Schöne neue Arbeitswelt

Living at Work-Serie | Folge 15 | - Ulrich Beck über die politische Ökonomie der Unsicherheit.

In Brasilien sind die meisten Menschen ambulante Verkäufer, Kleinhändler und -handwerker, verdingen sich als Dienstboten aller Art oder sind "Arbeits-Nomaden", die zwischen verschiedenen Tätigkeitsfeldern, Beschäftigungsformen und Ausbildungen hin- und herpendeln. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass wir in Zukunft ähnlich arbeiten werden. Denn unsere Arbeitskultur gleicht sich immer schneller der der "Entwicklungsländer" an, so der bekannte Soziologe Ulrich Beck.

Die Utopie des freien Marktes hat eine ungewollte Folge: die Brasilianisierung des Westens. Nicht die hohe Arbeitslosigkeit in den Staaten Europas oder das so genannte Job-Wunder in den USA ist die bemerkenswerteste Entwicklung der Arbeitswelt, auch nicht der Übergang von der Arbeits- zur Wissensgesellschaft, also das inhaltliche Gesicht zukünftiger Informationsarbeit. Das Herausragende ist die neue Ähnlichkeit von Entwicklungsprofilen der Erwerbsarbeit in der so genannten Ersten und der so genannten Dritten Welt. Es ist der Einbruch des Prekären, Diskontinuierlichen, Flockigen, Informellen in die westlichen Bastionen der Vollbeschäftigungsgesellschaft. Damit breitet sich im Zentrum des Westens der sozialstrukturelle Flickenteppich aus, will sagen: die Vielfalt, Unübersichtlichkeit und Unsicherheit von Arbeits-, Biografie- und Lebensformen des Südens.

Die politische Ökonomie der Unsicherheit.


In einem semiindustrialisierten Land wie Brasilien repräsentieren die lohn- und gehaltsabhängig Beschäftigten in einem formalisierten Vollzeitarbeitsverhältnis nur eine Minderheit an wirtschaftlich Aktiven. Ungleich mehr Menschen arbeiten unter prekären Erwerbsbedingungen. Sie sind ambulante Verkäufer, Kleinhändler und -handwerker, verdingen sich als Dienstboten aller Art oder sind "Arbeits-Nomaden", die zwischen verschiedenen Tätigkeitsfeldern, Beschäftigungsformen und Ausbildungen hin- und herpendeln. Wie die anbrechende Entwicklung in den so genannten "hoch entwickelten" Vollbeschäftigungsgesellschaften zeigt, bildet diese nomadische "Multi-Aktivität" - bislang im Westen vornehmlich ein Kennzeichen der Frauenarbeit - nicht eine "vormoderne Restgröße", sondern eine sich rapide ausbreitende Entwicklungsvariante später Arbeitsgesellschaften des Westens, denen die attraktive, hoch qualifizierte und gut bezahlte Vollerwerbstätigkeit ausgeht.
Die Entwicklung in Deutschland steht für die Entwicklung in anderen westlichen Gesellschaften: In den 60er Jahren gehörte erst ein Zehntel der Arbeitnehmer dieser Gruppe der prekär Beschäftigten an. In den 70er Jahren war es bereits ein Fünftel, in den 80er Jahren ein Viertel, und in den 90er Jahren war es ein Drittel. Wenn diese Entwicklungsgeschwindigkeit anhält, und dafür spricht vieles, dann wird in zehn Jahren nur noch jeder zweite abhängig Beschäftigte einen dauerhaften Vollzeitarbeitsplatz einnehmen, während sozusagen die andere Hälfte "brasilianisch" arbeitet.

Die Ökonomie der Unsicherheit.


In der politischen Ökonomie der Unsicherheit drückt sich das neue Machtspiel und Machtgefälle aus zwischen territorial fixierten politischen Akteuren (Regierungen, Parlamente, Gewerkschaften) und nicht territorial gebundenen wirtschaftlichen Akteuren (Kapital-, Finanz- und Handelsmächte). Der Handlungsspielraum der Staaten ist auf das Dilemma geschrumpft, entweder zunehmende Armut mit hoher Arbeitslosigkeit zu bezahlen (wie in den meisten europäischen Ländern) oder aber eklatante Armut für etwas weniger Arbeitslosigkeit hinzunehmen (wie in den USA). Dies hängt damit zusammen, dass die Erwerbsgesellschaft sich ihrem Ende zuneigt, je mehr die Menschen durch den Einsatz intelligenter Technologien ersetzt werden. Die steigende Arbeitslosigkeit lässt sich also nicht länger auf zyklische Wirtschaftskrisen zurückführen, sondern auf die Erfolge eines technologisch avancierten Kapitalismus. Das alte, wirtschaftspolitische Instrumentarium versagt, und alle Erwerbsarbeit gerät unter den Noch-Vorbehalt drohender Ersetzbarkeit.
Die politische Ökonomie der Unsicherheit beschreibt damit einen Dominoeffekt. Was sich in guten Zeiten wechselseitig ergänzt und gestärkt hat - Vollbeschäftigung, sichere Renten, hohes Steueraufkommen, Spielräume staatlicher Politik -, gefährdet sich nun wechselseitig: Erwerbsarbeit wird prekär; die Grundlagen des Sozialstaates zerfallen; die Normalbiografie wird brüchig; Altersarmut wird vorprogrammiert; aus den leer gefegten Kassen der Kommunen kann der anschwellende Sturm auf die Sozialhilfe nicht finanziert werden.
Entsprechend geraten die orthodoxen Verteidigungsstrategien in die Defensive. Überall wird "Flexibilität" eingeklagt - oder mit anderen Worten: Ein "Arbeitgeber" soll seine "Arbeitnehmer" leichter "feuern" können. "Flexibilität" heißt auch: Umverteilung von Risiken vom Staat und von der Wirtschaft auf die Individuen. Die verfügbaren Jobs werden kurzfristig, leichter kündbar, das heißt "erneuerbar". "Flexibilität" meint schließlich: "Freue dich, dein Wissen und Können ist veraltet, und niemand kann dir sagen, was du lernen musst, damit du in Zukunft gebraucht wirst."

Flexibel in die Risikogesellschaft.


Die Folge ist: Je mehr Arbeitsbeziehungen "dereguliert" und "flexibilisiert" werden, desto schneller verwandelt sich die Arbeits- in eine Risikogesellschaft, die weder für die Lebensführung des Einzelnen noch für Staat und Politik kalkulierbar ist; und desto wichtiger wird es zugleich, die politische Ökonomie des Risikos in ihren widersprüchlichen Folgen für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zu enträtseln. Eines jedenfalls ist klar: Unsicherheit ist das Merkmal, das die Lebenswelt und Lebensgrundlage der Mehrheit der Menschen - auch in der scheinbar wohlhabenden Mitte! - in Zukunft kennzeichnet.
Unter dem Einfluss der politischen Ökonomie der Unsicherheit ändert sich das Erscheinungsbild der Gesellschaft also dramatisch. In schmalen Zonen spitzen sich extreme Eindeutigkeiten zu: im obersten Oben und im untersten Unten, das eigentlich kein Unten mehr ist, sondern ein Außen. Dazwischen entfalten, mischen und verschachteln sich Uneindeutigkeiten. Mehr und mehr Menschen leben zwischen den Kategorien von Arm und Reich. Oben und Unten polarisieren nicht mehr eindeutig, sondern überlappen und verschmelzen neuartig zu einer Art Aspekt-Reichtum beziehungsweise Aspekt-Armut oder zu einem Reichtum auf Zeit sowie entsprechend kombinierten Existenzformen. Was im Resultat bedeutet: In fast allen Lagen der Gesellschaft regiert die Unsicherheit. Entsprechend der Bedeutung von Wissen und Kapital kommt es zu Spaltungen in den Gesellschaften, möglicherweise auch sogar zu einem kollektiven Abstieg ganzer Ländergruppen. Dies mag anfangs durch die Rhetorik des "selbsttätigen unternehmerischen Individualismus" symbolisch überspielt, diskursiv versüßt werden. Auf die Dauer kann aber nicht darüber hinweggetäuscht werden, dass die Grundlagen hoch gepriesener Sozialstaatlichkeit, damit wacher, alltäglicher Demokratie, im Ganzen also das Selbstbild der auf dem "institutionalisierten Klassenkompromiss" gegründeten Arbeitsbürgergesellschaft zerfallen.

Wohin steuert der Staat?


Mit dem unwiderruflichen Verlust der Vollbeschäftigung im klassischen Sinne stehen das Selbstverständnis und das politische Nachkriegsprojekt Europas zur Disposition. Wenn der globale Kapitalismus in den Ländern des Westens den Wertekern der Arbeitsgesellschaft auflöst, zerbricht ein historisches Bündnis zwischen Kapitalismus, Sozialstaat und Demokratie. Niemand täusche sich: Der Eigentümer-Kapitalismus, der auf nichts als Gewinn zielt und die Beschäftigten, den (Sozial-)Staat und die Demokratie ausgrenzt, gibt seine eigene Legitimität auf. Die neoliberale Utopie ist eine Form demokratischen Analphabetentums. Der Markt trägt seine Rechtfertigung gerade nicht in sich. Diese Wirtschaftsweise ist nur im Wechselspiel mit materieller Sicherheit, sozialen Rechten und Demokratie - also dem demokratischen Staat - lebensfähig. Wer nur auf den freien Markt setzt, zerstört mit der Demokratie auch diese Wirtschaftsweise. Die Turbulenzen auf den internationalen Finanzmärkten Asiens, Russlands und Südamerikas im Herbst 1998 geben davon nur einen Vorgeschmack.
Niemand stellt den Kapitalismus heute noch in Frage. Wer sollte das auch wagen? Der einzige potente Gegner des Kapitalismus ist - der Nur-noch-Gewinn-Kapitalismus selbst. Hiobsbotschaften am Arbeitsmarkt gelten als Siegesmeldungen an der Wallstreet. Das dahinter stehende Kalkül ist einfach: Wenn die Arbeitskosten sinken, steigt der Gewinn.
Doch nicht, dass der technologisch avancierte Kapitalismus nationalstaatliche Schranken niederreißt und mit immer weniger Arbeit immer mehr produziert, sondern dass er politische Initiativen zu einem neuen europäischen Gesellschaftsmodell und Gesellschaftsvertrag blockiert, raubt ihm seine Legitimation. Wer heute über Arbeitslosigkeit nachdenkt, darf sich nicht als Gefangener der alten Begriffe im Streit über den "zweiten Arbeitsmarkt", die "Senkung der Lohnkosten" oder die "Staatsquote" verlieren, sondern muss fragen: Wie wird Demokratie jenseits der Vollbeschäftigungsgesellschaft möglich? Was als Ende und Verfall erscheint, muss umgemünzt werden in eine Gründerzeit für neue Ideen und Modelle, die Staat, Wirtschaft und Gesellschaft für das 21. Jahrhundert öffnet.

Hin zu einer Bürgergesellschaft.


Die Antithese zur Arbeitsgesellschaft ist für mich die Stärkung der politischen Gesellschaft der Individuen, der aktiven Bürgergesellschaft vor Ort, einer zugleich lokalen und transnationalen Bürgerdemokratie in Europa. Diese Gesellschaft der aktiven Bürger, die nicht mehr im Container des Nationalstaats verbleibt und deren Aktivitäten vor Ort und zugleich über Grenzen hinweg organisiert sind, kann im Kleinen lokale Antworten auf die Herausforderungen der Zweiten Moderne finden und entwickeln - als da sind Individualisierung, Globalisierung, schrumpfende Erwerbsarbeit und ökologische Krisen. Denn auf diese Weise werden - oft konfliktvoll - in kommunalen Projekten (ökologische Initiativen, Agenda 21, Arbeit mit Obdachlosen, Theater-, Diskussions- und Kulturzentren) kommunale Demokratie und Identität belebt.
Zivilgesellschaft und Direktdemokratie setzen voraus, dass die Bürger Energie für Engagement aufbringen und einsetzen können. Sind damit nicht diejenigen ausgeschlossen, die am sozialen und politischen Leben nicht teilnehmen können, weil sie wirtschaftlich unter Druck oder am Abgrund stehen und kulturell ausgegrenzt sind? Entspringt die Idee der Bürgerdemokratie also nicht einer Mittelschichtidylle? Und: Wird auf diese Weise nicht vielleicht sogar kontraproduktiv ein Billiglohnsektor eröffnet, der zum Abbau regulärer Erwerbsarbeit beiträgt?
Die Belebung der kommunalen Demokratie ist an folgende Voraussetzungen der Arbeitsteilung in der "multiaktiven" Gesellschaft gebunden:

  • Eine Arbeitszeitverkürzung im Bereich der Vollerwerbsarbeit für alle.
  • Jede und jeder, Frauen und Männer sollen ein Bein in der Erwerbsarbeit haben, soweit sie das wollen.
  • Elternarbeit, also die Arbeit mit Kindern, wird ebenso gesellschaftlich anerkannt wie künstlerische, kulturelle und politische Bürgerarbeit, indem beide beispielsweise Ansprüche an Rente und Krankenversicherung gewähren.
  • Das gleichzeitige Engagement in Erwerbs- und Bürgerarbeit setzt damit schließlich auch eine Umverteilung der Familienverpflichtungen zwischen Männern und Frauen voraus.

Konkret stellt sich damit die Frage: Wie wird eine postnationale und zugleich politische Bürgergesellschaft in Europa möglich? Meine Antwort: Nur wenn es gelingt, das neue Prekäre der Beschäftigungsformen in ein Recht auf diskontinuierliche Erwerbstätigkeit, ein Recht auf wählbare Zeit, auf eine in tarifliche Rahmenbedingungen eingebettete neue Arbeitszeit-Souveränität umzuwandeln, können neue Freiräume in der Abstimmung von Arbeit, Leben und politischem Handeln entstehen und gesichert werden. Jedem Menschen wird es somit ermöglicht, sein Leben über einen Zeitraum von einem oder mehreren Jahren im Übergang von Familie, Erwerbstätigkeit, Muße, politischem Engagement mit den Ansprüchen und Anforderungen anderer abzustimmen und selbsttätig zu gestalten.

Übersicht aller bereits erschienenen Beiträge der "Living at Work-Serie".

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Ulrich Beck leitet das Institut für Soziologie an der Universität München und hat zugleich einen Lehrstuhl an der London School of Economics. Mit seinen Büchern Risikogesellschaft, Kinder der Freiheit, Schöne neue Arbeitswelt und Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter hat er die öffentliche Debatte immer wieder angeheizt.

Dieser Beitrag ist ein gekürzter Auszug aus Ulrich Becks Buch Schöne neue Arbeitswelt.

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Vom 19. bis 23. Oktober 2004

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