Bücher, die Spuren hinterlassen

Welche Bücher des Jahres uns besonders lesenswert scheinen und warum
Text: Anja Dilk, Winfried Kretschmer

Hier sind sie, unsere Bücher des Jahres: Bücher, die in diesem Jahr Spuren hinterlassen haben. Die es herauszuheben lohnt. Weil sie Themen ansprechen, die morgen wichtig werden. Weil sie sich um neue Perspektiven abseits des Gewohnten bemühen. Weil sie nach dem Neuen suchen.

Die changeX-Booklist zum Jahresende hat Tradition. Mal haben wir einen Gewinner gekürt, ein Buch des Jahres, mal eine Ranklist verfasst. Meist hat eine mehrköpfige Jury aus bewährten changeX-Autoren die besten Bücher nominiert und diskutiert.  

An die Tradition knüpfen wir auch dieses Mal an. Sie ist berechtigt. Denn es lohnt, am Ende des Jahres noch mal Revue passieren zu lassen, welche Titel im Jahresverlauf besonderen Eindruck hinterlassen haben. Diesmal haben wir die Debatte im Duett geführt: Winfried, der 2017 den Löwenanteil der Rezensionen und Interviews gemacht und am tiefsten in die Publikationen auf dem Buchmarkt eingestiegen ist. Anja, die in diesem Jahr etwas mehr von außen auf den Buchmarkt schaut, aber als Teil der Stammcrew von changeX einen geschulten Blick für das Relevante und auf aktuelle Debatten in der Gesellschaft hat. Unabhängig voneinander haben wir erst nominiert, dann im Pingpong diskutiert: Was erscheint uns besonders wichtig, gut, weiterführend? Was also auswählen? Was empfehlen?


Megathema Digitalisierung


Schnell war klar: In diesem Jahr wollen wir weder einen Gewinner küren noch eine Ranklist machen, sondern einen Strauß von Büchern in den Fokus rücken, die unserer Einschätzung nach wichtige Gesellschaftsdebatten qualitativ nach vorn gebracht haben. Denn in einer multiperspektivischen Welt kann es ein "Buch des Jahres" nicht mehr geben. Sondern nur perspektivische Empfehlungen. Keine Kür bester Bücher, sondern eine Auswahl von Titeln, die Spuren hinterlassen haben. Die richtungweisend waren. Die uns weitergebracht haben. Von denen man vielleicht noch länger spricht. 

Auffällig: Zunächst standen in unserer Diskussion Titel zum Thema Digitalisierung ganz oben. Die Digitalisierung, da waren wir uns einig, wird in den kommenden Jahren in einem Ausmaß die Gesellschaft verändern, dessen wir uns heute weder bewusst sind noch es zu überschauen vermögen.  

Und nicht zufällig sind wichtige Titel zum Thema erschienen. Titel wie Data for the People von Andreas Weigend, Das Digital von Thomas Ramge und Viktor Mayer-Schönberger oder Das metrische Wir von Steffen Mau sind wichtig, gerade weil sie sich gegen den herrschenden Trend wenden: Weil sie nicht die Angst vor allem Digitalen schüren, sondern danach fragen, wie wir den digitalen Wandel gestalten können. Das gilt auch für Max Tegmark, dem mit Leben 3.0 über eine sich zur Lebensform aufschwingende künstliche Intelligenz ein aufrüttelndes Buch gelungen ist. Oder die Weinershmiths, die in Bald! fragen, welche Technologien wirklich revolutionär sind (im Gegensatz zu denen, die wir gemeinhin für revolutionär halten).  

Allesamt wichtige, ordentliche, nötige Bücher. Wichtiger aber noch erscheinen uns Titel, die sich um eine Erklärung bemühen, was da in unseren Gesellschaften gerade passiert. Die sich von den Daten lösen und das Soziale in den Mittelpunkt rücken: Andreas Reckwitz mit seiner Theorie der Singularitäten und Armin Nassehi mit dem Ringen, die Komplexität der Gesellschaft begreifbar zu machen. Eindringlich warnt Nassehi vor Lösungsansätzen - gerade aus den Reihen der Postwachstumsfraktion -, die davon ausgehen, dass es einen Punkt gibt, an dem sich der Hebel der Gesellschaftsveränderung ansetzen lässt. Komplexität, so die wichtige Botschaft, verlangt, Gesellschaft neu zu denken.


Shifts im Denken


Dieses "neu denken" war dann die Spur, auf die unsere Debatte einschwenkte. In den Blick rückte ein Muster, eine neue Denkfigur: das Durchbrechen von Denkmustern, von Gewohnheiten, von Routinen, auch jener Verzerrungen unserer Wahrnehmung, denen wir nur entkommen können, wenn wir sie uns bewusst machen. Durch Lernen also.  

Solche Gedankenkracher, die Shifts im Denken provozieren, gab es auch im Jahr 2017.  

Zum Beispiel François Jullien, der die Frage nach kultureller Identität ganz anders stellt als gewohnt. Eben nicht in Abgrenzung, in der Differenz, sondern als Konzept des Abstands. Differenz fragt: Was trennt uns? Abstand fragt: Wie weit liegen wir auseinander? Der Abstand erzeugt eine Spannung, eröffnet ein Zwischen, "in dem ein neues Gemeinsames entsteht". Eine Identität, die sich aus einem fruchtbaren Dialog immer neu nährt, statt in Abgrenzung zu erstarren. Wunderbar. Und nötig in einer Zeit, da das kulturell so vielfältige Europa um seine Zukunft ringt! Ein Megathema 2018, zweifellos.  

Zum Beispiel Bernhard von Mutius, der nicht zum tausendsten Mal die Worthülse Disruption paraphrasiert, sondern neu fragt: Wie wäre es, wenn wir nicht out of the box, sondern ohne Box zu denken übten? Wenn wir ein Denken ohne Geländer, jenseits des Vertrauten, zur Regel machten. Und als Ressource nutzten? Das ist Disruption überzeugend neu gedacht.  

Zum Beispiel Edward D. Hess und Katherine Ludwig, die auf die Sorge, dass uns die Maschinen in der Zukunft die Arbeit wegnehmen, nicht einfach antworten: Wir sind kreativ und sozial, und darin Maschinen ultimativ überlegen. Sondern die bescheiden fragen: Sind wir das wirklich? Oder ist das bloß eine Phrase? Vielleicht sind wir gar nicht so gut in Empathie und Kooperation und nicht so überlegen kreativ. Sondern gefangen in unseren Biases und überschießenden Emotionen. Die Chance liegt darin, bescheiden uns selbst zu erkunden und neu zu fragen: Wie gut sind wir auf diesem so menschlichen Feld wirklich? Und wo sollten wir uns weiterentwickeln - auch, um in einer Maschinenwelt zu bestehen.  

Zum Beispiel Iris Bohnet, die dem alten Gleichstellungsthema neue Aspekte abgewinnt. Indem sie sagt: Nicht die Frauen sollen sich reinhängen, sollen Willen zum Erfolg beweisen. Sondern wir müssen die Regeln ändern. Die Regeln, die so designt sind, dass sie es Frauen (ebenso wie Menschen anderer Hautfarbe) so schwer machen, mitzuhalten. Verhaltensdesign ist ein revolutionärer Ansatz zur Gestaltung von Gesellschaft - weit über das Thema Gleichberechtigung hinaus.  

Die Digitalisierungsbücher haben wir trotzdem nicht durch den Rost fallen lassen, sondern empfehlen sie als Bündel, das wichtige Aspekte des Themas einkreist. Und so ist die Liste insgesamt zu lesen: mehr als ein Strauß mit Themenbündeln denn als scheinbar exakt gerankte Liste. Deshalb haben wir auch die Banderölchen mit den Platzierungen 1 bis 11 weggelassen. Ach ja, das bleibt: die Elferliste. Statt der üblichen Top Ten.


Was fehlt. Oder auch nicht.


Ein Buch aber wird man auch in den Büchern des Jahres vergebens suchen. Es ist das am meisten gehypte Buch des Jahres, dann auch noch geadelt mit dem Deutschen Wirtschaftsbuchpreis. Die Rede ist von Yuval Noah Hararis Homo Deus. Ein Buch, das dem Trend entgegenkommt, die Welt zwischen zwei Buchdeckeln neu zu erklären. Als kurze Geschichte neu zu erzählen. Das kommt an. Es gilt aber aufzupassen, wenn dabei komplexe, komplizierte und schwierige Zusammenhänge in allzu gefälliger Weise zusammendekliniert werden. So wie in Homo Deus.  

Ein frohes und besinnliches Weihnachtsfest wünscht
eurer changeX-Team
Anja und Winfried  

Und hier geht es zur Jahresliste: Bücher des Jahres 2017


Zitate


"Anstatt die Verschiedenheit der Kulturen als Differenz zu beschreiben, sollten wir uns ihr mit Hilfe des Konzepts des Abstands nähern, wir sollten sie nicht im Sinne von Identität, sondern im Sinn einer Ressource … verstehen." François Jullien: Es gibt keine kulturelle Identität

"Differenz fragt: Was trennt uns? Abstand fragt: Wie weit liegen wir auseinander?" Kurzrezension von François Jullien: Es gibt keine kulturelle Identität

 

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