Wir sind die Beobachter

Selbstorganisation - eine Erkundung | 23 Karl Schattenhofer
Interview: Winfried Kretschmer

Selbstorganisation ist ein schillernder Begriff, und genau besehen ist keineswegs klar, was damit eigentlich gemeint ist. Unterschiedliche Sichtweisen finden sich sowohl beim Verständnis von Selbstorganisation wie bei Konzepten zu ihrer praktischen Umsetzung. Zeit, das Feld abzustecken. Und Menschen zu fragen, die in und mit Selbstorganisation arbeiten. Eine Erkundung. Hier im Interview: Karl Schattenhofer, Supervisor, Coach und Trainer in München.

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Was ist und was soll Selbstorganisation? Und was braucht es, um sie möglich zu machen? Diese und ein paar weitere Fragen an Karl Schattenhofer. 

Der Diplompsychologe Karl Schattenhofer arbeitet selbständig als Supervisor, Coach, Trainer, Organisationsberater und Autor in München. Er hat sich bereits Ende der 1980er-Jahre mit Selbstorganisation beschäftigt und diesem Thema seine Promotionsschrift gewidmet. Die Arbeit ist 1992 unter dem Titel Selbstorganisation und Gruppe im Westdeutschen Verlag erschienen.(*) Sie befasst sich mit Entwicklungs- und Steuerungsprozessen in selbstorganisierten Gruppen und Unternehmen der damals gesellschaftlich aktiven Selbsthilfebewegung. Unser Interview schlägt damit einen 30 Jahre umspannenden Bogen von Selbstorganisation im Kontext einer sozialen Bewegung zur heutigen Praxis in Unternehmen, Organisationen und Teams. Mit dem Teamkontext beschäftigt sich die jüngste Buchveröffentlichung von Karl Schattenhofer: Zusammen mit seiner Co-Autorin Babette Julia Brinkmann hat er 2022 das Buch Erfolgreiche Teams in der Selbstorganisation publiziert. Das Interview haben wir telefonisch geführt; es folgt dem Interviewleitfaden des Erkundungsprojekts, der dem Interviewpartner vorlag.
 

Herr Schattenhofer, beginnen wir mit der ersten Frage: Was muss man wissen, um Selbstorganisation zu verstehen? 

Ich würde die ersten beiden Fragen gerne umdrehen und damit beginnen, was ich unter Selbstorganisation verstehe.
 

Ja, bitte. Nur zu! 

Selbstorganisation ist ein schillernder Begriff. Er kommt aus der Systemtheorie und zielt auf die Ordnungsbildungsprozesse innerhalb von Systemen verschiedenster Art. Also: Was entsteht dort, ohne dass es unmittelbar - also nicht kausal - von der Außenwelt beeinflusst ist? Ein Bild, das in den frühen Jahren schon verwendet wurde, ist das menschliche Gehirn. Erste neurophysiologische Untersuchungen zeigten, dass im Gehirn ganz viel passiert, ohne dass es auf einen äußeren Reiz zurückzuführen wäre. So verstehe ich auch Selbstorganisation: Selbstorganisation ist nichts, was den Systemen zu eigen ist. Sondern Selbstorganisation ist eine Beobachterperspektive, unter der man Systeme - soziale, technische, psychische Systeme - anschauen kann. Was an eigengesetzlichen, ordnungsbildenden Prozessen passiert dort? Es geht also um eine Ablösung von der Kausalität, von der Verursachtheit von Prozessen in Systemen hin zur Eigengesetzlichkeit, zum Eigenleben dieser Systeme. Selbstorganisation ist also eine Erforschungs- und Untersuchungsperspektive - sie steht im Gegensatz zu der traditionellen Perspektive, Systeme als von außen determiniert und gesteuert anzusehen. Wobei sich dann in der Praxis erweisen muss, ob das eine sinnvolle Perspektive ist. Entwicklungen hin zu dieser Perspektive gab es schon das ganze letzte Jahrhundert; sie sind dann in der interdisziplinären Systemtheorie zusammengefasst worden. 

Das Zweite ist, dass man genau schauen muss, was sich da selber organisiert oder wer. Es gilt also, verschiedene Arten von Systemen zu unterscheiden. Bei einem psychischen System schaut man auf andere Dinge, wenn man Selbstorganisation sehen will, als bei sozialen Systemen wie Teams, Organisationen, Gesellschaften. All diese Systeme kann man unter dem Aspekt der Selbstorganisation betrachten, muss dabei aber ganz unterschiedliche Formen der Ordnungsbildung unterscheiden. Diese Unterscheidung wird aber oft nicht getroffen. 

Dies sind die beiden Dinge, die man wissen muss, um Selbstorganisation zu verstehen, Ihre zweite Frage: Selbstorganisation ist eben kein Ding, sondern eine Beobachterperspektive. Und die Frage ist: Worauf schaue ich da? Zugleich gibt es ganz unterschiedliche Arten von Systemen, deren Selbstorganisation nur ganz begrenzt vergleichbar ist. In der Anfangszeit war ein Analogieschluss verbreitet, indem biologische und chemische Selbstorganisationsprozesse ziemlich eins zu eins ins Soziale übertragen wurden, bei den Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela zum Beispiel. Das war nicht immer günstig. Erst mit Luhmanns Systemtheorie hat sich dann so etwas wie eine sozialwissenschaftliche Perspektive auf Selbstorganisation herausgebildet, wobei aber manche Begriffe wie Autopoiese - als der Prozess der Selbsterschaffung und -erhaltung eines Systems - nicht sehr erhellend sind, sondern die Sache eher unverständlich machen. Ich spreche lieber von Autonomie und Eigengesetzlichkeit.
 

Sie haben es gerade schon angesprochen und auch in Ihrer Dissertation aus dem Jahr 1992 beleuchtet: Es gibt unterschiedliche Kontexte, in denen Selbstorganisation thematisiert wird. Welche sind das, und mit welchen unterschiedlichen Bedeutungen? 

Ich finde, der Begriff wird in den letzten Jahren etwas inflationär verwendet - zudem nicht als Beobachterperspektive, sondern in einer sehr alltagssprachlichen Bedeutung: Selbstorganisation heißt, wenn etwas selber organisiert wird. So gibt es zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema "Wie organisiere ich mich selbst?" - mein Zeitmanagement, mein Selbstmanagement, mein Gesundheitsmanagement und und und. Zugleich ist der Begriff in Organisationen verbreitet, und im Rahmen von New Work wird viel von selbstorganisierten Teams gesprochen. Doch die einschlägigen Veröffentlichungen unterscheiden interessanterweise oft gar nicht zwischen Organisation und Team. Vielfach werden beide Begriffe synonym gesetzt, als gebe es keinen Unterschied. Das halte ich aber für einen Trugschluss, weil ein Team ein hybrides Sozialsystem ist, bei dem es um persönliche Beziehungen und um organisationale Einbindung geht. Bei einer Organisation hingegen geht es in erster Linie um den Organisationszweck und nicht um persönliche Beziehungen. Dadurch entsteht Verwirrung, weil das Team nicht als eigener Sozialkörper wahrgenommen wird, sondern als etwas, das in Organisationen stattfindet. Man muss sich ausführlicher damit beschäftigen, was Selbstorganisation im Team eigentlich heißt. 

Schließlich würde ich noch eine begriffliche Unterscheidung setzen: Georg Zepke bezieht sich in seinem Buch Selbstorganisation konkret! auf Elisabeth Göbel, die zwischen endogener und autonomer Selbstorganisation unterscheidet. Endogen ist die Selbstorganisation, die sowieso passiert, also das Konzept, das ich eben kurz beschrieben habe. Von autonom spricht man, wenn die Beteiligten bewusst Einfluss nehmen wollen - da würde ich allerdings nicht von autonomer Selbstorganisation sprechen, sondern von Selbststeuerung: Ein Team oder eine Organisation versucht, sich selber zu steuern. Oder auf individueller Ebene: Ich versuche, auf mich selbst Einfluss zu nehmen. Das ist ein großer Unterschied. Kurz gesagt, finde ich die Unterscheidung zwischen Selbstorganisation und Selbststeuerung einfach plastischer. Denn Selbstorganisation passiert überall. Das ist dieser Ordnungsprozess, den man versuchen kann zu verstehen, aber wahrscheinlich nie ganz versteht. Selbststeuerung hingegen meint: Wie nehme ich Einfluss? Wie kann ich mehr oder weniger bewusst Einfluss nehmen auf das, was da passiert? Wie kann ich das zu steuern versuchen? Das sind die Kontexte, die mich interessieren: Individuum, Gruppe und Organisation.
 

Ist der Begriff Selbstorganisation passend und hilfreich? 

Begriffe verlieren ihre Bedeutung, wenn sie grenzenlos werden und keine schärferen Unterscheidungen mehr zulassen. Das ist die Gefahr bei dem eben angesprochenen inflationären Gebrauch des Begriffs Selbstorganisation. Das hat sich jedoch verändert. Zum Zeitpunkt meiner ersten Untersuchung, das war zu Beginn der 1990er-Jahre, war der Begriff Selbstorganisation auch ein politisches Programm. In den Siebziger- und Achtzigerjahren hatte sich ausgehend von der Studentenbewegung eine breite Selbsthilfebewegung entwickelt. Zahlreiche selbstverwaltete Betriebe, Selbsthilfeinitiativen sowie viele kulturelle und politische Initiativen hatten sich gegründet, die sich in Abgrenzung zu den fremdbestimmten hierarchischen Systemen selber steuerten - heute würde man sagen: die sich selber organisierten. Auch damals gab es schon die Versuchung, Selbstorganisation als Wert oder als politisches Ziel zu verwenden. Also eher ideologisch in Abgrenzung zu dem systemtheoretischen Begriff, der einfach nur beschreibt, was in einem System passiert. Das macht auch die Attraktivität dieses Begriffes aus, dass dabei immer eine Grundeinstellung mitschwingt, die besagt: "Selbstorganisation ist immer gut. Weil sie einfach besser ist als Fremdorganisation. Selbermachen ist irgendwie besser." Hier muss man jedoch aufpassen, denn ein selbstorganisiertes System kann genauso abgeschlossen, unzugänglich, meinetwegen auch "böse" sein. Es ist nicht, nur weil man es unter dem Gesichtspunkt Selbstorganisation beschreibt, schon etwas, das an sich schon wünschenswert wäre. Ein wenig anders ist das bei der Selbststeuerung: Je mehr Menschen beteiligt sind und auf das, was sie tun, Einfluss nehmen können, desto besser ist es.
 

Und wofür wäre Selbstorganisation, wäre Selbststeuerung eine Lösung? 

In den Teams, die Babette Brinkmann und ich für unser Buch untersucht haben, verrichten alle Mitarbeitenden nicht nur die Arbeit, die ihnen aufgegeben wird, etwa ein IT-Programm zu entwickeln. Sondern sie sind auch gefordert, die Art, wie sie das machen, mitzugestalten. Also das Wie der Arbeit: wie sie Rollen, Aufgaben, Führung verteilen und so den Kontext, in dem sie arbeiten, gestalten. Das tun sie, weil die einzelne Führungskraft das nicht mehr schafft, weil sie zu wenig durchblickt. 

Diese Lösung passt für alle Aufgaben, die nicht-repetitiv, die innovativ sind, wo man also etwas erfinden oder sich etwas ausdenken muss. Für wenig bis nicht standardisierte Aufgaben ist Selbststeuerung - oder synonym Selbstorganisation - eine notwendige oder zumindest eine mögliche Lösung. Sie ist fast unerlässlich, weil die Taylorisierung, also der Ansatz, Arbeit in kleine Stücke zu zerteilen und die Ausführung von oben nach unten durchzuplanen, an Grenzen stößt. Nicht umsonst ist dieser neue Trend zur Selbstorganisation in der IT-Branche entstanden, weil die traditionelle Art zu arbeiten bei der Programmentwicklung einfach nicht mehr zielführend war. Für diese Art von Arbeit ist Selbstorganisation eine Lösung. 

Man kann an Teams aber auch gut sehen, wo Selbstorganisation keine Lösung ist. Wenn keine Kooperationsnotwendigkeit besteht, wenn man also nicht zusammenarbeiten muss, um das Ergebnis zu erreichen, dann braucht es auch kein Team und keine Selbststeuerung im Team. Denn ein Team, das von vornherein von oben nach unten durchorganisiert ist, wo alle Impulse von einer Führungskraft ausgehen, wo kein Gestaltungsspielraum besteht, ist schlichtweg kein Team. Jedes Team muss einen Teil an Selbststeuerung haben, damit es überhaupt ein Team ist. Das ist der Punkt, wo Teamarbeit, Selbstorganisation, Selbststeuerung sehr nah beieinander liegen.
 

Was ist das Gegenteil von Selbstorganisation? 

Fremdsteuerung. Also alles wird von außen oder von oben festgelegt. Alles ist geplant. Heteronomie - autonom versus heteronom ist der Gegensatz. Hier muss man jedoch wieder aufpassen, denn oft wird Selbststeuerung respektive Selbstorganisation als Gegensatz zu Führung betrachtet. Man geht davon aus, dass hierarchische Führung und Selbststeuerung nicht zusammenpassen. Aber das ist ein Irrtum. Selbststeuerung ist nur möglich, wenn es auch Führung gibt. Wie die aussieht und wer dann führt, ist eine andere Frage. Aber es muss immer Leute geben, die Dinge koordinieren, Pläne entwerfen et cetera. Auch im Rahmen von Selbststeuerung muss Führung ausgeübt werden. 

Oft ist es auch Führung, die Selbststeuerung initiiert. Sie eröffnet einen Rahmen, in dem Selbststeuerung passieren kann: Indem sie eine Aufgabe vorgibt, Zeit zur Verfügung stellt und ein gewisses Know-how - aber machen müssen es die Leute selbst und sie müssen eine Entscheidung treffen. Und das ist das komplexe - oder paradoxe - Verhältnis zwischen Selbststeuerung und Führung: Um sich selbst steuern zu können, muss einer Gruppe ein Raum eröffnet werden, er darf aber nicht gefüllt werden. Da entsteht ein schillerndes Verhältnis. Es oszilliert immer ein bisschen hin und her, und das ist oft nicht leicht zu begreifen. Es braucht Zeit, zu erleben und zu reflektieren, dass Führung und Selbststeuerung zusammenhängen.
 

Und hat Selbstorganisation Grenzen? 

Jede Selbstorganisation oder Selbststeuerung ist begrenzt. Die Begrenzung schafft überhaupt erst die Möglichkeit zur Selbststeuerung. Diese Begrenzung kann enger oder weiter sein, es müssen aber bestimmte Anforderungen erfüllt sein: Transparenz, Berechenbarkeit - und in diesen Grenzen finden Selbststeuerung und Selbstorganisation statt. 

Die andere Grenze ist natürlich, dass sich wie gesagt viele Aufgaben für Teamarbeit, Selbststeuerung und Selbstorganisation überhaupt nicht eignen, weil sie seriell sind. Menschen arbeiten dann zusammen, wenn sie die anderen brauchen. Wenn man die anderen nicht braucht, braucht es keine Zusammenarbeit.
 

Die Frage umgedreht: Werden Selbstorganisation Grenzen gesetzt? Gibt es - in der Gesellschaft, in Unternehmen und anderen Organisationen - Barrieren, Hemmnisse, Restriktionen, die Selbstorganisation blockieren oder einschränken? 

Ja, da gibt es viele. Wenn wir bei unseren Teams bleiben, dann ist eine Begrenzung die Führungskraft, die zwar sagt, "Jetzt organisiert euch selber!", sich dann aber abwendet, sich nicht weiter dafür interessiert und nicht mehr als Gegenüber zur Verfügung steht. Das ist eine Grenze: ein Laissez-Faire-Führungsstil, der Teams verwildern oder langsam zerfallen lässt. 

Auf der anderen Seite gibt es natürlich Führungskräfte, die sich nicht raushalten können. Die sich doch wieder einmischen. Die dann, wenn zum ersten Mal die Frage auftaucht "Wie sollen wir das machen?" gleich bei der Hand sind und eingreifen. Wenn die Führungskraft dann sagt, "Gut, ich mache das mal schnell", dann ist Schluss mit der Selbststeuerung. Dann lernen es die Leute nie. 

Dahinter steht eine grundsätzliche Einsicht, die eigentlich mehr an den Anfang gehört: Individuelle und soziale Kompetenz wird oft gleichgesetzt. Wenn jemand kommunikativ ist, strategisch-inhaltlich denkt und in der Lage ist, sich selber zu steuern, dann gehen viele selbstverständlich davon aus, dass sich diese Person auch im Team bewährt. Dieser Schluss ist aber nicht zulässig. Auf der sozialen Ebene, im Team, ist es natürlich gut, wenn solche individuellen Kompetenzen vorhanden sind und trainiert werden - aber das heißt nicht, dass lauter kompetente Leute von vornherein gut kooperieren. Jedes Team muss einen eigenen Lernprozess durchleben. Es muss sich soziale Kompetenzen erarbeiten. Die Lernprozesse auf individueller und auf sozialer Ebene sind nicht durcheinander ersetzbar. Das ist ganz wichtig. Jedes Team fängt wieder von vorne an, ganz egal, wie kompetent die Leute sind, die dem Team angehören. Man muss sich kennenlernen, man muss sich einschätzen, man muss Vertrauen aufbauen - und da kann man nicht auf individuelle Erfahrungen zurückgreifen, sondern nur auf die Erfahrungen, die man miteinander macht.
 

Können Menschen Selbstorganisation? 

Viel mehr als man denkt. Ich glaube, dass Menschen auch ganz komplexe Dinge selber organisieren können. Es gibt viele Beispiele, wo die Beteiligten selbst ganz komplexe Antworten auf plötzlich auftauchende Probleme gefunden haben. Also nicht von oben gesteuert, sondern von den Mitarbeitenden ausgehend. Das ist ein Zeichen, dass Selbstorganisation unterschätzt wird. Auch in Unternehmen sind die Leute viel zu stark eingebunden, kontrolliert und bürokratisiert, um Eigeninitiative entwickeln zu können. Das Potenzial von Selbstorganisation wird nicht ausgeschöpft. Diese ganzen Qualitätssicherungsroutinen, Checklisten, Zeugnisse et cetera - das ist Gift für selbstorganisiertes Arbeiten.
 

Gewinnt Selbstorganisation an Bedeutung? Und falls ja, woran lässt sich dieser Bedeutungszuwachs festmachen? 

Sicher stellt sich die Frage, ob das nicht wieder eine Sau ist, die durchs Dorf getrieben wird - eine Managementmethode. Aber ich denke schon, dass die Art der Arbeit, die mehr Kooperation zwischen unterschiedlichen Disziplinen erfordert und es notwendig macht, dass die Leute eng zusammenarbeiten, etwas qualitativ Neues ist. Das hat sich über mehrere Jahrzehnte hin entwickelt. Und das ist der Grund, weswegen das Verständnis von Selbststeuerung und Selbstorganisation - also: Wie können Teams zusammenarbeiten und wie organisiert man das? - eine viel größere Bedeutung bekommen hat. 

Meine ursprüngliche Untersuchung, die ich am Beginn der 1990er-Jahre gemacht habe, hat sich mit selbstorganisierten oder selbstinitiierten Gruppen beschäftigt, die nicht oder nur sehr locker in Organisationen eingebunden waren: Selbsthilfegruppen und selbstverwaltete Unternehmen. Die hatten es ganz schwer, sich zu organisieren, weil Selbstorganisation Teil ihrer Ideologie war und ihre Vorstellung von Organisation geprägt hat. Sprich: Wir machen alles selber, wir sind alle gleich, wir haben alle die gleichen Rechte, und dieses Gleichheitsprinzip darf niemand antasten. Deshalb gab es immer auch Schwierigkeiten, eine Führungsrolle zu definieren und eine Person zu bestimmen, die Führungsaufgaben übernimmt, also eine Versammlung moderiert oder sich um bestimmte Aufgaben kümmert. Bei den Akteuren damals war wenig Kontextbewusstsein vorhanden, dass sie dieses soziale System, das sie aufgebaut haben, auch steuern müssen. 

Bei den Gruppen, die wir jetzt in den 2020er-Jahren untersucht haben, ist das anders. Ihnen ist bewusst: Wenn wir zusammenarbeiten, dann müssen wir uns auch darum kümmern, auf welche Weise wir das machen. Es ist mehr Kontextbewusstsein entstanden, das besagt: Ein Team läuft nicht automatisch von alleine, nur weil alle gleichberechtigt und begeistert sind. Sondern wir müssen uns darum kümmern, wir müssen Rollen verteilen, es muss geführt werden. Das Verständnis von Organisation ist leichtgängiger und bewusster geworden. Da hat sich schon etwas getan, und darum meine ich, Selbstorganisation hat an Bedeutung gewonnen.
 

Sollte es mehr Selbstorganisation geben? 

Wenn die Frage wäre, ob es mehr Selbststeuerung geben sollte, dann würde ich das befürworten. Es gibt schlimme Beispiele, wie Teams an ihrer Selbstorganisation gescheitert sind, das Reaktorunglück in Tschernobyl etwa. Dort hat das Team, weil es sich für außerordentlich erfahren und kompetent gehalten hat, Anweisungen ignoriert und hat alle Kontrollmechanismen, die in der Technik eingebaut waren, ausgeschaltet. Sie haben sich quasi selbst emanzipiert von ihrer Umwelt und diesen Reaktor an die Wand gefahren. 

Das zeigt, dass mehr Selbstorganisation nicht immer besser ist. Und sich die Frage nicht so einfach beantworten lässt. Systeme können aus dem Ruder laufen und es braucht Kontrollmechanismen. Eine gute Selbststeuerung fußt darauf, dass im Team gut reflektiert wird, dass es keine Tabus gibt, dass man abweichende Meinungen äußern und Kritik üben kann. Selbststeuerung erfordert, dass über Themen geredet werden kann, die tabuisiert sind oder üblicherweise nur in der Kommunikation zwischen Führungskraft und Mitarbeiter angesprochen werden. Entscheidend ist, dass Kritik in die kollegiale Kommunikation kommt. Das aber ist sehr voraussetzungsvoll. Und ist in den meisten Teams nur begrenzt der Fall. Darum ist Selbststeuerung in Teams auch begrenzt. 

Ein Beispiel: Einem Mitarbeitenden zu sagen, er leiste zu wenig, ist normalerweise Sache der Führungskraft. Teammitglieder aber wollen das nicht. Sie sagen: "Das mache ich nicht, das zerstört unseren Zusammenhalt, das ist mir unangenehm." Als wir in den selbstgesteuerten Teams gefragt haben, worüber sie reden und worüber nicht, dann war die Antwort zunächst: "Wir können über alles reden, Privates, Persönliches, alles." Fragt man dann genauer nach, zeigt sich, dass kritische Inhalte draußenbleiben. Sprich: Wir reden über alles, aber kritisieren tun wir uns nicht! Das zeigt, dass da eine Grenze ist. Und diese Grenze muss man mit anderen Mitteln überwinden: Da muss Hilfe von außen kommen.
 

Kann man das so interpretieren, dass Selbststeuerung das anspruchsvollere Konzept ist, das von den Beteiligten eine erhöhte Reflexionsfähigkeit und ein gewisses Systemverständnis erfordert, während Selbstorganisation ein eher unreflektiertes Tun, eine Haltung des "Wir organisieren uns selbst" meint? 

Nein, das würde ich nicht sagen. Selbstorganisation ist das, worauf ich schaue, wenn ich ein System anschaue. Also: Was für Regeln gibt es dort? Um es plastisch zu machen: Wenn ich in ein Team komme, um zu sehen, welche Ordnung die Mitglieder dort ausgebildet haben, dann frage ich die Beteiligten: "Welche Normen gelten bei euch? Was darf man, was darf man nicht?" Dann zählen sie auf, was sie dürfen und wo Verbote bestehen. Diese Ordnung, diese Normen haben sie nicht vereinbart. Sie sind einfach entstanden. Diese Ordnung, die entstanden ist, bezeichne ich als selbstorganisierenden Prozess. Die Mitglieder interagieren miteinander und entwickeln ein Wissen darüber, was man darf und was nicht - ohne dass irgendein Wort darüber verloren wurde. Es bilden sich Rollen aus, die einen haben mehr zu sagen, die anderen sind stiller. Aufgaben werden übernommen - diese ganze Ordnung bildet sich einfach aus. Was in diesem Prozess als Ergebnis der Rückkopplung entsteht, das ist die Selbstorganisation - und die ist weder gut noch schlecht. Sie ist einfach da, aber ich muss sie wahrnehmen. Ich muss diese ungeschriebenen Normen in der Gruppe zur Kenntnis nehmen - und nicht nur das, was auf der Tafel steht. Viele Teams haben ja genau aufgeschrieben, was man darf und was man nicht darf. Auf der offiziellen Regelseite steht dann, was vereinbart ist, etwa: "Wir sagen uns immer klar die Meinung". Fragt man dann aber nach Normen, dann kommt so etwas wie: "Kritisieren tun wir uns nicht!". 

Genau das ist der Unterschied zwischen der Ordnung, die entsteht, und der Ordnung, die man zu gestalten versucht. Selbststeuerung ist gewissermaßen der Versuch, die Ordnung zu beeinflussen, indem man die Ordnung untersucht, die entstanden ist. Und das ist anspruchsvoll. Selbstorganisation ist nichts, was man tut, sondern was man versucht zu entdecken. Selbststeuerung, das versucht man zu tun.
 

Drei kurze Fragen habe ich noch: Wir hatten die Hemmnisse vorhin schon kurz angesprochen. Welches sind die größten Hemmnisse für mehr Selbstorganisation? 

Hemmnisse wurzeln vor allem in der oben schon angesprochenen paradoxen Anforderung an Führungskräfte, den Rahmen für Selbstorganisation zu eröffnen und aufrechtzuerhalten, ihn aber nicht zu füllen, wenn die Situation unberechenbar und unsicher wird. Dass Führungskräfte sich zu schnell einmischen oder sich zu sehr raushalten, ist der größte Blocker. 

Ein weiteres Hemmnis besteht darin, dass den Teams auf der einen Seite zwar komplexe Aufgaben übergeben werden, ihnen auf der anderen Seite aber zu wenig Ressourcen und zu wenig Bestimmungsraum zur Verfügung steht, um sie zu erfüllen. Dass also die Kompetenzen nicht mit übergeben werden. Das ist auch ein Klassiker.
 

Welche Bedeutung hat Selbstorganisation ganz konkret für Sie und Ihre Arbeit? 

Ich habe bei meiner Dissertation und der weiteren Beschäftigung mit dem Thema Selbstorganisation immer wieder in dieser Szene gearbeitet. Also nicht in Großbetrieben, sondern in Initiativen wie Dritte-Welt-Läden, Kooperativen oder Flüchtlingsinitiativen. Also in Organisationen, in denen Menschen versucht haben, ohne vorgegebene Hierarchien und Strukturen zusammenzuarbeiten. Das fand ich eine sehr interessante Arbeit. Es gibt eine Riesenszene, die öffentlich unter diesem Label Selbstorganisation gar nicht in Erscheinung tritt, wo aber ganz viel in dieser Richtung passiert. Für viele Menschen ist es Alltag, neben ihrer Arbeit in solchen Initiativen mitzuarbeiten - dies wird aber viel zu wenig wahrgenommen. Wenn aus den Betrieben zu hören ist, die Menschen könnten Selbstorganisation nicht und müssten dies erst noch lernen, dann kann man mit guten Gründen erwidern: Fragen Sie doch mal, was Ihre Mitarbeitenden in ihrer Freizeit alles tun, was die dort können und auf die Beine stellen! Jede Freiwillige Feuerwehr ist ein schlagendes Beispiel!
 

Und welche Frage stellen Sie sich selbst zur Selbstorganisation? 

Selbstorganisation ist für mich nichts, was abgeschlossen wäre. Und meine Hauptfrage hängt mit meiner Beratertätigkeit zusammen: Wie kann man in Gruppen kritische Inhalte, die für die Selbststeuerung notwendig sind, thematisieren? Also: Wie kann eine Gruppe lernen, Selbststeuerung zu praktizieren? Und wie kann man sie dabei unterstützen? Was brauchen sie dafür? Und das ist für jedes Team, für jede Gruppe, für jede Organisation etwas ganz Spezielles. Denn Selbstorganisation folgt einer gewissen Eigengesetzlichkeit: Sie führt zu einer ganz speziellen Kultur jeder Organisation, jedes Teams - und wie die aussieht, muss man jedes Mal neu herausfinden. Das lässt sich nur ganz begrenzt standardisieren. Das interessiert mich, darum mache ich’s, und deswegen macht es mir Spaß.
 

(*) Karl Schattenhofer: Selbstorganisation und Gruppe. Entwicklungs- und Steuerungsprozesse in Gruppen. Opladen 1992: Westdeutscher Verlag (= Dissertation Universität München 1993)
 

Das Interview haben wir telefonisch geführt. Es basiert auf einem Interviewleitfaden mit 15 Fragen, ergänzt durch einige gezielte Nachfragen.
 


Zitate


"Selbstorganisation ist nichts, was den Systemen zu eigen ist. Sondern Selbstorganisation ist eine Beobachterperspektive, unter der man Systeme - soziale, technische, psychische Systeme - anschauen kann." Karl Schattenhofer: Wir sind die Beobachter

"Selbstorganisation ist nichts, was den Systemen zu eigen ist. Selbstorganisation ist kein Ding, sondern eine Beobachterperspektive." Karl Schattenhofer: Wir sind die Beobachter

"Selbstorganisation ist eine Erforschungs- und Untersuchungsperspektive - sie steht im Gegensatz zu der traditionellen Perspektive, Systeme als von außen determiniert und gesteuert anzusehen." Karl Schattenhofer: Wir sind die Beobachter

"Selbstorganisation ... das ist dieser Ordnungsprozess, den man versuchen kann zu verstehen, aber wahrscheinlich nie ganz versteht." Karl Schattenhofer: Wir sind die Beobachter

"Wenn keine Kooperationsnotwendigkeit besteht, wenn man also nicht zusammenarbeiten muss, um das Ergebnis zu erreichen, dann braucht es auch kein Team und keine Selbststeuerung im Team." Karl Schattenhofer: Wir sind die Beobachter

"Auch im Rahmen von Selbststeuerung muss Führung ausgeübt werden." Karl Schattenhofer: Wir sind die Beobachter

"Das ist das komplexe - oder paradoxe - Verhältnis zwischen Selbststeuerung und Führung: Um sich selbst steuern zu können, muss einer Gruppe ein Raum eröffnet werden, er darf aber nicht gefüllt werden." Karl Schattenhofer: Wir sind die Beobachter

"Menschen arbeiten dann zusammen, wenn sie die anderen brauchen. Wenn man die anderen nicht braucht, braucht es keine Zusammenarbeit." Karl Schattenhofer: Wir sind die Beobachter

"Das Potenzial von Selbstorganisation wird nicht ausgeschöpft." Karl Schattenhofer: Wir sind die Beobachter

"Eine gute Selbststeuerung fußt darauf, dass im Team gut reflektiert wird, dass es keine Tabus gibt, dass man abweichende Meinungen äußern und Kritik üben kann." Karl Schattenhofer: Wir sind die Beobachter

"Selbstorganisation ist das, worauf ich schaue, wenn ich ein System anschaue." Karl Schattenhofer: Wir sind die Beobachter

"Selbststeuerung ist gewissermaßen der Versuch, die Ordnung zu beeinflussen, indem man die Ordnung untersucht, die entstanden ist." Karl Schattenhofer: Wir sind die Beobachter

"Selbstorganisation ist nichts, was man tut, sondern was man versucht zu entdecken. Selbststeuerung, das versucht man zu tun." Karl Schattenhofer: Wir sind die Beobachter

 

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Quellenangaben

Zum Buch

: Erfolgreiche Teams in der Selbstorganisation. Sechs Aufgaben, damit Teams arbeitsfähig werden - und welche Rolle Führung dabei spielt. Franz Vahlen Verlag, München 2022, 224 Seiten, 29.80 Euro (D), ISBN 978-3-800666911

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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