Form und Formen
Die Konstruktion von Formen kann als Basis aller menschlichen Erkenntnis und allen Beobachtens betrachtet werden. Sagt Fitz B. Simon. Sein Buch Formen will der Sprachverwirrung im Bereich systemischer Ansätze etwas entgegenzusetzen. Es ist eine Art von Navigationssystem, bietet Orientierung im Theoriedickicht. Leitlinie: Eine saubere Theorie hilft, innovative Praktiken zu schaffen.
Formen ist ein Werk von großer formaler Strenge. Im Interview spricht Fritz B. Simon über sein Buch. Ein Auszug aus dem längeren Interview, das wir nach Erscheinen des Buchs geführt haben.
Fritz B. Simon, Doktor der Medizin und Universitätsprofessor, ist Psychiater und Psychoanalytiker, systemischer Familientherapeut und Organisationsberater. Studium der Medizin und Soziologie. Forschungsschwerpunkt: Organisations- und Desorganisationsprozesse in psychischen und sozialen Systemen. Er ist Autor respektive Herausgeber von circa 300 wissenschaftlichen Fachartikeln und 30 Büchern, die in 15 Sprachen übersetzt sind.
Herr Simon, Ihr Werk heißt Formen. Woher rührt die zentrale titelgebende Bedeutung des Begriffs? Was verstehen Sie unter Formen?
"Form" ist ja ein Begriff, mit dem in der Umgangssprache die Eigenschaft eines Gegenstandes gemeint ist. Ein Auto hat eine bestimmte Form, Verbrauchsgüter werden von Formgestaltern designt et cetera. Dabei wird immer stillschweigend vom Kontext dieser Gegenstände abstrahiert, aber, wie es in meinem Lieblingskalauer heißt, auch die Alpen sind nichts Besonderes, wenn man sich die Berge wegdenkt. In der neueren Systemtheorie wird daher unter einer Form immer eine Einheit aus System und Umwelt verstanden. Wenn Sie einen Schneemann in eine warme Umgebung stellen, dann löst sich seine Form auf; in Kriminalromanen werden Leichen manchmal dadurch beseitigt, dass sie in Säure gebadet werden, weil sie dadurch ihre Form verlieren; und wenn sich die Umweltbedingungen eines Unternehmens verändern, dann besteht das Risiko, dass es ebenfalls irgendwann liquidiert wird.
Welche Bedeutung hat der Aspekt der Form für Formen?
Die Konstruktion von Formen kann auch als Basis aller menschlichen Erkenntnis und allen Beobachtens betrachtet werden. Denn wo immer wir wahrnehmen, denken oder fühlen, vollziehen wir Innen-außen-Unterscheidungen, und darin besteht auf einer abstrakten Ebene jede Formbildung. Wir kreieren Einheiten und ihr Umfeld. Es wird ein Bereich innen, dem bestimmte definierende Merkmale zugeschrieben werden, von einem Bereich außen getrennt, dem diese Merkmale fehlen. Fertig ist die Form, ganz einfach. Mithilfe dieses Konstruktionsprinzips können die komplexesten Weltbilder und Theorien gebaut werden, sei es für den Alltagsgebrauch, sei es in der Wissenschaft. Daher kann die Betrachtung von Formen eine ideale Basis für die Bearbeitung inter- oder transdisziplinärer Fragestellungen liefern.
Haben Sie ein Beispiel?
Nehmen wir die drei Bereiche, die mich - und ich vermute jeden anderen - am meisten interessieren: den menschlichen Organismus, seine Psyche und die sozialen Systeme, in denen wir leben. Es sind Bereiche unserer Wirklichkeit, deren Erforschung von unterschiedlichen Disziplinen vorangetrieben wird, die auf ganz unterschiedlichen Prämissen beruhen. So kommt es, dass sie nicht nur nebeneinander her forschen, sondern auch manchmal höchst widersprüchliche Sichten der Welt vertreten und aus ihnen gegensätzliche Handlungsanweisungen ableiten: Ist Intelligenz angeboren oder erworben und durch das Milieu bestimmt? Sollten psychische Auffälligkeiten durch Psychopharmaka oder durch Psychotherapie behandelt werden? Muss ein Mitarbeiter, der mit seinem Job nicht zurechtkommt, zum Coaching geschickt werden oder muss etwas an der Struktur des Unternehmens verändert werden? Und so weiter. Der Streit der Schulen rührt dabei daher, dass es keine Basis gibt, die Wechselbeziehungen der drei Typen von Systemen so zu konzeptualisieren, dass sinnvoll Hypothesen über ihre gegenseitige Beeinflussung aufgestellt werden können.
Das Ziel ist, Organismus, Psyche und soziale Systeme miteinander zu verbinden?
Es geht nicht um das viel gepriesene "ganzheitliche Denken". Die Ganzheit der menschlichen Existenz, des menschlichen Lebens und Arbeitens, ist nicht zu erfassen. Aber möglich ist, die internen Dynamiken und Funktionslogiken dieser drei klar gegeneinander abgrenzbaren Typen von Systemen sowie ihrer Wechselbeziehungen zu erfassen. Integration heißt hier also nicht Verschränkung, sondern klare Unterscheidung und In-Beziehung-Setzung.
Will das Buch eine Art Navigationssystem sein? Wenn jemand etwas über ein Phänomen aus den drei Gegenstandsbereichen wissen will - sei es zum Thema Selbstorganisation, Markt oder psychische Störungen -, braucht er nur Formen zur Hand zu nehmen und findet auf zwei, drei, vier Seiten die wichtigsten Strukturmerkmale zusammenhängend dargestellt. Ist es das: ein Angebot der Vergewisserung?
Ja, freut mich, wenn Sie diesen Eindruck haben. Eines meiner Ziele war und ist, der Sprachverwirrung, die im Bereich systemischer Ansätze herrscht, etwas entgegenzusetzen. Eine saubere Theorie hilft, innovative Praktiken zu schaffen. Und da ich mich als Praktiker sehe, der zwanghaft genug ist, um sich nicht mit dem weitverbreiteten schlampigen Denken der geschätzten Kollegen abzufinden, habe ich mich darangemacht, die mir relevanten Theoriefragen durchzudeklinieren und kondensiert darzustellen.
Kann man sagen, dass Sie in Formen die Erkenntnislage kondensieren?
Ja, das habe ich zumindest versucht. Kondensat ist ein guter Begriff, weil ich dabei zwangsläufig eine ziemliche Verdichtung vorgenommen und mich bemüht habe, einen roten Faden, der das Werk dieser Autoren zusammenfügt, zu spinnen - obwohl das, zugegebenermaßen, eine gefährliche Formulierung ist.
Das Interview ist ein Auszug aus einem längeren Interview, das wir nach Erscheinen des Buchs geführt haben (siehe Link).
Zitate
"Es geht nicht um das viel gepriesene "ganzheitliche Denken". Die Ganzheit der menschlichen Existenz, des menschlichen Lebens und Arbeitens, ist nicht zu erfassen." Fritz B. Simon: Form und Formen
"Eine saubere Theorie hilft, innovative Praktiken zu schaffen." Fritz B. Simon: Form und Formen
changeX 11.12.2018. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
Artikeltags
Carl-Auer Verlag
Weitere Artikel dieses Partners
E. Noni Höfner und Charlotte Cordes über den Provokativen Ansatz zum Interview
Fritz B. Simons Anleitung zum Populismus zur Rezension
Führen mit neuer Autorität - ein Interview mit Wilhelm Geisbauer zum Interview
Ausgewählte Links zum Thema
-
Zum Buch auf der Verlagsseitezum Buch
-
Beobachter unter sich - das ausführliche changeX-Interview mit Fritz B. SimonBeobachter unter sich
Zum Buch
Fritz B. Simon: Formen. Zur Kopplung von Organismus, Psyche und sozialen Systemen. Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2018, 317 Seiten, 54 Euro, ISBN 978-3-8497-0225-0
Buch bestellen bei
Osiander
genialokal
Amazon
Autor
Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.