Handeln von der Zukunft her
Wie man lernt, von der Zukunft her zu führen - ein Essay von Claus Otto Scharmer und Katrin Käufer.
Lernen hat einen großen Haken: Es ist ein Download von Mustern aus der Vergangenheit, denn wir lernen aus unseren Erfahrungen. Was aber tun, wenn die Erkenntnisse von gestern für morgen nicht mehr taugen? Die Herausforderung heute ist, unsere Wahrnehmungsfähigkeit weiterzuentwickeln - und von einer im Entstehen begriffenen Zukunft zu lernen. Hierin liegt die entscheidende Aufgabe von Führung: Den Prozess des Sehens von Realität so zu vertiefen, dass wir beginnen, entstehende Möglichkeitsräume wahrzunehmen. Und danach zu handeln. / 10.06.09
Scharmer / Käufer IllustrationMit der Krise des Finanzsektors, der für Jahrzehnte als erfolgreiche Konstante im ökonomischen System galt, sehen sich Unternehmen und Organisationen in den übrigen Wirtschaftssektoren mit Umbrüchen und Unsicherheiten unbekannten Ausmaßes konfrontiert. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auf allen Ebenen in Unternehmen, Institutionen wie auch in gemeinnützigen Organisationen spüren diese Veränderung. Nicht dass Unsicherheit und Druck in Unternehmen ein neues Phänomen wären. Was aber die jetzige Situation von der Vergangenheit unterscheidet, ist der schnelle und für viele überraschende Umschlag in die Krise.
Was heißt Führung und Entscheidung in einer Situation, in der die Erfahrungen der Vergangenheit kaum oder keine Orientierung für die Zukunft bieten? Diese Fragen bildeten den Ausgangspunkt eines Forschungsprojektes am MIT in Boston. Die Leitfrage: Lässt sich von einer im Entstehen begriffenen Zukunft lernen?
Lernen basiert traditionell auf den Erfahrungen der Vergangenheit. Ich handle, dann beobachte ich, was passiert, und basierend auf dieser Erfahrung passe ich meine nächsten Schritte an:

Handlung - Beobachtung - Reflexion - Plan - Handlung

In diesem Modell heißt Lernen, dass sich Akteure mit vergangenen Erfahrungen auseinandersetzen und darauf aufbauend in der Gegenwart handeln. Dieser Prozess ist sinnvoll und wichtig.
Doch was, wenn die Erfahrungen der Vergangenheit in Bezug auf gegenwärtige Herausforderungen nicht hilfreich sind? Was, wenn die im Entstehen begriffene Zukunft sich so von der Vergangenheit unterscheidet, dass die Erfahrungen der Vergangenheit nicht weiterhelfen, ja sogar ein Hindernis darstellen?

Runterladen von Mustern der Vergangenheit.


Peter Senge, Autor von The Fifth Discipline: The Art & Practice of the Learning Organization (1) beschreibt in einem Interview mit den Autoren ein Beispiel aus der Automobilindustrie.
"1981 besuchte ein Team von Ingenieuren der Ford Motor Company die Toyota-Werke, die 'Lean Production' eingeführt und erfunden hatten. Obwohl die Ford-Ingenieure unmittelbaren Zugang zum revolutionären neuen Produktionssystem hatten, waren sie unfähig zu 'sehen', was vor ihnen stand. Die Reaktion der Ingenieure war, dass sie glaubten, ihnen wäre etwas vorgeführt worden und sie hätten nicht das 'echte' Werk gesehen, weil es keine Zwischenlager et cetera gab. Dieses Beispiel illustriert, wie schwierig es ist, unser Urteil zu suspendieren, selbst wenn wir uns am Ort der größten Möglichkeit aufhalten."
Unsere Arbeit hat uns zu der Schlussfolgerung geführt, dass die wichtigste Führungsaufgabe nicht ist, Ziele zu definieren oder eine Zukunftsvision zu entwickeln. Wir glauben, dass es die wichtigste Führungsaufgabe ist, den individuellen und gemeinsamen Prozess des Sehens der Realität zu initiieren und dahingehend zu vertiefen, dass wir beginnen, entstehende Möglichkeitsräume wahrzunehmen. Das gewohnheitsmäßige "Runterladen" von Mustern der Vergangenheit behindert den Blick auf die vor uns liegende Realität. Basieren Kommunikation oder Interaktion auf einem gewohnheitsmäßigen Abspulen dieser Muster aus der Vergangenheit, entstehen kollektive Verhaltens- und Denkmuster. Aus diesem Abspulen heraus zu handeln heißt, in der alten Denkwelt gefangen zu bleiben, ohne die Möglichkeit zu haben, die Mauern dieses Gefängnisses zu überwinden. Innerhalb dieser Mauern sehen wir nur die mentalen Konstrukte, die wir auf die Welt projizieren.
Der erste Schritt aus diesen Denkgewohnheiten hinaus ist eine Begegnung mit dem spezifischen Kontext, in dem die Akteure handeln. Immer häufiger begeben sich Unternehmen in den Kontext der Kunden, Partner und Zulieferer hinein. Aus einem "über die Kunden sprechen" wird ein "mit Kunden sprechen". Die Erfahrungen der Kunden zu verstehen eröffnet das Verständnis von unerschlossenen Potenzialen und Bedürfnissen.
Was es wirklich heißt, sich in einen Kontext zu begeben, um die Fähigkeit des Hinsehens auszubilden, beschrieb in einem unserer Interviews der Kognitionswissenschaftler Francisco Varela mit dem Beispiel eines eher grausamen Experimentes mit jungen Katzen. (2) Neugeborene Katzen brauchen ein paar Tage, bevor sie ihre Augen öffnen. In diesem Experiment wurden die neugeborenen Katzen in Zweierpaaren zusammengebracht, jeweils eine in einem kleinen rollbaren Käfig und die andere mit normaler Bewegungsfreiheit. Die Katze im Käfig war mit ihrem Rollkäfig an das bewegliche Kätzchen angehängt. Das Ergebnis dieses Experiments war, dass die Katze mit normaler Bewegungsfreiheit ganz normal sehen lernte, die jeweils andere mit der eingeschränkten Bewegungsfreiheit jedoch nicht. Varelas Schluss aus diesem Experiment: Wahrnehmung ist nicht passiv. Wahrnehmung ist eine Aktivität, die wir mit unserem ganzen Körper in die Welt bringen.

Prinzip der blinden Katze.


In der Welt von Organisationen befinden wir uns zu oft in der Rolle des Kätzchens, das seiner Eigenbewegung beraubt ist. Anstatt selbst in die Welt zu gehen und mit unseren eigenen Augen und Sinnen das Neue sehen zu lernen, lagern wir das wichtigste Element im Innovationsprozess an externe Berater und Organisationen aus. Diese Berater kommen dann als Experten zurück in unsere Organisationen und "erklären" uns, was wir falsch machen und wie andere es viel besser machen, als wir es tun.
90 Prozent der heutigen Bildungs- und Trainingsformen sowie des Wissens- und Veränderungsmanagements basieren auf dem Prinzip der blinden Katze: Wir trennen die Lernenden und Handelnden von den primären Wahrnehmungswelten, von der konkreten Sinneserfahrung, von dem lebendigen Kontext ab. Wir lagern die Wahrnehmung an Externe, Experten oder Trainer aus, die dann das so gewonnene Wissen in die betreffende Organisation downloaden, runterladen.
Für einfache Probleme kann das durchaus zielführend sein. Je größer jedoch die Komplexität einer Situation, desto wichtiger ist es, die direkte Wahrnehmung und die Aktivierung der Sinne nicht auszulagern, sondern die Nähe zum lebendigen Kontext aktiv zu suchen und so strategische Veränderungen und Entwicklungen frühzeitig wahrzunehmen. Ohne direkte Verbindung zum Kontext einer Situation geht es uns wie der blinden Katze: Wir können das Neue nicht spüren, nicht sehen.
Jede Information, die unserer Annahme von der Wirklichkeit widerspricht, ist Rohmaterial für das Neue. Wo in Institutionen und Organisationen findet ein bewusstes Innehalten der gewohnheitsmäßigen Urteilsroutinen statt? Die meisten Gesprächs- und Handlungsmuster basieren darauf, wohlbekannte Meinungen und Sichtweisen abzuspulen.

Lernen von einer im Entstehen begriffenen Zukunft.


Um zu verstehen, wie sich gewohnheitsmäßige Routinen durchbrechen lassen und Individuen und Gruppen von einer im Entstehen begriffenen Zukunft lernen können, haben wir am MIT in Boston ein mehrjähriges Forschungsprojekt durchgeführt. Dieses Projekt umfasst eine Interviewstudie mit Praktikern und Wissenschaftlern im Bereich Management und Innovation sowie die Begleitung von Veränderungsprozesses in Organisationen und Teams. (3)
Das Ergebnis dieser Arbeit ist ein Prozess, den wir den U-Prozess oder Presencing genannt haben. Presencing verbindet die Begriffe Presence und Sensing und beschreibt die Fähigkeit, Zukunftsmöglichkeiten zu erspüren und in die Gegenwart zu bringen.
Der erste Schritt zur Formulierung des U-Prozesses war die Erkenntnis, dass Veränderungsprozesse auf verschiedenen Ebenen stattfinden.

Abbildung 1: Vier Ebenen von Lernen und Veränderung


Abbildung 1: Vier Ebenen von Lernen und Veränderung

Erste Ebene: Problem - Reaktion
Das Runterladen von vergangenen Mustern ist die häufigste Reaktion in Krisenzeiten oder wenn deutlich wird, dass eine Veränderung notwendig ist. Die Herausforderung oder das Problem produziert eine Reaktion. Dieses reaktive Handeln kann sinnvoll sein, beispielsweise in Notsituationen, in denen ein schnelles Handeln wichtig ist. Die Reaktion basiert auf den Erfahrungen der Vergangenheit.

Zweite Ebene: Veränderung von Routinen, Strukturen, Prozessen
Ein reaktives Handeln ist nicht nachhaltig, da die Ursachen oder tiefer liegenden Ebenen der Herausforderung außer Acht gelassen werden und die Handlung selbst nur eine Reaktion auf eine äußerliche Veränderung darstellt. Handeln auf Ebene zwei - Restrukturieren - geht über ein reaktives Handeln hinaus und schließt die Veränderung von zugrunde liegenden Strukturen und Prozessen mit ein. Dies können beispielsweise Arbeitsabläufe, Routinen oder Kommunikationsprozesse sein. Diese Veränderung von Strukturen und Prozessen verändert zukünftige Abläufe, die dann auf diesen neuen Prozessen basieren.
Ein Beispiel für die Veränderung von Prozessen sind die Reengineering-Ideen der 90er-Jahre. Laut einer Studie von Strebel sind jedoch etwa 70 Prozent dieser Business-Reengineering-Prozesse gescheitert. (4) Ein Grund liegt darin, dass es einen Veränderungsbedarf gibt, der mit einer Anpassung von Prozessen und Strukturen nicht erfüllt ist.

Dritte Ebene: Veränderung des Denkens
Strukturen und Prozesse zu verändern ist sinnvoll, jedoch erlaubt es Organisationen oder Teams nicht, mit neuen, zukünftigen Herausforderungen umzugehen. Chris Argyris, Professor in Harvard, und Donald Schön, Professor am MIT, schlagen vor, zwischen Single-Loop-Lernen und Double-Loop-Lernen zu unterscheiden. Single-Loop-Lernen bedeutet, dass wir unsere Handlungen anpassen. Damit bewegen wir uns auf Ebene zwei. Double-Loop-Lernen schließt ein Nachdenken über unsere Annahmen und Grundperspektiven, die unserem Handeln zugrunde liegen, mit ein.
Dieses Lernen, das eine Reflexion von zugrunde liegenden Annahmen mit einschließt, bildet die dritte Ebene der Lernprozesse. Die Akteure werden sich der Annahmen bewusst, auf denen ihr Handeln basiert. Annahmen können beispielsweise die Gründe sein, die zur Entstehung von Arbeitsabläufen oder Kommunikationsformen geführt haben. Ebene drei heißt, dass der Handelnde die Annahmen, auf denen sein Handeln beruht, anschaut und sie gegebenenfalls ändert oder an eine geänderte Situation anpasst.

Vierte Ebene: Lernen von einer im Entstehen begriffenen Zukunft
In unseren Interviews mit Unternehmern und Innovatoren wurde noch eine weitere Ebene des Lernens sichtbar. Diese Ebene bezieht sich auf die Wahrnehmung von Zukunftsmöglichkeiten. Im Rahmen unseres Interviewprojektes sprachen wir unter anderem mit W. Brian Arthur, dem Gründer des Economics Department am Santa Fe Institute. Brian Arthur wurde für seine Veröffentlichungen über die Entstehung und Veränderung von Hightechmärkten bekannt. Seit den 70er-Jahren galt das ursprüngliche Xerox PARC Team als eines der erfolgreichsten Forschungs- und Entwicklungsteams der letzten Jahrzehnte. Hier ist beispielsweise die Benutzeroberfläche entwickelt worden, die heute auf fast jedem Desktop zu finden ist, wie auch die Maus. Die Ironie ist, dass Xerox aus diesen bahnbrechenden Ideen kein Kapital schlagen konnte, sondern dass andere Organisationen diese Ideen aufgriffen und weiterentwickelten.
"Um in Hightechmärkten zu gewinnen", sagte Arthur, "ist es notwendig, die Muster zu erkennen, die diese Märkte bestimmen." Laut Arthur gibt es zwei verschiedene Ebenen der Erkenntnis. "Es gibt zwei Wege, etwas zu verstehen oder zu erkennen. Die allgemein diskutierte Erkenntnisform ist der rationale Verstand. Aber es gibt noch eine tiefere Ebene. Ich nenne diese tiefere Ebene ein inneres oder intuitives Wissen."
Arthur fuhr fort: "Was, wenn Apple sich zum Beispiel entschließen würde, einen ehemaligen CEO von Pepsi-Cola einzustellen? Diese Person würde eine bestimmte Form von Wissen mitbringen: beispielsweise Kosten runter, Qualität hoch oder wie auch immer sein Mantra lautet. Und es würde nicht funktionieren. Aber nun versuche dir vorzustellen, ein Steve Jobs käme - jemand, der von einem Problem zurücktreten und anders denken kann. Als Steve Jobs zu Apple zurückkam, war das Internet in seinen Anfängen. Niemand konnte absehen, was diese Entwicklung bedeuten würde. Schau ihn dir heute an: Er schaffte den Turnaround bei Apple." Arthur führte dies weiter aus: "Erstklassige Wissenschaftler arbeiten genauso. Die guten, aber nicht erstklassigen Wissenschaftler können existierende Bezugssysteme nehmen und sie auf irgendeine Situation anwenden. Die Erstklassigen treten einen Schritt zurück und lassen eine Idee oder einen Bezugsrahmen entstehen. Meine Erfahrung", so Arthur, "ist, dass diese Wissenschaftler nicht mehr Intelligenz besitzen als die guten Wissenschaftler, aber sie haben diese andere Fähigkeit und das macht den ganzen Unterschied aus." (5)
Diese Fähigkeiten beschreiben wir als Lernen von einer im Entstehen begriffenen Zukunft.
Offensichtlich ist es nicht für jedes Problem nötig, diese vierte Ebene des Lernens mit einzubeziehen. Entscheidend ist jedoch, dass Organisationen oder Teams diese Fähigkeit entwickeln und je nach Situation und Problemstellung sowie je nach Komplexität des Problems auf diese vierte Ebene von Lernen zugreifen zu können.
Es gibt umfangreichen Arbeiten dazu, welche Lernprozesse für die Ebenen zwei und drei notwendig sind und wie sie in Unternehmen eingeführt werden können. Der Umgang mit Herausforderungen, die nicht auf den Ebenen zwei und drei, also nicht durch eine Reflexion der Vergangenheit beantwortet werden können, ist der Kern der Theorie U. Er beschreibt die Fähigkeit, von einer im Entstehen begriffenen Zukunft aus zu lernen. Presencing bezeichnet die Fähigkeit einzelner Menschen oder Gemeinschaften, sich direkt mit ihrer höchsten zukünftigen Möglichkeit zu verbinden und von dort aus unmittelbar zu handeln. Von einer zukünftigen Möglichkeit heraus zu handeln heißt, von einer authentischen Präsenz des Augenblicks her zu handeln - aus dem Jetzt.

Wissen lebt.


Ein Beispiel, das diese verschiedenen Ebenen von Veränderungsprozessen illustriert, sind Entwicklungen im Bereich von Wissensmanagement. In der ersten Phase im Wissensmanagement lag der Fokus auf explizitem Wissen (Know-how). Explizites Wissen ist Informationswissen, das in Tabellen und E-Mails zusammengefasst und weitergegeben werden kann. Beispielsweise wenn Manager die Leistung eines Produktionsprozesses kalkulieren, handelt es sich um explizites Wissen.
In der ersten Phase des Wissensmanagements lag der Fokus auf Informationstechnologie, auf Datenbanken, die das Wissen speichern. Einige Jahre (und mehrere Milliarden Dollar) später wurde deutlich, dass Informationstechnologie nur ein Teil im größeren Ganzen ist. Den Verantwortlichen wurde bald klar, dass die Herausforderung darin liegt, über das Informationsmanagement hinweg zum Wissensmanagement zu kommen.
In dieser zweiten Phase lag ein wesentlicher Fokus auf der Verbesserung der Prozessqualität. Ein Beispiel ist Total Quality Management (TQM). Im TQM wird eine andere Form von Wissen wichtig, das implizite oder "verkörperte" Wissen, das einfach "gewusst" wird und jeden Tag in den täglichen Handlungen angewendet wird.
Doch diesem alltäglichen Handlungswissen ist noch eine weitere Form von Wissen vorgelagert. Diese Form von Wissen ist unabdingbar, wenn es um die Erzeugung von Innovationen geht. Dies ist die dritte Phase von Wissensmanagement.
Michael Burtha von Johnson & Johnson, Inc. beschreibt diese verschiedenen Phasen von Wissensmanagement von explizit zu implizit. In unserem Interview betont Michael Burtha, dass die wahre Herausforderung darin liegt, Räume zu schaffen, wo komplexes Wissen ausgetauscht werden kann, und dass dieser Austausch über Funktionsbereiche, Unternehmensteile und auch Organisationen hinweg stattfindet. Aus dieser Warte betrachtet ist Wissen nicht "ein Ding", sondern "etwas Lebendiges", das in konkrete Arbeits- und Kommunikationspraktiken eingebunden ist. Wissen ohne Kontext ist kein Wissen; es ist nur Information. Wissen, so Ikujiro Nonaka und Hirotaka Takeuchi in ihrem Buch The Knowledge-Creating Company, ist ein "situativer lebendiger Prozess, der sich in einer spiralförmigen Bewegung zwischen explizitem und implizitem Wissen und zwischen Individuen, Teams und Organisationen entwickelt". (6)
Diese Definition von Wissen als einem lebendigen Prozess wurde in den 90er-Jahren mit offenen Armen aufgenommen. In den späten 90ern und den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts fand ein weiterer Wandel statt: ein Wandel, der mit den Quellen von Innovation und von Veränderungsprozessen zu tun hat. Ausgangspunkt für diesen Wandel war die Frage, wie ein Umgang mit Turbulenzen und umbruchartigen Veränderungen aussehen kann und wie entstehende Zukunftsmöglichkeiten frühzeitig wahrgenommen und ergriffen werden können. Wie lassen sich die Quellen des "noch nicht verkörperten" Wissens erschließen? (7)
Diese aktuellste Phase spiegelt sich in Nonakas Schriften im Konzept der phronesis, das praktische Wissen, und dem Konzept des ba, das japanische Wort für "Ort", was den physischen, sozialen und mentalen Kontext von Wissensentstehung beschreibt. Ba ist, sagt Nonaka, "Kontext in Bewegung". Wir nennen diese Form von Wissen "noch nicht verkörpertes" ("not yet embodied") oder "selbsttranszendierendes" Wissen. (8)
Im Kern argumentiert Nonaka, dass Wissensentstehung nicht gemanagt werden kann, sondern dass lediglich Bedingungen geschaffen werden können, die Wissensentstehung fördern. Warum? Weil Wissen lebendig ist. Anstatt Wissen zu managen und kontrollieren, so Nonaka, müssen wir die Bedingungen schaffen, die alle drei Aspekte von Wissensmanagement hervortreten lassen: die Informationstechnologie, einen Wissensgenerierungsprozess und die Orte, die dieser Art der Arbeit förderlich sind.
Die vier Ebenen beschreiben vier verschiedene Tiefen von Veränderung. Die offene Frage ist: Welcher Prozess führt durch diese Ebenen?

Der U-Prozess: Presencing.


"Angenommen", sagte Brian Arthur, "ich springe mit einem Fallschirm über Silicon Valley ab. Plötzlich bin ich mit einer komplizierten, dynamischen Situation konfrontiert und meine Aufgabe ist, sie zu verstehen. Was würde ich tun? Ich würde beobachten und beobachten und wieder beobachten, dann würde ich mich zurückziehen. Mit etwas Glück könnte ich dann einen inneren Ort in mir finden, an dem ich verstehe, was als Nächstes zu tun ist. Ein innerer Ort, an dem ich mich mit meinem durch die Beobachtungen entstandenen Wissen verbinden kann." Arthur fuhr fort: "Ich würde diesen Prozess wie folgt beschreiben: Du wartest und wartest und lässt deine Erfahrung mit der Situation verbinden. In gewisser Weise gibt es kein Entscheiden. Das, was zu tun ist, wird offensichtlich. Du kannst es nicht beschleunigen. Viel hängt davon ab, woher du innerlich kommst und wer du bist, als Mensch. Hieraus ergeben sich viele Implikationen für das Management. Was ich meine, ist, dass das, was zählt, davon abhängt, was in dir selber lebt, woher du tief drinnen in dir selbst kommst."
Arthurs Beschreibung korrespondiert mit den Ergebnissen unseres Forschungsprojekts. Führungskräfte und Handelnde müssen sich mit ihrem blinden Fleck auseinandersetzen, das heißt dem inneren Ort, der den Ausgangspunkt von Handlung darstellt.
Die folgende Abbildung fasst die drei Grundbewegungen des U-Prozesses zusammen.

Abbildung 2: Die drei Grundbewegungen des U-Prozesses


Abbildung 2: Die drei Grundbewegungen des U-Prozesses

Dieser dreiphasige Prozess erlaubt Individuen und Gruppen, die tieferen Ebenen von Wissen zu aktivieren: Erstens hinschauen, hinschauen, hinschauen, zweitens verbinde dich mit dem, was in dir als Wissen entsteht, und drittens handele unmittelbar aus der Anwesenheit dieser tieferen Anschauung. Diese drei Bewegungen beschreiben die Flugperspektive auf diesen Prozess. Die Herausforderung ist, diesen Prozess genauer zu beschreiben und die Schwellen und Umbruchpunkte in diesem Prozess zu benennen. Diese Frage war der Ausgangspunkt für verschiedene Interviews mit dem Kognitionsforscher Francisco Varela.
Viele Jahre lang hatte Varela an einem Buch namens On Becoming Aware ("Aufmerksam werden") gearbeitet. (9) Er stellte darin die Frage: "Kann dieser Kernprozess als Fähigkeit kultiviert werden?" Varela identifiziert drei Gesten des Aufmerksamwerdens:

  1. das Innehalten (Suspension),
  2. das Umwenden (Redirection) und
  3. das Loslassen (Letting-go).

Varela beschrieb den Prozess der drei Gesten als etwas, was im Erfahrungsbereich vieler Menschen liegt - aber: "Ebenso wie ein Läufer trainieren muss, um ein Marathonläufer zu werden, braucht ein Verstehen und ein Meistern dieses Prozesses Zeit und Coaching."
Varela erklärte: "Mit Innehalten meine ich das Beenden von Gewohnheitsmustern. In der buddhistischen Meditation platzierst du deinen Hintern auf ein Kissen und bleibst auf einer Ebene oberhalb deiner gewöhnlichen Beschäftigung. Du schaust aus einer eher überblickenden Perspektive." Varela fuhr fort: "Sinn und Zweck der ganzen Sache ist natürlich, dass du es erträgst, dass nach der Suspensionsphase nichts passiert. Innehalten ist eine eigenartige Sache. Dabeibleiben, dranbleiben ist wirklich der Knackpunkt, um den es geht." (10)
Dann erläuterte er seine zweite und dritte Geste: umwenden und loslassen. Beim Umwenden (Redirection) geht es darum, die Aufmerksamkeit von einem "Äußeren" zu einem "Inneren" umzulenken, sodass die Aufmerksamkeit hin zum Ursprungsort der inneren Prozesse gelenkt wird und nicht hin zum Objekt. Die dritte Geste, das Loslassen, sollte mit Feingefühl passieren, betonte Varela. In seinem Buch mit Natalie Depraz und Pierre Vermersch wird die dritte Geste als "unsere Erfahrung zu akzeptieren" beschrieben. (11)
Diese drei Gesten oder Umschlagpunkte korrespondieren mit unseren Erfahrungen in der Arbeit mit Veränderungs- und Lernprozessen. Varela sprach von tiefen Strukturen der Aufmerksamkeit, die langsam entstehen, während wir den Prozess des Gewahrwerdens durchlaufen: Gewohnheitsbedingte Urteile werden aufgegeben, bei der Beobachtung von Phänomenen wird plötzlich unsere eigene Rolle wahrnehmbar und schließlich verwandelt sich die Struktur der Aufmerksamkeit abermals, wenn wir uns von alten Identitäten und Zielen verabschieden und etwas Neues entstehen lassen - mit einer im Entstehen begriffenen und von der Zukunft her wirksamen Intention.
Wenn ein Prozess gut läuft, dann ist ein Punkt erreicht, an dem gemeinsam zu einem tieferen Ort der Stille gegangen werden kann. An diesem Punkt ist es möglich, das Alte loszulassen und nach der zukünftigen Möglichkeit zu fragen. Diese drei Schritte beschreiben die Umschlagpunkte oder Schwellen auf der linken Seite des U-Prozesses. Die folgende Abbildung fasst den Weg auf der linken Seite des U-Prozesses zusammen.

Abbildung 3: Die linke Seite des U-Prozesses.


Abbildung 3: Die linke Seite des U-Prozesses

Wenn der Weg auf der linken Seite des U Varelas Kernprozess des Aufmerksamwerdens veranschaulicht, was erwartet uns dann auf der rechten Seite des U? Die Aufmerksamkeit auf der linken Seite liegt auf dem "Öffnungsprozess", auf der rechten Seite richtet sich die Aufmerksamkeit auf den Prozess des gemeinsamen Handelns. Damit beschreibt die rechte Seite eine ganz andere Dimension eines kollektiven kreativen Prozesses. Sie hat etwas mit der Absicht zu tun, das Neue oder die zukünftige Möglichkeit Wirklichkeit werden zu lassen. Wie kommt das Neue in die Welt?

Die Erkundung der rechten Seite des U.


Der Prozess entlang der linken Seite des U bis zu dem tiefsten Punkt führt durch die Erkenntnisräume des Runterladens (Downloading), Hinschauens (Seeing), Hinspürens (Sensing) bis zum tiefsten Punkt des Anwesendwerdens (Presencing). Um zu diesen tiefer liegenden Erkenntnisräumen zu gelangen, müssen die Schwellen überquert werden, die Varela in seiner Arbeit identifiziert hat: erstens das Innehalten (Suspension), zweitens das Umwenden (Redirection) und drittens das Loslassen (Letting-go).
In unserer Arbeit wurde deutlich, dass der Weg aus dem U heraus hinein in das Handeln Parallelen zu dem Prozess in das U hinein aufzeigt: Die Schwelle des Loslassens (auf dem Weg hinunter) wird zu einer Schwelle des Entstehenlassens (auf dem Weg hinauf). Das Entstehenlassen führt zu einem Moment, an dem die am tiefsten Punkt des U-Prozesses entstandene Intention und Vision sich verdichten kann. Die Schwelle des Umwendens, das heißt die Wendung nach innen (auf dem Weg hinunter), wird zu einer Schwelle des Hervorbringens, das heißt einer Wendung nach außen in der Erprobung konkreter Prototypen (auf dem Weg hinauf). An der Schwelle des Innehaltens verwandelt sich das Innehalten von Gewohnheiten und Routinen (auf dem Weg nach unten) in die Schwelle des Verkörperns (auf dem Weg nach oben). Verkörpern ist die Schwelle, an der das Neue mittels Handlungen, Infrastrukturen und Praxis seine Form bekommt.

Abbildung 4: Der U-Prozess.


Abbildung 4: Der U-Prozess

In unserer Arbeit mit Innovations- und Veränderungsprozessen haben wir oft beobachtet, wie diese Schwellen überquert werden:

  1. Runterladen: Muster der Vergangenheit wiederholen sich - die Welt wird aus den Augen des gewohnheitsmäßigen Denkens betrachtet.
  2. Hinschauen: Ein mitgebrachtes Urteil loslassen und die Realität mit frischem Blick betrachten - das beobachtete System wird als von dem Beobachter getrennt wahrgenommen.
  3. Hinspüren: Sich mit dem Feld verbinden, eintauchen und die Situation aus dem Ganzen heraus betrachten - die Grenze zwischen Beobachter und dem Beobachteten verschwimmt, das System nimmt sich selber wahr.
  4. Anwesend werden: Sich mit dem Quellort - dem inneren Ort der Stille - verbinden, von dem aus die im Entstehen begriffene Zukunft wahrnehmbar werden kann.
  5. Verdichten der Vision und Intention - Kristallisieren und Bewusstmachen der Intention und Vision, die aus der Verbindung zu diesem tieferen Quellort entsteht.
  6. Erproben des Neuen in Prototypen, in denen die Zukunft durch praktisches Tun gemeinsam erkundet und entwickelt wird.
  7. Das Neue praktisch anwenden und institutionell verkörpern: Das Neue beispielsweise durch Infrastrukturen und Alltagspraktiken in eine Form bringen.

Diese sieben kognitiven Räume lassen sich mit sieben unterschiedlichen Räumen eines Hauses vergleichen. Jeder Raum repräsentiert eine Qualität von Aufmerksamkeit. Werden nur wenige dieser Räume benutzt (häufiger die Räume auf den oberen Ebenen), kann das in den anderen Räumen liegende Potenzial nicht realisiert werden.

Theorie U: Von der entstehenden Zukunft her führen.


In Innovations- und Veränderungsprojekten haben wir beobachtet, dass viele erfahrene Führungskräfte diese tieferen Ebenen des U aus ihrer eigenen Erfahrung her kannten, jedoch viele Organisationen, Institutionen und größeren Systeme fast ausschließlich auf Ebene eins oder zwei operierten. Warum? Wir glauben, dass eine Führungstechnologie, die diese unteren Ebenen zugänglich macht, fehlt. Ohne diese Kapazität bleiben Prozesse in den Strukturen der Vergangenheit stecken.
Ein solcher Prozess, der es den Akteuren erlaubt, die tieferen Ebenen von Wissen zu aktivieren und zu nutzen, basiert auf vier verschiedenen Feldstrukturen der Aufmerksamkeit: Jede Ebene des Lernens und Wissens basiert auf einer spezifischen Qualität von Aufmerksamkeit, die wir Feldstruktur der Aufmerksamkeit nennen. Jede Handlung, ob individuell oder gemeinschaftlich, basiert auf einer dieser Aufmerksamkeitsstrukturen. Äußerlich scheinbar gleiche Aktivitäten (wie beispielsweise Zuhören) können in der Praxis abhängig von der Feldstruktur der Aufmerksamkeit, durch die eine bestimmte Handlung in die Welt kommt, radikal unterschiedliche Ergebnisse produzieren. Dies ist die verborgene Dimension unseres gemeinsamen sozialen Prozesses. Diese Dimension ist vielleicht nicht einfach oder sofort verständlich, aber sie ist unserer Forschung nach der wichtigste Hebel für eine nachhaltige Veränderung und damit das wichtigste Führungswerkzeug, insbesondere in Situationen, in denen die Erfahrungen der Vergangenheit wenig Hilfestellung bieten, oder in Krisensituationen, die Innovationen fordern.

Claus Otto ScharmerClaus Otto Scharmer ist Senior Lecturer am Massachusetts Institute of Technology und Gründer des Presencing Institute in Cambridge. Er berät globale Unternehmen, internationale Institutionen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in den USA, Europa, Afrika und Asien. Er ist Autor des Buches Theorie U: Von der Zukunft her führen. Presencing als soziale Technik, das im Carl-Auer-Verlag erschienen ist.

 

Katrin KäuferKatrin Käufer lehrt und forscht seit 1998 an der MIT Sloan School of Management sowie am Community Innovators Lab (CoLab) am MIT Department of Urban Studies and Planning. Sie ist Gründungsmitglied und Forschungsdirektorin des Presencing Institute.

 

Claus Otto Scharmer CoverClaus Otto Scharmer:
Theorie U - Von der Zukunft her führen.
Presencing als soziale Technik.

Carl Auer Verlag,
Heidelberg 2009,
494 Seiten, 49 Euro.
ISBN: 978-3-89670-679-9
www.carl-auer.de

 

www.presencing.com
www.theoryU.com
www.ottoscharmer.com

Quellen

  1. Peter Senge ( 1990): The Fifth Discipline: The Art and Practice of the Learning Organization. New York.
  2. Interview with Franciso Varela (2000/2005), originally published in Wild Duck Review, Vol. VI No.1 on "The End of Human Nature?"
  3. www.presencing.com, www.theoryU.com
  4. Paul Strebel (1996): Why do Employees resist Change? Boston, MA.
  5. www.dialogonleadership.org/docs/Arthur-1999.pdf
  6. Ikujiro Nonaka / Hirotaka Takeuchi (1995): The Knowledge Creating Company, Oxford.
  7. Claus Otto Scharmer (2000): "Self-Transcending Knowledge: Organizing Around Emerging Realities". Organizational Science, 33, no. 3, 14-29.
  8. Siehe Ikujiro Nonaka und Noboru Konno (1998): "The Concept of Ba: Building a Foundation for Knowledge Creation". California Management Review, 50, no. 3: 40-54; Ikujiro Nonaka / Ryoko Toyama / Noboru Konno (2000): "SECI, Ba and Leadership: A Unified Model of Dynamic Knowledge Creation". Long Range Planning, 33, no 1; Georg von Krogh ( 2000): Enabling Knowledge Creation: How to Unlock the Mystery of Tacit Knowledge and Realease the Power of Innovation. Oxford.
  9. Herausgegeben mit Natalie Depraz und Pierre Vermersch, 2003, Amsterdam.
  10. www.dialogonleadership.org/interviews/Varela.shtml
  11. Natalie Depraz / Francisco Varela / Pierre Vermersch (2003): The Gesture of Awareness, an Account of Its Structural Dynamics. In Investigating Phenomenological Consciousness: New Methodologies and Maps. Edited by Max Velmans, Amsterdam, S. 25.

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: Theorie U - Von der Zukunft her führen. Presencing als soziale Technik. Carl Auer Verlag, Heidelberg 2009, 494 Seiten, ISBN 978-3-89670-679-9

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