht mehr. Es heißt "hands-on". Welche dringenden Situationen müssen mit den Mitarbeitern gemeistert werden? Wie spreche ich die Mitarbeiter an, nehme sie mit, halte sie im Unternehmen? Welche Meetings brauchen Moderation, damit schnell Ergebnisse erzielt werden und die Beteiligten neuen Schwung spüren? Wie setze ich Projekte auf, die bewusst die Regeln brechen sollen? Welche Leistungsträger brauchen Coaching, um neue Wirksamkeit zu entfalten?  

Nach anfänglicher Skepsis setzen Unternehmen dann externe Unterstützung ein, um den "Ausbruch" aus der eigenen, fatalen Situation und den eingeübten Verhaltensweisen mit einem Entwicklungsprogramm zu schaffen. Ein solches Programm unterstützt nicht nur Lösungen, sondern ist auch eine für die Führungskräfte persönlich spürbare Wertschätzung und Investition. Die konkrete Arbeit an Situationen schafft Handlungswissen, der kollegiale Austausch eine gute gemeinsame Bewegung. Eine Aufbruchsstimmung für die Zukunft des Unternehmens entsteht, die auch die Mitarbeiter erreicht und den Vorstand überrascht.  

Entscheidend ist jetzt das "Dranbleiben": Wie halten die Führungskräfte die Energie aufrecht? Wie können sie "sich selbst führen", um in der schwierigen Zeit anderen Halt zu geben? Welche Unterstützung wünschen sie? Unternehmen räumen Zeit und Raum für persönliches Coaching, für Führungswerkstätten, Erfahrungsaustausch und Qualifizierung ein, damit das gemeinsame Bild von Führung wächst.  


Führung im Wandel - den Schatz der gemeinsamen Führungskultur bergen 

Das weltweit agierende Industrieunternehmen steht vor organisatorischen Veränderungen. Die Geschäfte sollen neu geordnet werden. Das gerade gestartete Leadership-Programm stößt in dieser Situation zuerst auf Verwunderung, dann aber auf sehr positive Resonanz.  

Das Ziel: Die Motivation und Kompetenz für Führung im Wandel zu steigern. Die Botschaft des Vorstands: Wir wollen die Veränderung gut meistern - als Unternehmen wie auch jeder Einzelne als Person; wir wollen es nach Kräften miteinander gut schaffen. Aber auch absolute Offenheit: Was das für jeden von uns in letzter Konsequenz persönlich heißt, wissen wir noch nicht. Aber wir werden füreinander sorgen.  

Die Führungskräfte erfahren verlässliches Verhalten des Vorstands und Engagement für ihre persönliche Entwicklung. Die Mitarbeiter nehmen das wahr, und so wird es ja auch von ihnen selbst erwartet. Das Bild des gegenseitigen Vertrauens "passt"; für dieses Unternehmen setzen sich Vorstand, Führungskräfte und Mitarbeiter gleichermaßen ein.  

Es herrscht eine Kultur und Atmosphäre, die dem Externen beim Betreten des Unternehmens schnell auffällt. Ein teilweise unbewusster Schatz, mit dem er achtsam umgeht, um ihn durch gemeinsame Reflexion zu bergen und gemeinsam in achtsames, verantwortungsvolles Handeln umzusetzen.  


Wir brauchen jeden mit dem, was er will und kann - Führung als Aufgabe im Unternehmen und für die Kollegen 

Das IT-Unternehmen möchte eine hohe Beweglichkeit in seiner Organisationsstruktur bewahren. Dazu gehört, dass Funktionen auch flexibel festgelegt und besetzt werden sollen, je nach Auftragslage und Unternehmenssituation.  

Das Unternehmen setzt deshalb einen Veränderungsprozess in Gang, in dem Führungsfunktionen explizit zu Führungsaufgaben umdefiniert werden. Führung wird als temporäre Aufgabe neben fachlichen Aufgaben beschrieben. Sie wird nach Zweckmäßigkeit und Sinnhaftigkeit vergeben. Es ist deshalb auch kein persönliches Manko, eine Führungsaufgabe wieder abzugeben. Es ist auch in Ordnung, wenn Führung länger bei einer Person mit anerkannter Erfahrung bleibt. Führung lässt sich auch eine Zeit lang ausprobieren - liegt sie einem oder eher nicht?  

Das funktioniert, weil es sich um eine Wissensorganisation mit einem hohen Anspruch an fachlicher Expertise wie Selbstorganisation aller Mitarbeiter und mit kreativen Arbeitsbedingungen handelt. Wertschätzung gibt es deshalb nicht nur für Führung.  

Entwickelt wird das neue Konzept iterativ. Die Geschäftsführung informiert über das beabsichtigte "Organisationsexperiment" und seine Rahmensetzung (Ziele und Strategie des Unternehmens, zukunftsorientierte Werte und kooperatives Führungsverhalten) und sucht einige Aufgabenbereiche im Unternehmen aus, die als Piloten fungieren. In moderierten Gruppen sortieren und ordnen die Mitarbeiter die vorliegenden Aufträge, Aufgaben und Qualifikationen. Sie diskutierten, was es an Führung braucht und wie man Führung verstehen will. Darauf bezogen schätzen die Führungskräfte ihren Zeitaufwand für die notwendige Führung und entscheiden, wer die Führung für die Gruppe übernehmen will. In regelmäßigen Review-Meetings überprüfen sie das Ergebnis.  

Dieses Vorgehen hat sich mittlerweile gut etabliert. Zu beobachten ist eine zunehmende "Reife" in der Beschreibung, welche Kriterien eine gute Führung erfüllen muss und wie die Führungsaufgabe vergeben wird. Einige Mitarbeiter mit Führungsaufgaben haben mittlerweile bereits wieder wichtige Fachaufgaben übernommen, weil sie dort mehr gebraucht werden.  

Das ist der Erfolg: Meine Zufriedenheit erwächst nicht aus einem Status, sondern daraus, dass "mein Unternehmen" und "mein Team" mich brauchen - jetzt und hier und mit meinem wertgeschätzten Beitrag, ob er Führung oder fachliche Expertise heißt.  


Einladung zum COO-Circle - Entwicklung der gemeinsamen Führungskultur in Kommunikationskreisen  

Das international agierende Industrieunternehmen gibt sich nach umfangreicher externer Beratung eine Matrixstruktur. Produktdivisionen, Fachzuständigkeiten, Shared Service Center und regionale Zuständigkeiten ergänzen sich zu einem komplexen Konglomerat. Die Führungskräfte haben die Rollen in dieser Matrixorganisation beschrieben und diskutiert, die passenden Manager ausgewählt und eingesetzt. Jeder ist erst einmal mit sich selbst beschäftigt, tastet seinen Bereich, seine Möglichkeiten und seine Grenzen in der neuen Struktur ab.  

Als gesundes "Gegengewicht" zu diesen persönlichen Positionierungen ergreift der COO die Initiative und bildet einen organisationsübergreifenden COO-Circle. Für ihn ist es wichtig, gemeinsam mit den verschiedenen technischen Divisionsleitern und Querschnittsfunktionen eine lebendige Zusammenarbeit und abgestimmte Führung zu erreichen. Nur so kann eine integrierte und effiziente Produktentwicklung, Beschaffung, Logistik, Produktion und Qualitätssicherung funktionieren.  

Er weiß, dass das Raum und Zeit braucht. Er lädt deshalb den COO-Circle zu einem regelmäßigen, monatlichen "Thementag" ein. An diesem Tag kommt auf den Tisch, was die Teilnehmer aktuell bewegt. Erfahrungen werden ausgetauscht, die von der Geschäftsentwicklung über wichtige Kennzahlen und schwierige Führungssituationen bis hin zu Fragen der persönlichen Nachfolger und ihrer Förderung reichen.  

Die Öffnung auch für persönliche Themen fällt den Teilnehmern in diesem Kreis nach anfänglichem Abtasten überraschend leicht. Der COO geht mit gutem Beispiel voran, erzählt, was ihn bewegt, begeistert und bedrückt. Die anderen erkennen schnell die Möglichkeit, sich aus den im Organigramm gezeichneten Kästchen und Barrieren zu befreien und sich miteinander zu entwickeln.  

Bei fachlich sehr spezifischen oder bereichsübergreifenden Themen lädt der Kreis Mitarbeiter oder Vertreter anderer Bereiche dazu ein, gemeinsam an Erkenntnissen und Lösungen zu arbeiten. Führungskräfte wie Mitarbeiter sehen den COO-Kreis zunehmend als initiatives, aktives und stabilisierendes kulturelles Element des Unternehmens.  

Schließlich ergreift der COO-Kreis die Initiative für ein Nachwuchsförderprogramm, an dem zunächst die jungen Kräfte in den technischen Bereichen teilnehmen sollen. Die Ziele: Kompetenz und Motivation für Führung, fachlicher Überblick auch bereichsübergreifend, eine vertrauensvolle und fruchtbare Zusammenarbeit zwischen den künftigen Führungskräften. Der Kreis bezieht dazu die Personalentwicklung mit ihrer spezifischen Expertise aktiv ein.  

Im Zuge dieser Entwicklung und in der Vorbereitung des Nachwuchsförderprogramms entsteht im Board eine fruchtbare Diskussion über Führung. Die Themen, Entwicklungen und Qualifizierungen, die man im Nachwuchsförderprogramm platzieren will, probiert man zuerst für sich selbst aus: Führungsstile, persönliche Typologien, Interventionen als Führungskraft, Umgang mit Macht, Feedback, Umgang mit der eigenen Zeit. Sie erleben Führung als ausdrücklichen, wahrnehmbaren und viel diskutierten Teil der Unternehmenskultur.  


changeX 18.01.2013. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Autorin

Gerit Sophia Fuchs
Fuchs

Gerit Sophia Fuchs, Dipl.-Kauffrau, Coach, systemische Unternehmens-beraterin (Komplementär-beratung) und Trainerin. Langjährige Führungserfahrung in Großkonzernen und Start-up-Unternehmen. Arbeitsschwerpunkte sind Entwicklung der Persönlichkeit, Verbesserung der internen wie der externen Kommunikation sowie Initiierung und Begleitung von Veränderungsprozessen in der Führungs- und der Unternehmenskultur. Arbeitet mit Führungskräften und Mitarbeitern individuell, als Team und als Organisation. info@fuchs-coaching-beratung.de

Autor

Frank Kühn
Kühn

Dr. Frank Kühn, Studium Maschinenbau mit Schwerpunkt Arbeitswissenschaft, Promotion im Bereich Ergonomie. Leitende Funktionen in Forschung und Industrie: Arbeitswirtschaft, Logistik, Organisation, Produktionsstrategien, Projektmanagement. Mitgründer Integrated Consulting Group Deutschland. Als Berater arbeitet Frank Kühn seit über 20 Jahren mit Führungskräften und Managementteams, die zukunftsfähige Organisations-, Führungs- und Kooperationskonzepte, schnellere Prozesse und wirksameres Projektmanagement realisieren wollen. Coaching umfangreicher Veränderungsprojekte und Effizienzprogramme in Handel, Industrie, Dienstleistung, Wissenschaft. Zahlreiche Publikationen, Lehrauftrag für Industrielles Projektmanagement. frank.kuehn@integratedconsulting.de

Autor

Dieter Marth
Marth

Dieter Marth, Sozialwissenschaftler, Pädagoge. Trainer und Referent in der Erwachsenenbildung, dann Geschäftsführer. Langjährige Leitung der Personal-entwicklung und Personalbereiche im Handel, national und international. Erfahren in Personalauswahl, Diagnostik, Personalentwicklung, Arbeitsrecht, Entwicklung und Coaching von Führungsteams. Mitgründer Integrated Consulting Group Deutschland und Begleiter von Organisationen bei herausfordernden Change-Prozessen. dieter.marth@integratedconsulting.de

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