Illusionen aus dem Kühlregal
Die Joghurt-Lüge. Die unappetitlichen Geschäfte der Lebensmittelindustrie - das neue Buch von Marita Vollborn und Vlad D. Georgescu.
Von Winfried Kretschmer
Drei Viertel unserer Nahrungsmittel sind bereits industriell hergestellt. Mit Produktionsmethoden, die kaum jemand kennt. Und mit Litaneien von Zusatzstoffen, die keiner mehr überblickt. Niemand durchschaut mehr, was er isst, lautet das bittere Fazit. Da hilft nur Selbsthilfe: Selber kochen schützt.
Eigentlich eine Erfolgsgeschichte: Hunger ist in unserer Gesellschaft kein Thema mehr. Nahrungsmittel sind ausreichend und günstig zu haben. Am Beginn des 20. Jahrhunderts verschlangen Lebensmittel noch die Hälfte des Einkommens. 1950 betrug dieser Anteil bereits weniger als ein Drittel, Mitte der 1990er Jahre dann kaum mehr zehn Prozent. Und seither verteuerten sich Nahrungsmittel nur um sechs Prozent. Moderne Lebensmittel sollen uns gesund halten, schmecken und für wenig Geld zu haben sein, so lautet das Versprechen der Nahrungsmittelindustrie - ist da eine Vision in Erfüllung gegangen? "Doch der Schein trügt", schreiben Marita Vollborn und Vlad D. Georgescu. "Was im Handel wenig kostet, fordert an anderer Stelle seinen Tribut."

Die dunkle Seite der Erfolgsstory.


Diese dunkle Seite der Erfolgsstory ist das Thema ihres Buches Die Joghurt-Lüge: Es will "die Mechanismen der Industrie offenlegen und den Blick ins 'Eingemachte' erlauben". Das gelingt den beiden Lebensmittelspezialisten recht gründlich. Marita Vollborn arbeitete als Lebensmitteltechnologin im Management von Langnese-Iglo, der Chemiker Vlad D. Georgescu beschäftigte sich mit Nachweisverfahren und -grenzen der wichtigsten Schadstoffe und Belastungssubstanzen. Heute arbeiten beide als freie Wissenschafts- und Medizinjournalisten für verschiedene Medien. Zwei Insider also, die gründlich recherchierte Informationen der schnellen Skandalgeschichte vorziehen.
Die Lebensmittelbranche in Deutschland erwirtschaftet mehr als 130 Milliarden Euro im Jahr und beschäftigt mehr als 550.000 Menschen. Sie ist der Gewinner der Erfolgsstory. Den Tribut für die Vision von billigen Nahrungsmitteln zahlen indessen andere, betonen Vollborn und Georgescu: die kleinen Landwirte, die unter dem Preisdruck der Discounter ächzen und nicht selten ihre Existenz aufgeben müssen. Die Verbraucher, die mit den modernen Lebensmitteln ihre Gesundheit und Psyche gefährden. Und letztlich die Gesellschaft, die die Folgekosten einer aus dem Lot geratenen Ernährungsweise zu tragen hat. 75 Prozent aller Lebensmittel werden bereits industriell hergestellt. Und die haben es in sich - zu viel Zucker, zu viel Fett und eine ganze Litanei an Zusatzstoffen: "Antioxidantien, Emulgatoren, Farbstoffe, Konservierungsstoffe, Säuerungsmittel, Stabilisatoren, Verdickungs- und Geliermittel sowie Zuckeraustauschstoffe und Süßstoffe", zählen die Autoren die bekanntesten Beigaben aus den Lebensmittellabors auf.

Essen aus der Retorte.


Und der Trend zur Industrialisierung der Ernährung geht weiter. Functional Food verwischt die Grenze zwischen Arznei- und Lebensmitteln, gentechnisch erzeugte Nahrungsmittel drängen mit Vehemenz auf den Markt, mit dem Einsatz von Nanotechnologie steht bereits der nächste Entwicklungsschub bevor - ein Überzug aus Titandioxid-Nanopartikeln, der Schokolade und Pralinen vor dem gefürchteten sommerlichen Grauschleier schützen könnte, wurde unlängst patentiert. In der Branche kursiert schon die Vision von "interaktiven Lebensmitteln", die sich in Geschmack, Aussehen oder Verträglichkeit den Kundenwünschen anpassen können. "Die Nahrung der Zukunft wird sich von unserem heutigen Essen deutlich unterscheiden", resümieren die Autoren. Dabei ist der Trend zum synthetischen Industrie-Food bereits weit fortgeschritten. Drei Beispiele aus dem Buch mögen dies illustrieren:
In Deutschland werden eine ganze Reihe von Käsesorten mit dem Konservierungsmittel Natamycin behandelt. Auf der Käserinde verhindert es die Schimmelbildung, in der Medizin ist der Stoff als Breitbandantibiotikum geschätzt. Was kaum ein Konsument weiß, der so "mit jedem Bissen der Antibiotikaresistenz Vorschub leistet".
Schnellgerichte sind en vogue. Sie sehen appetitlich aus und sind in der Mikrowelle schnell zubereitet. Tiefgekühlte Frikadellen zum Beispiel, die aussehen wie frisch vom Grill. "Was der Esser nicht weiß: Der Hackfleischkloß ist nie mit einem Grill in Berührung gekommen." Die Bratfarbe stammt von Zuckercouleur, einer Masse, die beim Erhitzen von Zucker und Reaktionsbeschleunigern entsteht. Und die "appetitlichen Abdrücke heißer Rostspuren stammen vom glühenden Gitter einer Produktionseinheit, die dem Kochklops für wenige Sekunden ihr Brandzeichen aufgedrückt hatte".
Schließlich der Joghurt - schon statistisch ein Rätsel, weil die Erdbeerernte bei weitem nicht Verzehr und industriellen Verbrauch der Frucht decken kann. Deshalb liegt der Fruchtgehalt in Erdbeerjoghurt bei rund einem Prozent - maximal eine, im Schnitt jedoch nur eine halbe Frucht ist das je 250-Gramm-Becher. "Der Rest sind naturidentische Aromen, Zucker und, damit die Illusion perfekt ist, 'Fruchtstücke'. Diese bestehen vorrangig aus Obstabfällen und Pressrückständen, die mit Wasser, Zucker und Zitronensäure aufbereitet wurden. Die notwendige Struktur verleihen dem Fruchtimitat Dikalziumphosphat, eine aus Knochen ausgefällte Kalziumverbindung, und Dickungsmittel aus Algen; Farb- und Aromastoffe peppen es optisch auf." Die Joghurt-Lüge.

Niemand durchschaut mehr, was er isst.


Marita Vollborn und Vlad D. Georgescu belassen es allerdings nicht bei der nahe liegenden Skandalisierung via Ekel-Effekt. Ihnen geht es grundsätzlicher um das System der Ernährung, das sich unter dem Einfluss industrieller Produktionsverfahren stillschweigend breitgemacht hat. Und das unter der Hand auch die Kultur der Nahrungsaufnahme verändert. Wissen um Zubereitungsarten, Konservierungsmethoden und selbst die einfachsten Hygieneregeln geht verloren. Die Konsumenten machen ihre Ernährung abhängig von dem, was die Industrie ihnen vorsetzt - auf Treu und Glauben. "Niemand durchschaut mehr, was er isst", lautet das nüchterne Fazit. Und niemand kann sagen, wie die vielen Zusatzstoffe - miteinander und auf den individuellen Organismus - wirken. Für Vollborn und Georgescu ist das ein Argument, grundsätzlich über eine Beweisumkehr nachzudenken: "Während eine therapeutische Substanz eine Vielzahl von Hürden bis zur Zulassung nehmen muss, dürfen Lebensmittel, die täglich und nicht nur in Ausnahmesituationen konsumiert werden, mit Zusatzstoffen versetzt werden, deren Sicherheit nicht eindeutig belegt ist."
Grund, grundsätzlich über Ernährung nachzudenken, gibt es genug. Denn die Folgen schlechter Ernährung trägt letztlich die Gesellschaft. Zu viel Fett und zu viel Zucker in den Nahrungsmitteln und zu wenig Bewegung bilden einen Teufelskreislauf, der zu krankhafter Fettleibigkeit führt. "Die Folgen des ungebremsten Nahrungsmittelkonsums sind erheblich und belasten mittlerweile die Volkswirtschaften." Die Ernährung ist zu einem gesellschaftlichen Problem geworden, das dennoch nur von jedem einzelnen Esser selbst gelöst werden kann. Das wissen auch Vollborn und Georgescu.

Was wir essen, bestimmen wir selbst. .


Gemessen an dem, was die beiden Autoren dem Leser über gut 300 Seiten hinweg auftischen, gerät der Ausblick am Ende des Buches erstaunlich handzahm: Unter dem Motto "Erst informieren, dann kaufen" geben sie einen Überblick über die gebräuchlichen Qualitäts- und Gütesiegel, die dem Verbraucher die Orientierung erleichtern sollen, letztlich aber nur noch mehr Verwirrung schaffen. Als Schluss eines Buches, das sich betont industriekritisch gibt, wirkt das seltsam zahnlos - doch ist es konsequent. Denn letztlich wird jeder selbst entscheiden müssen, wem er glaubt und was er isst: "Was wir jeden Tag essen, bestimmen wir letzten Endes selbst. Darin liegt die größte Macht, die wir als Verbraucher haben", proklamieren Marita Vollborn und Vlad D. Georgescu. Ihr Fazit: "Selber kochen schützt." Für sich haben die beiden die Konsequenz gezogen: Sie sind "im Laufe der Recherchen für dieses Buch und nach Abwägung aller Aspekte ... überzeugte Bioprodukt-Käufer geworden".

Winfried Kretschmer, Journalist und Autor, arbeitet als freier Mitarbeiter für changeX.

Marita Vollborn / Vlad D. Georgescu:
Die Joghurt-Lüge.
Die unappetitlichen Geschäfte der Lebensmittelindustrie,

Campus Verlag, Frankfurt/New York 2006,
336 Seiten, 19.90 Euro,
ISBN 3-593-37958-9
www.campus.de

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Zum Buch

: Die Joghurt-Lüge. Die unappetitlichen Geschäfte der Lebensmittelindustrie. Campus Verlag, Frankfurt am Main / New York 2006, 336 Seiten, ISBN 3-593-37958-9

Die Joghurt-Lüge

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Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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