The Next Big Thing

Altersvorsorge bedeutet in Zukunft wieder Investition in Beziehungen
Essay: Detlef Gürtler

Vor der industriellen Revolution waren Dorf und Familie für die Altersvorsorge zuständig. Als deren Sicherungsnetze zerfielen, übernahmen ab Ende des 19. Jahrhunderts Staat und Sozialsystem ihre Aufgabe. In den kommenden Jahrzehnten wird aber auch dieses große Sicherungsnetz zerfallen. Die neuen Netze werden in Zukunft wieder von Dorf und Familie gespannt. Dorf? Familie? Ja - aber ganz anders.

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Die älteste Methode der Vermögensbildung überhaupt ist älter als der Kapitalismus, älter als die Börse, älter als die Bank, älter als das Geld, älter als die Stadt und sogar älter als das Eigentum - sie ist so alt wie die Familie. Denn die älteste Methode der Vermögensbildung ist die Gründung einer Familie. Familie ist Altersvorsorge: Die Arbeitskraft der eigenen Kinder soll (neben der Investition in Sachwerte) dazu beitragen, den Lebensabend der Eltern zu sichern, und hat das auch seit Jahrtausenden in unzähligen Fällen getan. Und die Familie bildet Vermögen in Form von Wissen - denn nur wenn die Kenntnisse und Erfahrungen der vorigen Generation an die nächste weitergegeben werden, kann sich Humankapital akkumulieren. Isaac Newton sagte von sich, dass er auf den Schultern von Riesen stand; wir alle stehen auf den Schultern von Eltern.


Kinder als Vermögensvernichtung


Im vergangenen Jahrhundert galt, wohl erstmals überhaupt in der Geschichte der Menschheit, die Investition in eigene Kinder eher als Vermögensvernichtung denn als Vermögensbildung. Der Grund dafür waren die in vielen Ländern eingeführten gesetzlichen Rentenversicherungen, die versprachen, das individuelle Lebensrisiko Alter gesamtgesellschaftlich abzusichern. Seinerzeit, Ende des 19. Jahrhunderts, war das eine grandiose soziale Errungenschaft: Die nationale Gemeinschaft ersetzte die lokalen Sicherungsnetze, die sich im Laufe der industriellen Revolution aufzulösen begannen. 

Solange die Staaten halten können, was sie versprechen, nämlich die Alterssicherung für alle Bürger, ist es für jeden Einzelnen finanziell rational, das Erwerbseinkommen zu maximieren und den großen Ausgabeposten "Kind" den anderen zu überlassen. Und genau deswegen kann das Sicherheitsversprechen des 20. Jahrhunderts im 21. Jahrhundert nicht mehr gehalten werden. Die Alterung der Gesellschaft und die niedrigen Geburtenraten führen dazu, dass die angesammelten Renten- und Pensionsansprüche an die Staatskassen der Industriestaaten alle Grenzen der Finanzierbarkeit sprengen werden. Der "Generationenvertrag" einer Rentenversicherung ohne Kapitaldeckung wird ungültig, weil dieser Vertrag einseitig gebrochen wurde - von der älteren Generation, die sich finanzrational weigerte, zur Elterngeneration zu werden.  

Allerdings wird auch die kapitalgedeckte Vorsorge da wenig helfen - ob privat, betrieblich oder staatlich organisiert. Denn just dann, wenn es bei der gesetzlichen Rente massiv zu knirschen beginnt, werden auch die Vorsorgepläne in die Knie gehen, die sich auf angespartes Kapital stützen. Wenn viele Investoren ihre Anlagen verkaufen (weil sie in Rente gehen) und nur wenige kaufbereit sind (weil die jungen und mittleren Jahrgänge zu klein sind), kommt es zwangsläufig zu Kursrutsch und Vermögensvernichtung. Die Kapitalmärkte machen damit auf ihre Weise genau das Gleiche wie die Sozialpolitiker mit ihren Rentenreformen: ein Absenken der Auszahlungen, um die Belastung der noch aktiven Erwerbsbevölkerung erträglich zu halten.  

Eines der wichtigsten Anlageinstrumente für die langfristige Vorsorge wird obendrein schon in den kommenden Jahren dramatisch an Bedeutung verlieren: lang laufende Staatsanleihen. Die Vorstellung, einem Staat für 20, 30 oder gar 100 Jahre Kredit zu gewähren, war am Ende des 20. Jahrhunderts noch weitverbreitet, geradezu eine Selbstverständlichkeit: Die entsprechenden Anleihen galten als mündelsicher, das Finanzregelwerk von Basel II erlaubte Banken sogar, Anleihen von OECD-Staaten ohne jegliche Unterlegung durch Eigenkapital in die Bilanz zu nehmen. Die Verzinsung auf US-amerikanische, deutsche oder schweizerische Staatsanleihen galt als Orientierungswert für den risikolosen Zins, an dem sich andere, mit höherem Risiko behaftete Anlageformen orientierten. Doch der Glaube an die Risikolosigkeit der Anleihen von Industriestaaten hat sich soeben als Illusion erwiesen - Griechenland war der erste OECD-Staat überhaupt, der seinen (privaten) Gläubigern einen Schuldenschnitt zumutete, andere werden folgen. Dem Glauben an die Kalkulierbarkeit des Risikos lang laufender Staatsanleihen steht Ähnliches bevor.


Dorf? Familie?


Wie auch immer man es drehen und wenden mag, im "Age of Less" wird vieles, was uns bislang als langfristig sicher galt, diesen Status verlieren. Wir nähern uns also einer Situation, ganz ähnlich jener am Ende des 19. Jahrhunderts - nur genau umgekehrt. So wie damals Big Government und Big Society jene Sicherungsleistung übernahmen, die Dorf und Familie nicht mehr leisten konnten, werden in Zukunft wieder Dorf und Familie die Sicherungsleistung übernehmen müssen, die Staat und Gesellschaft nicht mehr leisten können.  

Dorf? Familie? Ja - aber anders. Das Global Village ist nicht das Gleiche wie das mittelalterliche Dorf, aber es erfüllt eine ähnliche Funktion: Jeder baut sich dort mittels moderner Kommunikationstechniken sein eigenes, mehr oder weniger verbindliches soziales Umfeld, das als funktionales Äquivalent für denjenigen sozialen Zusammenhang gesehen werden kann, der früher "Dorf" genannt wurde. Und Familie kann zumindest etwas ganz anderes sein als Vater, Mutter, Kinder. "Familie ist da, wo Kinder sind", heißt die konservative Diktion - Familie ist da, wo man füreinander einsteht, wäre eine ökonomische Definition. Während also das "Dorf" des 21. Jahrhunderts wie sein Vorgängermodell aus der realen Welt ein Netzwerk darstellt, das durch "weak ties", schwache Bindungen zusammengehalten wird, bezeichnet "Familie" dementsprechend das Netz der "strong ties".  

Zwischen dem Systemwechsel am Beginn des Industriezeitalters und dem an dessen Ende gibt es allerdings einen zentralen Unterschied. Wenn, wie damals, viele kleinräumige Sicherungssysteme nicht mehr funktionieren, gibt es viele kleine Katastrophen: Die Lage der arbeitenden Klasse in England von Friedrich Engels und die Kapitel über Arbeitszeit und ursprüngliche Akkumulation im Kapital von Karl Marx legen davon noch heute Zeugnis ab. Aber wenn ein großräumiges System nicht mehr funktioniert, droht eine große Katastrophe.


Knall? Oder Winseln?


Spiegelbildlich gilt der gleiche Unterschied auch für die Lösungen: Es wird nicht eine große Lösung geben, wie sie einst mit der bismarckschen Sozialgesetzgebung in den 1880er-Jahren begann und sich in alle Industriestaaten ausbreitete - sondern viele kleine Lösungen. Welche davon sich über einen langen Zeitraum als nachhaltig praktikabel erweisen, wird stark davon abhängen, wie sich das alte Sicherungssystem verabschiedet - ob, in Anlehnung an Caspar Weinbergers berühmtes Zitat über die Sowjetunion, mit einem Knall oder mit einem Winseln.  

Das macht für jeden Einzelnen die Entscheidungen bezüglich der eigenen langfristigen Vermögensplanung nicht einfacher, was insbesondere für die Alterssicherung ein Problem ist. Denn die Vorsorge für das eigene Alter ist diejenige Aufgabe, für die eine Investition über Jahrzehnte im Voraus notwendig ist. Und sie ist diejenige Investition, bei der es am härtesten trifft, wenn sie nicht den erhofften Ertrag bringt: Mit 60 oder 70 Jahren plötzlich ohne Absicherung für den Rest des Lebens dazustehen, lässt sich dann schlicht nicht mehr ausgleichen.  

Wie also vorsorgen? Ökonomisch gesprochen gibt es dafür ein Konzept (wenn auch mit mehreren Varianten): in konkretes Humankapital investieren. Konkret bedeutet dabei: das Schaffen von direkten Beziehungen zwischen Individuen, die wechselseitige Verbindungen - und Verbindlichkeiten - zwischen Menschen herstellen.  

Abstrakte Investitionen in Humankapital sind derzeit noch ein zentrales Instrument der Vorsorge. Hierzu gehören insbesondere die nicht kapitalgedeckten Varianten der Rentenversicherung ("pay as you go"). Sie sind faktisch humankapitalgedeckt, da ihre Rendite von der Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft in der Zukunft abhängt - und die wiederum beruht hauptsächlich auf der Leistungsfähigkeit der dann jeweils erwerbstätigen Bevölkerung. Nur begründet sie eben keine konkrete Verbindung zwischen Individuen, sondern einen Anspruch vieler gegen viele.  

Die drei wichtigsten Varianten der konkreten Investition in Humankapital hingegen sind die Investition in die eigene Familie, in das eigene Dorf und in identifizierbare Mitmenschen der nächsten Generation.


Investition in die eigene Familie


Die älteste Form der Investition in Familie ist immer noch die verbreitetste und wohl dauerhaft auch die beste: eigene Kinder. Die Verantwortung der Eltern für die Kinder, der später die Verantwortung der Kinder für die Eltern folgt, ist der Urtyp einer wechselseitigen Verbindlichkeit über viele Jahrzehnte hinweg. Der häufig zu hörende Vorwurf, man finanziere mit eigenen Kindern doch nur die Altersvorsorge der finanzrationalen Kinderlosen mit, zieht nicht. Er wird nämlich nur gelten, solange die Kinder in der Lage sein werden, mehr an Unterstützung zu leisten als die für die eigenen Eltern. Wenn eines Tages jeder Erwerbstätige einen Rentner zu finanzieren hat, dann wird er dies nicht über abstrakte Umverteilungsmechanismen tun - sondern ganz konkret seine Eltern unterstützen.  

Wer aus welchen Gründen auch immer keine eigenen Kinder haben kann oder will, sollte in etwa den gleichen Aufwand für familienähnliche Bindungen betreiben. Ob Lebenspartner, beste Freunde, Patenkinder, gute Kollegen oder, altmodisches Wort: Kameraden. Es geht um den Aufbau und die Pflege von Beziehungen, die halten - in guten wie in schlechten Zeiten.


Investition in das eigene Dorf


Ein relevanter Anteil des Humankapitals, auf das wir uns in der Gegenwart stützen können und in Zukunft vielleicht stützen müssen, steckt in den Verbindungen, die wir zu einer Vielzahl von Menschen haben: locker oder fest oder je nachdem, beruflich oder privat oder beides zugleich, in Netzwerken oder Nachbarschaften, online oder offline. Vermutlich beschreibt Robin Dunbars Schätzung von 150 Personen, von denen man die Namen und die wesentlichen Beziehungen untereinander kennen kann, in etwa die Zahl der Bewohner, die man im selbst geschaffenen Global Village rund um den Dorfplatz anzusiedeln vermag. Dabei müssen sie natürlich, anders als im traditionellen Dorf, nicht tatsächlich eng zusammenleben - und jeder von ihnen wird außerdem gleichzeitig noch in vielen derartigen Dörfern leben, aus denen er wiederum sein eigenes Dorf konstruiert.  

Was es uns zählbar bringen wird, in dieses hier Dorf genannte Freundschaftsnetz zu investieren, lässt sich im Voraus nicht sagen - nur dass es etwas bringen wird. "Sowohl digitale als auch wahre Freundschaften schaffen einen Wert", sagt Douglas Rushkoff. "Noch müssen wir allerdings herausfinden, worin dieser Wert besteht. Denn Menschen sind keine Form von Inhalt - eine Ressource, die man kaufen und verkaufen kann; sie bilden mit uns die Zellen eines viel größeren Organismus, zu dem wir alle gehören, ohne es recht zu wissen."


Investition in die nächste Generation


Nicht jedes Investment in konkretes Humankapital muss Beziehungsarbeit bedeuten. Auch mit schlichtem Geld lassen sich konkrete Verbindungen aufbauen. Das gilt insbesondere bei Beziehungen über die Generationengrenze hinweg. Schließlich bleibt hier die traditionelle Verteilung der Ressourcenströme über den Lebenszyklus hinweg bestehen: Im ersten und letzten Viertel des Lebens benötigt man mehr Ressourcen, als man selbst produzieren kann, im zweiten und dritten Viertel wird umgekehrt in der Regel ein Ressourcenüberschuss produziert.  

Investitionen in das Humankapital der nächsten Generation - meist nennt man das: Bildung - haben einen extrem langen Anlagehorizont. Unternehmen legen bei ihrer Investitionsplanung in der Regel einen Zeitraum von fünf bis zehn Jahren zugrunde. In Ausnahmefällen, etwa bei Großprojekten wie Kraftwerken, können es bis zu 30 Jahre werden, auch bei Immobilien ist der Zeitraum länger. Investitionen in Bildung hingegen sollten während des gesamten Erwerbslebens der davon betroffenen Lernenden Früchte tragen - das sind vier Jahrzehnte bei Studenten und sogar sechs Jahrzehnte bei Kleinkindern.  

Investitionen, die erst nach zwei Jahrzehnten anfangen, Erträge abzuwerfen, und dann über vier bis fünf weitere Jahrzehnte Früchte tragen, galten bislang weder Unternehmen noch Privatanlegern als zumutbar - und damit als staatliche Aufgabe. Doch gerade wenn andere langfristige Anlageformen wie Staatsanleihen an Sicherheit einbüßen, kann es attraktiv werden, hier neue Anlagesegmente zu erschließen.  

Die dabei erzielbaren Renditen sind durchaus beachtlich. So errechnete das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) kürzlich für ein "Gesamtkonzept der frühkindlichen Förderung" in Deutschland eine jährliche Rendite von acht Prozent für den Staat als Investor sowie von jährlich 13 Prozent für die Volkswirtschaft - gerechnet über einen Zeitraum von 40 Jahren. Trotzdem hatte das Konzept keine Chance auf Umsetzung, da es eine Milliarde Euro teurer war als das (wesentlich unrentablere) Regierungsprogramm zur frühkindlichen Bildung. Auf Bildungsfinanzierung spezialisierte Pensionsfonds beispielsweise könnten solche öffentlichen Finanzierungslücken schließen und individuelle Rendite und gesellschaftlichen Nutzen verbinden.


Direkte Verbindung


Oder eben individuelle Investitionen. Je direkter die Verbindung zwischen den Finanzierenden und den Finanzierten ist, desto direkter ist auch die gegenseitige Verbindlichkeit. Dabei muss - und sollte - es potenziellen Investoren nicht unbedingt um eine Renditemaximierung gehen: Wer von vornherein klarmacht, dass es ihm nicht so sehr um die Förderung der Person geht als vielmehr um die Sicherung der eigenen Rente, landet dann am Ende auch bei einem rein finanziellen Anspruch. Was sich hervorragend rentieren kann, wenn einige Jahrzehnte später die Währung, auf die man den Anspruch hat, auch tatsächlich etwas wert ist. Aber wer will das schon garantieren?  

Vermutlich werden sich verschiedene Formen der Investition in das Humankapital der nächsten Generation vermischen. Wenn sich beispielsweise vermögende Privatpersonen zusammentun, um für einen talentierten jungen Geiger eine Stradivari zu kaufen, könnten sie auf einen Wertzuwachs des Instruments spekulieren oder an zukünftigen Gagen des Jugendlichen partizipieren wollen - oder sich schlicht daran freuen, einem jungen Menschen einen Karrierepfad zu bahnen.  

Und möglicherweise ist genau Letzteres die langfristig beste Investition.

Der Essay ist zuerst erschienen in: GDI Impuls 4/12, S. 28-32  


Zitate


"Familie ist da, wo Kinder sind, heißt die konservative Diktion - Familie ist da, wo man füreinander einsteht, wäre eine ökonomische Definition." Detlef Gürtler: The Next Big Thing

 

changeX 20.12.2012. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Zum Buch

: Nummer 4 . 2012. Wissensmagazin für Wirtschaft, Gesellschaft, Handel. Gottlieb Duttweiler Institute GDI, Rüschlikon/Zürich 2012, 120 Seiten, 27 Euro

Nummer 4 . 2012

Autor

Detlef Gürtler
Gürtler

Detlef Gürtler, Jahrgang 1964, ist Senior Researcher am Schweizer Gottlieb Duttweiler Institut und war bis 2016 Chefredakteur des Zukunftsmagazins GDI Impuls. Gürtler ist Autor erfolgreicher Wirtschaftssachbücher (Die Dagoberts, Die Tagesschau erklärt die Wirtschaft), Kolumnist ("Gürtlers gesammelte Grütze" in der Welt Kompakt) und Blogger (tazblog Wortistik).

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