Die Kraft innerer Bilder
Bildwissen wird in seiner Bedeutung völlig unterschätzt. Doch als dritte Wissensform neben explizitem und implizitem Wissen beeinflusst pictorial knowledge unser Wahrnehmen und Verhalten ganz entscheidend. Art-Coaching will unsere inneren Bilder erschießen und für Persönlichkeits- und Organisationsentwicklung nutzbar machen.
Christel Schmieling-Burow, Studienrätin Kunst/Deutsch und langjährige Lehrbeauftragte an der Universität Kassel, ist Begründerin des Art-Coaching-Verfahrens. Prof. Dr. Olaf-Axel Burow lehrt Allgemeine Pädagogik an der Universität Kassel und ist Autor zahlreicher Fachbücher zu Pädagogik, Organisationsentwicklung und Kreativitätsforschung. Gemeinsam haben sie das Buch Art-Coaching geschrieben, das bei Beltz erschienen ist. In unserem Interview berichten sie über das Potenzial innerer Bilder.
Die Grundannahme Ihres Buches ist, dass das Bildwissen gegenüber dem expliziten und impliziten Wissen in seiner Bedeutung unterschätzt worden ist. Würden Sie uns diese These bitte kurz erläutern?
Wie die Neurobiologen Gerald Hüther in Die Macht der inneren Bilder und jüngst auch Gerhard Roth in Über den Menschen gezeigt haben, wird unser Verhalten in vielen Fällen weniger durch rationale Entscheidungen, die auf explizitem Wissen beruhen, gesteuert, sondern sehr viel mehr durch Emotionen, die sich zu inneren Bildern verdichten.
Ein anderer Hirnforscher, Ernst Pöppel, bezeichnet diese Wissensform, die unser Handeln und Verhalten in hohem Maß beeinflusst, als pictorial knowledge, "Bildwissen". Der Sozialpsychologe Howard Gardner hat schon vor Jahren in seinem Buch Der ungeschulte Kopf gezeigt, wie wir intuitiv in Bildern denken. So verbinden wir beispielsweise mit großen Menschen intuitiv Stärke, Kompetenz oder Macht.
Bildwissen, als dritte Wissensform neben explizitem und implizitem Wissen, ist auch eng mit dem assoziiert, was der Nobelpreisträger Daniel Kahneman als "schnelles Denken" bezeichnet: Ehe wir es uns klarmachen, steht unser Urteil fest - auch aufgrund unserer in inneren Bildern verdichteten Erfahrungen. In der politischen Kommunikation sehen wir, wie mit dem Einsatz von Bildwissen versucht wird, das kritische Nachdenken abzustellen.
Zum Beispiel?
Etwa wenn die Grünen aufgrund wissenschaftlich basierter Erkenntnisse vernünftige Forderungen nach notwendigen Einschränkungen stellen, reagiert die Gegenseite mit dem emotional negativ besetzten Bild einer "Verbotspartei" - wohl wissend, dass mit dieser Etikettierung eine wirksame Mauer gegen differenzierte Argumentation gezogen ist. Oder wenn berechtige Forderungen nach sozialem Ausgleich erhoben werden, kommt der Vorwurf des Neidkomplexes, und vor unserem inneren Auge taucht das Bild verachtenswerter Neider auf. Solche Begriffe mobilisieren negativ besetzte innere Bilder, gegen die man mit explizitem Wissen, also mit Argumenten, nur schwer ankommen kann. Das ist ein Grund, warum Populisten und Vereinfacher so erfolgreich sind.
Es ist immer wieder überraschend zu sehen, was alles aus dem als gesichert geltenden Wissen ausgeblendet worden ist. Woher rührt diese Vernachlässigung des Bildwissens?
In Schule, Wissenschaft, Politik und Journalismus konzentrieren wir uns auf die Vermittlung kognitiven Wissens in Form von Daten und Fakten. Wir gehen dabei von der Kraft des besseren Arguments aus - was sich aber häufig als Illusion erweist. Wie sich beispielsweise bei Donald Trumps für viele überraschendem Erfolg gezeigt hat, zählen beim "normalen" Publikum weniger das solide, wissenschaftlich fundierte Argument, sondern stärker das eindrückliche Bild und die bessere Erzählung.
Aus dieser Diskrepanz zwischen der Macht der inneren Bilder und der relativen Schwäche rationaler Erkenntnis resultiert die Transformationslücke, die fast alle Bereiche unserer Gesellschaft charakterisiert: Obwohl wir überinformiert sind und zum Beispiel wissen, dass wir aufgrund des Klimawandelns unseren Lebensstil ändern müssen, sind nur wenige dazu in der Lage und suchen viele Zuflucht in der Verleugnung von unbequemen Fakten.
Welche Bedeutung haben Bilder für unsere Wahrnehmung der Welt?
In den unser Wahrnehmen und Handeln leitenden inneren Bildern und den Geschichten, die wir uns über uns selbst erzählen, verdichten wir nicht nur unsere Erfahrungen, sondern entwickeln auch ein Bewertungssystem, das unserem Leben Sinn und Orientierung gibt. Das Problem ist, dass die daraus entstehende Selbst- und Weltsicht nicht an das Kriterium wissenschaftlicher Wahrheit, sondern persönlicher Stimmigkeit gebunden ist.
Das würde bedeuten, dass die ästhetische Dimension unserer Wahrnehmung einen bedeutenden Teil zu unserem Verständnis der Welt beiträgt?
In der Tat. Die ästhetische Dimension, die unser Wahrnehmen und Verhalten massiv beeinflusst, wird völlig unterschätzt. So spricht man zum Beispiel in der Pädagogik erst seit Kurzem vom "Raum als drittem Pädagogen". Wie ich mich beim Lernen fühle, was ich aufnehme, hängt nicht nur von der Ausstrahlung der Lehrkraft, sondern auch von der gestalteten Umgebung ab. Die Art und Weise, wie jemand spricht, der Tonfall, seine Wortwahl und Haltung verdichten sich im Bild der Person und entscheiden über deren Wirkung, die durch eine ansprechende Umgebung gesteigert werden kann.
Art-Coaching versucht nun, dieses Bildwissen zu erschließen?
Art-Coaching ist ein Beratungsansatz, der Dimensionen der Kunst beziehungsweise ästhetischer und narrativer Ausdrucksverfahren für den Coaching-Prozess sowie die Personal- und Organisationsentwicklung erschließt. Durch Analysieren des eigenen Lebensskripts, durch schöpferisches Gestalten und die Begegnung mit Kunst wird es Einzelnen und Gruppen möglich, kreative Potenziale freizusetzen, die eigene innere Berufung zu entdecken und Entwicklungsziele zu setzen. Art-Coaching ermöglicht Potenzialentfaltung, Zentrierung und Sinnfindung für Personen und Organisationen.
Wie arbeitet Art-Coaching nun konkret?
Ein erster Ansatzpunkt zur Entwicklung einer differenzierten Selbstsicht besteht bei unserem Art-Coaching-Ansatz deshalb in der Bearbeitung eines Persönlichkeitsfragebogens, der über den narrativen Zugang zur Erkenntnis unseres "persönlichen Mythos" führt, also zur Einsicht in die Geschichte, die wir uns und anderen über uns erzählen. Dieses Vorgehen geht auf den amerikanischen Psychologen Dan P. McAdams zurück, der aufgrund der Analyse von Hunderten Selbsterzählungen die These vertritt, dass wir alle uns mit unseren Geschichten - quasi als Regisseure unseres Lebens - einen "persönlichen Mythos" konstruieren, der uns in unübersichtlichen Verhältnissen Orientierung und Sicherheit verleiht. Diese Selbsterzählung ist durch eine narrative Färbung geprägt, zum Beispiel einen eher optimistischen oder pessimistischen Tonfall, der nicht nur unsere Selbstwahrnehmung, sondern auch unsere Weltsicht beeinflusst.
Das ist so lange nicht problematisch, wie dieser Mythos für unser Erleben hilfreich ist und es uns ermöglicht, bei wechselnden Herausforderungen zu funktionieren. Wenn etwa eine Person, die ganz augenscheinlich unter einer Trennung leidet, uns mitteilt, es gehe ihr ausgezeichnet, kann das durchaus als Selbstschutz sinnvoll sein und der Aufrechterhaltung des eigenen Selbstbildes dienen. Problematisch wird die Sache, wenn die Diskrepanz zwischen der Erzählung und der Wirklichkeit zu groß wird und damit eine realitätsangemessene Selbstentwicklung behindert.
Um auf das Beispiel Donald Trumps zurückzukommen: Der Mythos, den er konstruierte, etwa dass er und seine Regierung Großartiges geleistet hätten und ihm die Wahl gestohlen worden sei, ist immerhin so gut ausgearbeitet, dass sie fast die Hälfte der Amerikaner überzeugt - und Trump mit hoher Wahrscheinlichkeit selbst vom Wahrheitsgehalt seiner Erzählung überzeugt ist. Wer seinen persönlichen Mythos authentisch lebt, kann eine große Anziehungskraft auf Menschen ausüben, die sich mit vermeintlichen "Siegertypen" identifizieren. Solche in Bildern verdichteten Mythen können in gefährliche Realitätsverleugnungen münden, wenn sie durch ein aufnahmebereites Publikum übernommen und gestützt werden.
Was ist der nächste Schritt beim Art-Coaching?
Mit dem narrativen Zugang - einem modifizierten Mythenfragebogen nach McAdams - erfahren wir mehr über unser Selbstbild und das Drehbuch, an dem wir meist unbewusst jeden Tag schreiben. Danach eröffnen wir mit dem Malen eines expressiven Selbstporträts einen Zugang zu den Quellen unseres Selbst und unseres Wollens. Angeleitet durch eine Meditation und unterstützt durch die Wahl eines persönlich bedeutsamen Kunstwerks (in Form von Kunstdrucken) entstehen faszinierende Selbstporträts, die eine erweiterte Sicht auf das eigene Selbst ermöglichen.
Was bewirkt es, Zugang zu diesen inneren Bildern zu erhalten?
Narrativer und bildnerisch-gestaltender Zugang ergänzen einander und führen oft zur Entdeckung bislang unerschlossener Potenziale und dienen der Zielklärung. So berichten uns Teilnehmerïnnen noch nach Jahren, dass sie ihr Porträt an zentraler Stelle in ihrer Wohnung aufgehängt haben, und dass es sie von Zeit zu Zeit daran erinnert, welche ihre Ziele sind und was ihre "innere Berufung" ist. Nicht wenige unserer Lehramtsstudierenden haben durch dieses Verfahren erkannt, dass sie sich aus Vernunftgründen zum Lehramtsstudium entschieden haben, es aber nicht ihrem inneren Wollen entspricht. Andere haben bislang ungenutzte Neigungen und Talente erkannt, die sie nun verfolgen wollen. Auch entstehen durch den Austausch über die entstandenen Porträts in der Gruppe nicht selten intensive Beziehungen, die bisweilen auch in die Entwicklung von gemeinsamen Projekten münden.
Sie sprechen zwei Bezugsdimensionen dieses Bildwissens an: das Selbst und Organisationen. Welche Bedeutung hat Bildwissen für Organisationen und wie lässt es sich für die Organisationsentwicklung nutzen?
Während das Verfahren des expressiven Selbstporträts mit der Herausarbeitung des persönlichen Mythos etwas für Personen ist, die mehr über ihr Lebensdrehbuch und ihre Potenziale wissen möchten, setzen wir bei der Entwicklung von Organisationen einen anderen Schwerpunkt. Im Rahmen von Schul- und Organisationsentwicklungsprojekten, in Zukunftswerkstätten und bei Bürgerbeteiligungsverfahren geht es darum, Potenziale freizusetzen, Ziele zu klären, den gemeinsamen Grund herauszuarbeiten und für Engagement zu sorgen. Der Einsatz von Bildwissen erweist sich hier als ausgezeichnetes Instrument, um aus alten Routinen und Formaten auszusteigen und intensive Begegnungen, Vernetzung und kreativen Austausch anzuregen.
Wie kann das konkret aussehen? Haben Sie ein Beispiel?
Folgendes Beispiel kann die Bedeutung des Einsatzes von Bildwissen für Prozesse der Organisationsentwicklung deutlich machen: Vor einiger Zeit haben wir mit dem Vorstand und den Führungskräften eines großen Stromerzeugers eine Zukunftsreise durchgeführt, an deren Ende die Teilnehmenden zunächst die gewohnte Ebene einseitig kognitiv orientierten Austausches verlassen sollten, um mit Ölkreiden ihre Zukunftsvisionen in Symbolen auszudrücken - mit dem Ziel, ihre handlungsleitenden inneren Bilder freizusetzen. Nachdem die anfängliche Irritation über dieses ungewöhnliche Vorgehen verflogen war, entstand ein intensiver Austausch über persönliche Träume und Visionen, der dazu führte, dass wir innerhalb eines Tages ein von allen getragenes faszinierendes Leitbild mit einem "Zukunftscode", bestehend aus drei gemeinsam geteilten Kernwerten, entwickelt hatten. Unser Gedankenzeichner, der die Zukunftswerkstatt begleitet hat, schuf aus den Bildern der Führungskräfte ein Zukunftsbild, das die Richtung der Entwicklung des Unternehmens in den nächsten zehn Jahren anschaulich verdichtet. Ein "Leitbild" ist ja oft ein allgemein gehaltener Textfriedhof und bewegt niemanden. Doch dieses Bild - verbunden mit den gemeinsam verabschiedeten Kernwerten -, das heute jeder Mitarbeiter in Form einer kleinen Broschüre und eines Posters an seinem Arbeitsplatz hat, ist motivierend und bringt die Organisation auf Kurs.
Abseits eines solchen Großprojektes der Leitbildentwicklung kann die Freisetzung und Nutzung von Bildwissen Veranstaltungen und Konferenzen beleben und zu intensiviertem persönlichem Austausch beitragen, der das Engagement wirkungsvoll erhöht.
Um noch einmal die Perspektive zu weiten: Sie sprechen von einer aus dem Ruder gelaufenen Überwertung einseitig rationaler Weltzugänge. Das ist ein hartes Urteil.
Das kommt auf den Kontext an: Natürlich ist es ein unschätzbarer Vorteil, dass wir heute über ein ständig sich erweiterndes Wissen verfügen und damit unsere Entscheidungen auf eine rationale Basis stellen können. Das hat sich in viele Bereichen von der Bewältigung der Pandemie bis zum Klimawandel gezeigt. Doch Wissen allein führt nicht zwangsläufig zu den notwendigen Veränderungen. Die erfolgreiche Vermittlung von Wissen kann nur gelingen, wenn wir die Wirkung und das Zustandekommen unserer mentalen Modelle, unseres Mindsets, verstehen und berücksichtigen. Nur wenn wir explizites mit implizitem Wissen und pictorial knowledge verbinden, werden wir wirksam sein. Denn bei der Übernahme von Erkenntnissen und bei Verhaltensänderungen spielen Emotionen, Geschichten und Bilder eine entscheidende Rolle. Art-Coaching kann hier unser Verständnis erweitern und uns Werkzeuge an die Hand geben, wie wir wirksamer kommunizieren und damit die Transformationslücke zumindest partiell überwinden können.
Das Interview haben wir schriftlich geführt.
Zitate
"Ehe wir es uns klarmachen, steht unser Urteil fest - auch aufgrund unserer in inneren Bildern verdichteten Erfahrungen." Olaf-Axel Burow, Christel Schmieling-Burow: Die Kraft innerer Bilder
"In den unser Wahrnehmen und Handeln leitenden inneren Bildern und den Geschichten, die wir uns über uns selbst erzählen, verdichten wir nicht nur unsere Erfahrungen, sondern entwickeln auch ein Bewertungssystem, das unserem Leben Sinn und Orientierung gibt." Olaf-Axel Burow, Christel Schmieling-Burow: Die Kraft innerer Bilder
"Die ästhetische Dimension, die unser Wahrnehmen und Verhalten massiv beeinflusst, wird völlig unterschätzt." Olaf-Axel Burow, Christel Schmieling-Burow: Die Kraft innerer Bilder
"Art-Coaching ist ein Beratungsansatz, der Dimensionen der Kunst beziehungsweise ästhetischer und narrativer Ausdrucksverfahren für den Coaching-Prozess sowie die Personal- und Organisationsentwicklung erschließt." Olaf-Axel Burow, Christel Schmieling-Burow: Die Kraft innerer Bilder
"Art-Coaching ermöglicht Potenzialentfaltung, Zentrierung und Sinnfindung für Personen und Organisationen." Olaf-Axel Burow, Christel Schmieling-Burow: Die Kraft innerer Bilder
"Die erfolgreiche Vermittlung von Wissen kann nur gelingen, wenn wir die Wirkung und das Zustandekommen unserer mentalen Modelle, unseres Mindsets, verstehen und berücksichtigen. Nur wenn wir explizites mit implizitem Wissen und pictorial knowledge verbinden, werden wir wirksam sein." Olaf-Axel Burow, Christel Schmieling-Burow: Die Kraft innerer Bilder
changeX 29.07.2021. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Christel Schmieling-Burow, Olaf-Axel Burow: Art-Coaching. Das Potenzial der inneren Bilder nutzen. Beltz Verlag, Weinheim und Basel 2021, 204 Seiten, 39.95 Euro (D), ISBN 978-3-407-36719-8
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.