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Innovation in the Mix

"Kreativität ist viel weniger göttlich, als wir denken" - ein Gespräch mit dem Innovationsforscher Sascha Friesike
Interview: Winfried Kretschmer

Kreativität, das ist, wenn einem ganz was Neues einfällt? Sie offenbart sich via Aha-Effekt, Geistesblitz oder Heureka-Erlebnis? Und überkommt uns bevorzugt in der Nasszelle? Ja? Um Kreativität und Innovation ranken sich diverse Mythen, die sowohl den Prozess wie das Ergebnis, die Idee, verklären: als irgendwie göttliche Eingebung. Dabei ist Innovation nichts weiter als Rekombination von Vorhandenem. Ist Mix und Remix. Und eine zähe Angelegenheit: Neues entwickelt sich meist viel mühsamer, schrittweiser, längerfristiger und ist von anderem inspiriert, als wir das wahrhaben wollen.

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Spätestens seit Schumpeter wissen wir, dass Innovation Rekombination ist. Dennoch ranken sich um Innovation und Kreativität zahlreiche Mythen. Warum? Weil wir ein relativ beschränktes Verständnis davon haben, wie Kreativität funktioniert. Sagt Sascha Friesike. 

Prof. Dr. Sascha Friesike ist Forscher für Internet und Gesellschaft. Er lehrt an der VU Universität in Amsterdam. In seiner Forschung beschäftigt Friesike sich vor allem mit der Frage, wie die Digitalisierung dazu beitragen kann, dass Neues entsteht. Zuletzt ist von ihm erschienen: Der Kreativcode (zusammen mit Oliver Gassmann).
 

Herr Friesike, was ist der hartnäckigste Mythos über das Entstehen von Innovationen? 

Mein Lieblingsmythos: Um Innovation möglich zu machen, muss man dafür sorgen, dass zuvor nicht verbundene Aspekte miteinander verbunden werden. Um diesen Mythos herum wird unglaublich viel veranstaltet: offene Büros, damit Leute einander begegnen können, man nichts verpassen und ganz schnell nachfragen kann - das soll die Verbindung zwischen unterschiedlichen Bereichen, wo Ideen entstehen können, ganz einfach machen. Soll Inspiration ermöglichen. Dabei wird aber übersehen, dass viele Innovationen daher kommen, dass Menschen, die viel Ahnung auf ihrem Gebiet haben, sich in einer kleinen Gruppe abschotten und nachdenken. In der Wissenschaft kommt es zu Durchbrüchen, wenn Leute in der Isolation Zeit finden, zu reflektieren. In der Arbeitswelt aber machen wir genau das mehr und mehr unmöglich. Damit fördern wir eine Form von Innovation, blockieren aber die andere. Wir glauben, damit Innovation zu beschleunigen, obwohl wir einen großen Teil davon abschneiden. Das ist mein Lieblingsmythos.
 

Eine andere populäre Vorstellung, die herumgeistert, ist, dass Innovation immer mit einem Aha-Erlebnis verbunden sei. Ist das auch einer dieser Mythen? 

Dieser Mythos geistert tatsächlich herum. Da gibt es diese Geschichten: von Newton, dem ein Apfel auf den Kopf fällt - und in diesem Augenblick versteht er Gravitation; oder das "Heureka!" von Archimedes, der in der Badewanne entdeckt haben soll, wie sich das Volumen von Gold messen lässt. Daher stammt dieser Mythos vom Geistesblitz, im Englischen "divine invention". Kreativität wird ja gerne als etwas Übernatürliches gesehen, das wir nicht erklären können. Sie wird auf eine Art Eingebung zurückgeführt. In Wirklichkeit entwickelt sich Neues meist viel mühsamer, schrittweiser, längerfristiger und ist von anderem inspiriert, als wir das wahrhaben wollen. Kreativität ist viel weniger göttlich, als wir denken.
 

Eigentlich ist das Heureka-Erlebnis von Archimedes ein Beispiel für Serendipity: etwas zu finden, wonach man nicht gesucht hat. Und vermutlich das erste Beispiel für den Nasszellen-Mythos der Kreativität. 

Viele Leute sagen, dass ihnen die besten Ideen unter der Dusche kommen. Nicht weil Wasser besonders inspirierend wäre. Sondern weil unser Gehirn, wenn wir uns lange mit einem Thema beschäftigt haben, sich aus dem Unterbewusstsein meldet, wenn es in der Lage war, Dinge zu verbinden, eine Brücke zu schlagen. Und unser Gehirn macht das, wenn wir es nicht anderweitig belasten. Wenn wir am Schreibtisch sitzen und arbeiten, ist unser Gehirn beschäftigt, es kann nicht auch noch nach Verbindungen suchen. Aber unter der Dusche haben wir nichts zu tun, außer die langweiligen Fliesen anzugucken. Und dann meldet sich das Unterbewusstsein: "Ich habe eine Verbindung gefunden!" Daher das Gefühl des Geistesblitzes. In Wirklichkeit aber haben wir das Gehirn die ganze Zeit zuvor mit Informationen gefüttert und erst jetzt, in dieser fast meditativen Ruhephase, findet es die Verbindung, nach der wir schon länger gesucht hatten. Also weniger eine Eingebung als eine Verarbeitung.
 

Die Verbindung, diese Brücke, die geschlagen wird, ist das Entscheidende dabei? So wie Steve Jobs gesagt hat: "Kreativität heißt bloß, Dinge miteinander zu verbinden." 

Genau. Das Unterbewusstsein macht nichts anderes, als Muster miteinander zu verbinden - wenn wir über künstliche Intelligenz reden würden, würden wir das Pattern Matching nennen -, und meldet dann dem Bewusstsein, wenn es eine Brücke gefunden hat. Das kennt jeder. Schon die ersten Theorien zu Kreativitätsprozessen gingen davon aus, dass das Gehirn diese Inkubationszeit braucht, um eine Verbindung herzustellen. Das wird auch jeder bestätigen, dem schon mal was eingefallen ist. Mir ging es früher immer so: Wenn wir eine Matheklausur mit einer komplizierten Frage hatten, fiel mir die Lösung ein, wenn ich mit dem Fahrrad nach Hause gefahren bin.
 

Das ist eine spannende Perspektivverschiebung: Eine Innovation ist nicht etwas Neues, das irgendwie in die Welt kommt, sondern die Verbindung von zwei Dingen, die schon da sind. 

Zwei, oft auch mehr. Meist durch eine Form der Rekombination. In der einfachsten Variante ist eine Rekombination linear: eine Weiterentwicklung. Ich nehme eine Sache und mache etwas anderes damit. Es gibt natürlich auch viel komplexere Rekombinationen, wo fünf, sechs Sachen zusammengeworfen werden. 

Rekombination kann kompliziert sein, und sie muss auch nicht zwangsläufig additiv sein. Kreativität fügt nicht bloß A und B wie Legoklötze zusammen, um so etwas Neues entstehen zu lassen. Ganz viele kreative Einfälle kommen dadurch zustande, dass von einer Sache etwas abgeschnitten wird. Wir nennen das subtraktive Kreativität. Eine Skulptur zum Beispiel: Jemand nimmt einen Block Marmor und meißelt alles weg, bis die Skulptur da ist. Oft sagt uns ein Geistesblitz auch: Wenn wir das und das weglassen, dann entsteht das, was wir brauchen. Viele neue Produkte im Lebensmittelsektor sind dadurch gekennzeichnet, was nicht drin ist: glutenfrei, alkoholfrei, zuckerfrei … Die Kreativität besteht hier also darin, dass uns einfällt, was wir weglassen können. Das ist ganz wichtig, denn wenn wir Kreativität nur additiv verstehen, übersehen wir quasi die Hälfte. Auf der einen Seite also verbinden, auf der anderen Seite abschneiden und weglassen.
 

Warum hält sich diese, wie Sie schreiben, intuitive, aber ebenso naive Einschätzung, dass Innovation mit einem Aha-Erlebnis verbunden sein müsse, so hartnäckig? 

Vermutlich, weil jeder schon einmal so ein Aha-Erlebnis erlebt hat: Wir duschen, und unser Unterbewusstsein meldet sich mit einer Verbindung, die wir vorher noch nicht kannten. Darauf reduzieren wir dann gerne den kreativen Prozess.
 

Aber eigentlich ist seit Schumpeter klar, dass Innovation die Umsetzung neuer Kombinationen ist. 

Ja. Wir wissen seit Schumpeter, dass Innovation grundsätzlich eine Rekombination ist. Das Problem war und ist nach wie vor, diese Rekombination sichtbar zu machen. Es ist nicht einfach, nachzuvollziehen, was da genau rekombiniert worden ist. Und unser Unterbewusstsein sagt ja auch nicht: "Das und das habe ich zusammengefügt", sondern es liefert uns die fertige Idee. Noch komplizierter wird das Ganze in Unternehmen. Dort innoviert ja nicht eine einzelne Person, sondern eine Gruppe. Wenn aber eine Gruppe sich gegenseitig inspiriert, wird es unglaublich schwer, sichtbar zu machen, was genau rekombiniert wurde. Wenn Sie und ich zusammenarbeiten, ich etwas weiß und eine abgeänderte Version davon in unseren gemeinsamen Wissenspool gebe, und Sie das wiederum weiterverarbeiten, dann wissen wir beide nicht mehr genau, was ursprünglich die Quelle war.
 

Wenn wir noch mal kurz bei der Historie bleiben: Hat nicht auch Schumpeter zu diesem verengten Verständnis von Innovation beigetragen, indem er das Besondere so stark hervorgehoben und sich nur für solche Innovationen interessiert hat, die die wirtschaftliche Entwicklung voranbringen, aber nicht für den breiten Strom von Erfindungen? 

Schumpeter war Ökonom und hatte damit natürlich eine ökonomische Sicht auf die ganze Geschichte. Er hat getrennt zwischen Innovation, die einen ökonomischen Mehrwert schafft, und etwas, das wir heute Kreativität nennen würden. Innovation ist für ihn etwas, womit wir entweder eine höhere Produktivität erreichen oder mehr Geld umsetzen können. Heute haben wir damit allerdings ein Riesenproblem, weil wir den monetären Wert beispielsweise von digitalen Gütern oft nicht beziffern können. Beispiel: Wikipedia stiftet sicherlich eine Menge Mehrwert, aber es setzt nicht wirklich Geld um. Daher haben wir heute einen erweiterten Begriff von Innovation, weil wir nicht verneinen können, dass Wikipedia eine Innovation ist. Mit einem ökonomisch getriebenen schumpeterschen Innovationsbegriff können wir das nicht erklären. Denn mit dem Brockhaus wurde mehr Geld umgesetzt.
 

Also müsste man das Innovationsverständnis erweitern? 

Es ist ja über die letzten hundert Jahre ständig erweitert worden. Aber wir können sicher nicht alles, was heutzutage rekombiniert wird, ökonomisch erklären. Und wir würden viel Kreativität ausbremsen, wenn wir das stets zur Auflage machen würden.
 

Sie forschen zum Thema Innovation durch Rekombination. Worum geht es dabei genau? 

Wir haben uns mit 3-D-Druck beschäftigt. 3-D-Druck ist ein typisches Beispiel für digitale Prozesse, die den Menschen die Möglichkeit geben, sich selber kreativ und innovativ zu verwirklichen. Unsere Leitfrage war: Können wir einen Beitrag dazu leisten, zu erklären, wie Rekombination genau funktioniert? Dazu haben wir uns die Plattform Thingiverse angeschaut, die weltgrößte Plattform für 3-D-Modelle mit über einer Million 3-D-Modellen, alle unter offenen Lizenzen. Das heißt, jemand kann ein Modell verändern, muss aber angeben, welches Modell er verändert hat. Damit war es für uns möglich, Netzwerkdiagramme von den Ideen anzufertigen. Wir konnten zeigen, wie Ideen wandern, wie manche Ideen verebben, wie andere Ideen in ganz anderen Kontexten wieder aufgenommen werden.
 

Ist Rekombination dort die Regel? Und wie wird rekombiniert? 

Etwa die Hälfte aller Ideen in diesem Mikrokosmos von Enthusiasten für 3-D-Druck stehen in einer Remix-Beziehung, bei ihnen wurde also etwas rekombiniert. Bei der anderen Hälfte ist unklar, wo die Idee herkommt. 

Wenn wir an Kreativität denken, denken wir immer ein bisschen an Chaos. So wirkt auch dieses Gerüst von Millionen von Ideen, die da miteinander verwoben sind, unglaublich chaotisch. Wenn wir aber reinzoomen in den einzelnen Prozess, wo jemand einige dieser Ideen rekombiniert, dann sehen wir: Er verläuft viel geordneter, als man annehmen würde. Wir haben eigentlich nur acht Grundformen gefunden, mit denen man mehr oder weniger erklären kann, wie Menschen rekombinieren. 

Wenn wir jetzt wieder rauszoomen: 3-D-Druck ist ein Symptom einer generelleren und breiteren Digitalisierung der Kreativität. Wir haben immer mehr digitale Werkzeuge an der Hand, die es uns ermöglichen, kreativ Dinge zu tun, die vorher viel, viel schwieriger umzusetzen waren. Ganz egal, ob man auf YouTube Videos veröffentlicht, ob man einen Podcast produziert, einen Roman schreibt, 3-D-Designs entwickelt, überall findet man Online-Communitys, wo Ideen ausgetauscht werden. Sowohl der Inspirationsprozess als auch die Produktionstechnologien sind viel, viel zugänglicher als noch vor 15 Jahren. Durch die Digitalisierung des Prozesses haben die Menschen heute viel größere Möglichkeiten, teilzunehmen, sich kreativ zu betätigen und solche Rekombinationen zu benutzen, um zu lernen. Leute haben gesagt: Wenn ich auseinanderbaue, was andere Leute gemacht haben, und das dann nachbaue und verändere, dann verstehe ich, wie die andere Person auf die Idee gekommen ist, diese Lösung so zu entwickeln - und darüber lerne ich, es selber machen zu können.
 

Ist Lernen das Hauptmotiv? 

Rekombination folgt nicht nur Mustern, sondern auch bestimmten Zwecken. Nicht jeder rekombiniert aus dem gleichen Grund. Manch einer rekombiniert, weil er so Zeit sparen kann. Andere haben erklärt, dass Rekombinieren für sie die einzige Möglichkeit ist, ein Ergebnis einer bestimmten Qualität zu erzielen, weil sie selbst nicht die technischen Fähigkeiten haben. Rekombination ist ein mächtiges Werkzeug, das ganz unterschiedlich eingesetzt werden kann.
 

Möglich wird das, weil die Plattform explizit so angelegt ist, dass sie Remixen ermöglicht? Remixen ist also technisch eingebaut? 

Es ist einmal technisch eingebaut, indem alle Dateien in kompatiblen Formaten zur Verfügung stehen. Es ist zudem aber auch legal eingebaut: Es sind explizit nur Lizenzen zugelassen, die remixen erlauben. Und das Dritte - wir haben einen Dreiklang: technisch, legal und dann auch sozial - ist, dass es auch erwünscht ist. Es heißt nicht: "Schweinerei, der hat nachgebaut, was ich entworfen habe!" Sondern es gilt: "Ich baue hier gerade nach, was du gemacht hast. Kannst du mir dabei helfen? Hast du einen Vorschlag? Schau es dir mal an." Das wird von der Community gerne gesehen. Diese drei Elemente müssen also zusammenkommen, damit eine Dynamik entsteht.
 

Ist das der Anfang einer Entwicklung? Wird das in Zukunft verstärkt passieren, dieses explizite Teilen von Ideen mit dem Ziel, eine Rekombination, einen Remix zu ermöglichen? 

Man kann noch einen Schritt vorher ansetzen: Nämlich dass der Mensch gerne etwas schafft, etwas erzeugt, etwas aus Gedanken materialisiert. Wir alle sind glücklich, wenn wir etwas zu Papier gebracht, etwas zusammengebaut, etwas entworfen haben. Es gibt in den Sozialwissenschaften den "IKEA-Effekt". Der besagt, dass Menschen Gegenstände, die sie selber zusammengebaut haben - gar nicht mal erdacht, sondern einfach nur zusammengebaut -, mehr wert sind als Gegenstände, die sie nicht selber zusammengebaut haben. Noch viel stärker ist dieser Effekt natürlich, wenn wir diese Dinge auch noch geschaffen haben, wenn wir an dem kreativen Prozess beteiligt waren. 

Menschen wollen grundsätzlich kreativ sein. Manch einer kocht gerne, ein anderer baut 3-D-Modelle. Traditionell teilen nicht zwangsläufig unsere Kollegen oder der Rest der Familie unsere Interessen. Damit sind in der Geschichte der Menschheit viele Ideen erstickt, weil es keine Möglichkeit gab, sich mit anderen auszutauschen. Jetzt aber haben die Menschen online die Möglichkeit, Gleichgesinnte zu finden. Und viele fangen damit erst mal als Hobby an: Weil es sie interessiert, weil sie etwas teilen möchten. Wenn sie wirklich gut sind und sich weiterentwickeln, dann bieten sie vielleicht auf einer anderen Plattform etwas kommerziell an und verdienen dann vielleicht sogar einen Teil ihres Lebensunterhalts damit. Hobby-Communitys funktionieren aber vor allem über das Füreinander- und das Miteinander-Teilen, das eben diese Rekombination möglich macht. Im professionellen Bereich, wo Leute Geld verdienen müssen, sind die Regeln natürlich ganz anders.
 

Wie funktioniert es dort? 

Computerspieleentwickler zum Beispiel haben das Problem, dass sich eine Spielidee nicht wirklich schützen lässt. Es gibt kein Copyright, kein geschütztes Design, kein Patent auf eine Spielidee. Da sie Spiele entwickeln, um Geld zu verdienen, haben sie natürlich ein Problem, wenn andere eine Spielidee kopieren und ihnen damit Teile vom Kuchen wegnehmen. Man versucht es dort über eine Art "Ehrenkodex" zu lösen, doch die Branche ist voll von schwarzen Schafen, da gibt es ganz spannende Studien zu (siehe Link). In einer Community von Enthusiasten ist es hingegen in Ordnung, wenn das rekombinierte Produkt viel erfolgreicher wird als das ursprüngliche. Dort gilt: "Diese Person hat ja angegeben, dass das von mir ist; das war vorher so ausgemacht." Die Mechanismen sind andere. Ein anderes Beispiel, ganz analog: Sterneköche sind sehr offen, was das Weitergeben eigener Rezepte angeht. Wenn ein anderer aber ein weitergegebenes Rezept bei sich auf die Speisekarte setzt, wird diese Person quasi aus der Clique ausgestoßen - mit dem redet man nicht mehr. Man muss also die unterschiedlichen Welten unterscheiden. Beziehungsweise überlegen: Was ist das Geschäftsmodell? Ich denke, dass solche Communitys, die Leute zusammenbringen, die gemeinsame Ideen haben, in Zukunft noch wichtiger werden.
 

Wer remixt eigentlich? Gibt es dazu Erkenntnisse? Wie Sie schreiben, gibt es ja auch Leute, die das nicht tun. 

Ja, genau. Manche haben auch gesagt: Wir machen alles komplett alleine. Wenn wir wieder zurück zu den drei Kategorien - legal, sozial und technisch - gehen: In manchen Communitys ist remixen schon legal nicht möglich, Journalismus zum Beispiel. Ich kann mir nicht einfach fünf Zeitungen kaufen und die zu einer Superzeitung zusammenkleben. Das geht vom Urheberrecht her nicht. Darum dreht sich beispielsweise die ganze Debatte zum Leistungsschutzrecht. Die Köche hingegen haben keine rechtliche Handhabe, ein Rezept kann ich nachkochen, ohne dabei mit dem Urheberrecht in Konflikt zu kommen. Köche lösen das Problem, dass Rezepte nicht einfach von anderen übernommen werden sollen, daher über soziale Mechanismen. Andere Communitys lösen das vielleicht technisch wie beispielsweise bei proprietärer Software. Immer aber geht es darum, dass eine Community einen Konsens finden muss, was sie als fair empfindet, und die Teilnehmer sich diesem Fairnessprinzip verpflichten.
 

Sie verwenden wiederum drei Begriffe für die Kombination von Ideen: Reuse, Rekombination und Remix. Wie unterscheiden sich die drei Begriffe/Ideen/Konzepte? 

Remix ist ein Community-Begriff, kein wissenschaftliches Konzept. So nennen das die Designer, die im 3-D-Druck aktiv sind. Ursprünglich kommt der Begriff aus der Musik, woher vermutlich die meisten den Begriff kennen. Knowledge Reuse ist das wissenschaftliche Konzept dazu; es beschäftigt sich damit, wie Wissen von einer Person an andere weitergegeben wird. Wir beziehen uns auf dieses ältere Konzept, um an die bisherige Debatte in der Wissenschaft anzuschließen. Rekombination schließlich ist der Begriff, den Schumpeter ursprünglich verwendet hat. Rekombination ist wahrscheinlich auch das Wort, das für die meisten Menschen naheliegt. Es ist das einfachste von den dreien. Kein Mensch würde von Knowledge Reuse sprechen, wenn er zwei Kochrezepte miteinander verbindet, sondern man sagt: "Ich habe die beiden Sachen kombiniert." Die drei Begriffe sind ziemlich deckungsgleich. Es kommt also eher darauf an, mit wem man redet, als worüber.
 

Noch drei Begriffe: Sie sprechen von konvergenten Mixes, von divergenten Mixes und von Deep Remixes. Was verbirgt sich hinter diesen Begriffen? 

Wir haben nicht nur geschaut, wie Leute rekombiniert haben, sondern auch, wie weit sie die Idee vom Ausgangspunkt weggetragen haben. Die meisten Remixe, die wir gesehen haben, funktionieren relativ simpel. Etwa: Jemand lädt das Design für eine Gabel hoch; einer anderen Person gefällt das, sie hätte aber gerne eine kleinere Gabel beispielsweise für Kuchen. Sie schneidet also eine Zinke ab und macht die Gabel ein bisschen kürzer. Das ist von der kreativen Leistung her relativ überschaubar, denn es ist nach wie vor eine Gabel. 

Andere agieren auf einem anderen Abstraktionslevel. Zum Beispiel hat jemand kleine Schilder entworfen, die man in Blumentöpfe stecken kann, um zu kennzeichnen, was dort gepflanzt wurde. Jemand anderes fand die Idee gut, brauchte aber keine Schilder für Blumentöpfe, sondern fürs Büro, um anderen Mitteilungen zu hinterlassen. Er hat daraus eine Art beschriftete Büroklammer gemacht, die man an ein Dokument klammern kann. "Hier bitte unterschreiben", "Bitte lesen", "Zur Kenntnisnahme" und so weiter. Hier wurde die Idee der Beschriftung auf einen komplett anderen Kontext übertragen. In unserem alltagspraktischen Verständnis würden wir sagen: Das Zweite ist kreativ, die Gabel eher nicht. Doch in der Kreativitätsforschung ist es unmöglich, solch eine Schwelle zu definieren, oberhalb derer etwas als kreativ gilt. Deswegen gilt Rekombination respektive Remix generell als kreativ. Es ist sowohl möglich, solche einfachen Dinge zu verbinden, als auch wirklich neue Konzepte zu schaffen. Letzteres ist ein Deep Remix. 

Konvergent und divergent bezeichnen die Art und Weise, wie diese Rekombinationen funktionieren. Die simpelste ist ein "Merge": Ich habe zwei Konzepte und mache daraus ein neues. Ich habe ein Rezept für Lasagne und eines für Nachos, werfe die zusammen und mache Lasagne-Nachos. Andere Rekombinationen starten mit einer Idee und gehen dann in verschiedene Richtungen. In der Software-Entwicklung spricht man von einem "Fork", wenn aus einer Version zwei neue entstehen, weil die Software sich in verschiedenen Kontexten einsetzen lässt. In unserem traditionellen Verständnis von Kreativität denken wir gerne an das Erste: Wir nehmen zwei Dinge und machen daraus ein neues. Aber die Hälfte der Rekombinationen, die wir gesehen haben, nahmen eine Sache und machten daraus zwei neue. Kreativ heißt also auch, Ideen an verschiedene Orte zu tragen, anstatt mehrere Ideen miteinander zu verbinden.
 

Was ist jetzt der Nutzen dieses Wissens? Ein erweitertes Verständnis von Innovation und Kreativität? 

Wir haben ein relativ beschränktes Verständnis davon, wie Kreativität im Detail funktioniert. Deswegen ranken sich nach wie vor so viele Mythen um das Thema. Die Kreativitätsforschung schaut sich bis heute gerne Einzelpersonen oder kleine Gruppen an. Wie funktioniert der Arbeitsablauf eines Künstlers oder eines Erfinders? Oder wie funktioniert das Improvisieren in einer Jazz-Band? Aber online entsteht auf einmal die Möglichkeit, dass Tausende Designer et cetera auf einer Plattform zusammenarbeiten. Auf Thingiverse, unserer untersuchten 3-D-Druck-Plattform sind es mehr als eine Million. Und weil wir ein beschränktes Verständnis davon haben, wie das läuft, haben wir natürlich Probleme, Plattformen zu entwickeln, die möglichst gut funktionieren. 

Kommen wir wieder zu unserem Beispiel Wikipedia: Bevor Wikipedia an den Start gegangen ist, gab es ein halbes Dutzend Online-Lexika, die genau das Gleiche versucht haben. Alle sind gescheitert. Und zwar deshalb, weil sie diese Kollaboration - wie muss Zusammenarbeit laufen, damit gemeinsam etwas entsteht - nicht gut genug hinbekommen haben. Wir brauchen dieses Wissen also, um solche Communitys aufzusetzen. Da hoffen wir, mit unserer Forschung wenigstens eine Kleinigkeit beisteuern zu können. Aber wir sind noch relativ am Anfang.
 

Gibt es da schon Erkenntnisse? 

Eine Riesensache ist, das sehen wir auch bei Wikipedia, dass die Einstiegshürde sehr, sehr gering sein muss. Also: Leute, die sehen, dass ein Komma fehlt, müssen auch in der Lage sein, ein Komma einzufügen und so weiter. Beim 3-D-Design gibt es sogenannte Customizer, die es ermöglichen, mit ein paar Reglern das Design anzupassen. Beispiel unsere Gabel: Mit einem Regler stellt man ein, wie viele Zacken die Gabel haben soll, mit einem anderen, wie lang der Stiel sein soll, und schon ist der Remix fertig. Damit können selbst Leute, die keine Ahnung von 3-D-Design haben, das Erfolgserlebnis erfahren, selber etwas zu erzeugen oder beizutragen. 

Das wäre für mich eine Kernerkenntnis: Die Einstiegshürde so gering setzen, dass auch Leute, die sich noch nie damit beschäftigt haben, mitmachen können. Wenn sie interessiert sind, kommen sie wieder. Doch wenn sie den ersten Versuch, sich einzubringen, frustriert abbrechen, sind sie vermutlich für immer weg.
 

Ist dieser erweiterte Innovationsbegriff, also Innovation als Rekombination, ist das der Innovationsbegriff, den es braucht für die "kreative Revolution"? 

Ich glaube, dass wir mehr und mehr dieser Online-Communitys haben werden, wo Menschen etwas machen, etwas teilen, etwas zusammenbauen, etwas rekombinieren. Das ist die eine positive Zukunftsvision. Es gibt aber auch eine andere Zukunftsvision, die düsterer ist: Diese Plattformen lassen einen unbezahlten oder schlecht bezahlten Arbeitsmarkt entstehen, der den Leuten, die damit ihr Geld verdienen, ihre Einkunftsmöglichkeiten wegnimmt. Ich kann das also sowohl als Revolution zeichnen, die bewirkt, dass die Leute sich selbst verwirklichen können. Ich kann aber auch Angst in den Vordergrund rücken, dass wir in prekäre Einkommensverhältnisse hineinstolpern, weil online alles umsonst zur Verfügung steht. Ich wage nicht, eine Prognose darüber abzugeben, was passieren wird, und ich glaube auch nicht, dass alles schwarz oder weiß sein wird, sondern dass wir viele Schattierungen sehen werden.
 

Und persönlich …? 

Auf dieser Plattform habe ich ein unglaubliches kreatives Potenzial erlebt, wo viele Leute sehr viel Spaß haben, Sachen umzusetzen, die sie anders gar nicht umsetzen könnten. Deswegen sehe ich das persönlich etwas rosiger als andere. Es macht auch mehr Spaß, etwas zu untersuchen, wenn man die Hoffnung hat, dass es für etwas gut sein wird. Aber das kann auch schnell umschlagen - wie beim Thema Social Media, die ja mit Fanfaren begrüßt wurden als die Zukunft von Information, Journalismus und Demokratie - und jetzt erscheinen sie uns als die größte Bedrohung für die Demokratie, die uns je eingefallen ist. 

Ich glaube, diese digitalen Themen sind deswegen so spannend, weil wir den Ausgang eben nicht kennen. Und weil wir alle die Möglichkeit haben, selbst einen Beitrag zu leisten, und damit vielleicht eine Kurskorrektur vornehmen können.
 

Das Interview haben wir telefonisch geführt.
 


Zitate


"Kreativität heißt bloß, Dinge miteinander zu verbinden." Steve Jobs

"Menschen wollen grundsätzlich kreativ sein. Jetzt haben sie online die Möglichkeit, Gleichgesinnte zu finden." Sascha Friesike: Innovation in the Mix

"Neues entwickelt sich meist viel mühsamer, schrittweiser, längerfristiger und ist von anderem inspiriert, als wir das wahrhaben wollen." Sascha Friesike: Innovation in the Mix

"Kreativität wird ja gerne als etwas Übernatürliches gesehen, das wir nicht erklären können." Sascha Friesike: Innovation in the Mix

"Kreativität ist viel weniger göttlich, als wir denken." Sascha Friesike: Innovation in the Mix

"Rekombination kann kompliziert sein, und sie muss auch nicht zwangsläufig additiv sein. Kreativität fügt nicht bloß A und B wie Legoklötze zusammen, um so etwas Neues entstehen zu lassen. Ganz viele kreative Einfälle kommen dadurch zustande, dass von einer Sache etwas abgeschnitten wird. Wir nennen das subtraktive Kreativität." Sascha Friesike: Innovation in the Mix

"Wir wissen seit Schumpeter, dass Innovation grundsätzlich eine Rekombination ist." Sascha Friesike: Innovation in the Mix

"Wenn eine Gruppe sich gegenseitig inspiriert, wird es unglaublich schwer, sichtbar zu machen, was genau rekombiniert wurde." Sascha Friesike: Innovation in the Mix

"In der Kreativitätsforschung ist es unmöglich, eine Schwelle zu definieren, oberhalb derer etwas als kreativ gilt. Deswegen gilt Rekombination respektive Remix generell als kreativ." Sascha Friesike: Innovation in the Mix

"Rekombination ist ein mächtiges Werkzeug." Sascha Friesike: Innovation in the Mix

"In der Kreativitätsforschung ist es unmöglich, eine Schwelle zu definieren, oberhalb derer etwas als kreativ gilt. Deswegen gilt Rekombination respektive Remix generell als kreativ." Sascha Friesike: Innovation in the Mix

"Kreativ heißt auch, Ideen an verschiedene Orte zu tragen, anstatt mehrere Ideen miteinander zu verbinden." Sascha Friesike: Innovation in the Mix

"Wir haben ein relativ beschränktes Verständnis davon, wie Kreativität im Detail funktioniert. Deswegen ranken sich nach wie vor so viele Mythen um das Thema." Sascha Friesike: Innovation in the Mix

"Ich glaube, dass wir mehr und mehr dieser Online-Communitys haben werden, wo Menschen etwas machen, etwas teilen, etwas zusammenbauen, etwas rekombinieren." Sascha Friesike: Innovation in the Mix

 

changeX 23.02.2018. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Zum Buch

: Kreativcode. Die sieben Schlüssel für persönliche und berufliche Kreativität. Hanser Verlag, München 2015, 200 Seiten, 14.99 Euro, ISBN 978-3-446-44557-4

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